Die Psychosomatik erkundet Nähe und Distanz

Nähe und Distanz bestimmen

Bericht vom Festvortrag zum 80. Geburtstag von Tilman Moser
„Probleme von Nähe und Distanz in Psychotherapie, Psychoanalyse, Traumatherapie, sowie in Medizin, Beratung, Seelsorge und Pädagogik“

Tilman Moser ist ein besonderer Pionier der körperorientierten Psychotherapielandschaft. Als Psychoanalytiker begann er schon früh in seinen Analysen, den Körper mit einzubeziehen. Damit hat er sich in seinem Kollegenkreis viele Anfeindungen und Kritik eingehandelt. Befürchtet und beschworen wurden immer wieder die Gefahren von Manipulation und Sexualisierung durch den Therapeuten. Er ist seinem Weg aber treu geblieben und hat seine Erfahrungen in zahlreichen Veröffentlichungen einem interessierten Publikum nahe gebracht. In vielen seiner Bücher geht es um Berichte von Therapieverläufen und deren analytisches und technisches Verständnis.

Therapeutische Herausforderungen bei Berührung

Auch der heutige Vortrag ist ähnlich konzipiert. Was geschieht in einer Therapie, wenn Berührungen, also größte körperliche Nähe, als Interventionen vorkommen? Was kann es für die Patienten bedeuten und was für die Therapeuten? Welche Übertragungsebenen werden angesprochen und welche Dynamiken damit angestoßen?
Moser beschreibt noch einmal kurz den Körper als Speicher von Erinnerungen, auch solche von Berührungen – zärtliche, schöne Berührungen, die vielleicht bis in die Baby Zeit zurückreichen. Aber es gibt natürlich auch Erinnerungen an Gewalt, Schmerz und Angst, die, wenn sie angestoßen werden, Flashbacks (blitzartig auftauchende Schreckensbilder) auslösen können.

Ambivalenz von Nähe und Distanz

Nach Mosers Eindruck haben viele Therapeuten selbst eine Geschichte von Nähe Mangel. Dadurch geraten sie leicht in Gefahr, sich unbewusst selbst etwas Gutes tun zu wollen, wenn sie Berührungen anbieten. Die andere Richtung, die ein Nähe Defizit mit sich bringen kann, ist Angst vor Nähe – Angst vor Verschmelzung, Angst vor Sexualisierung. Diese Gefühle werden als Unsicherheit spürbar.
An dieser Stelle betont er, wie wichtig die gründliche Eigentherapie und Selbsterfahrung für Körpertherapeuten ist. Die Nähe, die eine Verschmelzung mit der Mutter bietet, ist hilfreich und wichtig für Babys und ihre weitere Ich Entwicklung. Diese Art von Nähe fühlt sich freilich ganz anders an, als die eines Kleinkindes, eines älteren Kindes oder gar die der Sexualität. Körpertherapeuten sollten diese Unterschiede am eigenen Leib aus Erfahrung kennen.

Fallbeispiel

Nun präsentiert er uns ein Beispiel aus seiner Praxis mit dem Titel: „Der Preis der Verstoßung aus der Therapie“. Eine Klientin hatte eine gute Arbeitsbeziehung zu einem Therapeuten aufgebaut. Als sie ihm im dritten Jahr der Therapie ihre Verliebtheit in ihn beichtet bricht der Therapeut die Arbeit ab. Diese Erfahrung stürzt sie in eine tiefe Krise Sie hat Bücher von Moser gelesen und möchte nun eine Stunde bei ihm haben. Sie dirigiert quasi den Ablauf der Stunde, gestaltet Art und Timing von Handkontakten, tauscht den Platz mit Moser und erzählt erst dann etwas von ihrer Geschichte (die ich an dieser Stelle nicht ausbreite). Sie fühlt sich nach dieser Stunde „geheilt“ – hat den Eindruck ihr „Verstoßungstrauma“ mit einer Berührung überwunden zu haben.

Probleme des „klassischen Settings“

Nun erinnert uns Moser an Freuds Unbehaglichkeit mit Augenkontakt. Das klassische Analyse Setting, mit Couch und Sessel hinter dem Kopfende, lässt diesen nicht zu. Es ist optimal um eine vollständige Kontrolle über Nähe und Distanz zu erlauben. Es kann Verlassenheitsängste auslösen und in manchen Fällen die Therapie erschweren oder verunmöglichen. Allerdings hat es auch Vorteile, wenn Klienten nicht sofort an der Mimik des Therapeuten ablesen können, was dieser zum Mitgeteilten fühlt oder denkt.

Noch ein Fallbeispiel

Es folgt ein weiteres Fallbeispiel – „Das Drama einer Liebesnacht“. Anhand dieser Geschichte möchte Moser uns die große Rolle des Augenkontakts, der innigen Berührung durch Blicke nahebringen. Die Klientin war für beide Eltern vom „falschen“ Geschlecht, deshalb bekam sie keine liebevollen Blicke, mitunter gar keine Blicke und erst als sie etwa drei Jahre alt war, gelang es ihr, ihren Vater für sich zu interessieren. Allerdingst verstieß dieser sie letztlich wieder von seinem Schoß. Sie hatte es schon geschafft, zwei Analytiker zu verführen und damit ihre therapeutischen Ziele zu verfehlen. Erst mit Herrn Moser kommt sie an die Blickerinnerungen des neugeborenen Kindes, an den Horror des feindseligen, bzw. enttäuschten Blicks und erarbeitete im Anschluss die allmähliche Integration des freundlichen Blicks. So gewann sie nach und nach auch eine selbstbewusste und unabhängige Steuerung ihrer Blickqualitäten.

Möglichkeiten der Nähe

Als weitere Themen der Nähe Regulation referierte Herr Moser:

  • die Verwendung von Gesten und deren potenzielle Mehrdeutigkeit. In manchen Familien so vieldeutig, dass die Kinder darüber sehr verwirrt und verunsichert sind
  • der Umgang mit Aggressionen, die Möglichkeit durch Kämpfe Nähe zu erleben und die Mischformen von Zärtlichkeit und Aggression
  • die Rolle der Körperempfindungen, die oft die einzige Spur zu den Erinnerungen sind, die aber so häufig widersprüchlich und schwierig zu entziffern sind

Zum Ende appelliert Herr Moser noch einmal an alle anwesenden Therapeut*innen sich mit ihren jeweiligen Schulen nicht zu sehr zu identifizieren, voneinander zu lernen und die wertvollen Möglichkeiten von Körperarbeit und Psychotherapie weiter zu entwickeln.

Die Psychosomatik betrachtet die digitalen Medien

Digitale Medien und psychische Gesundheit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 04.07.18 Von Prof. Vera King:                            „Wenn ich morgens aufstehe, mache ich zuallererst mein Handy an – Adoleszenz in digitalen Welten“

Einführung

Frau King forscht und lehrt in den Erziehungswissenschaften und der Soziologie mit einem Psychoanalytischen Hintergrund. Sie geht der Frage nach, ob und falls ja, die Digitalisierung einen Einfluss auf die Adoleszenz nimmt. Unter Adoleszenz versteht sie einfach die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenem. Das ist eine Zeit, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Auf der Basis der kindlichen Entwicklung öffnet sich hier noch einmal ein Fenster zur Identitätsfindung. Gesucht werden neue Weltbilder, neue Arten von Beziehung, Anerkennung und eben eine neue Identität. Diese muss mit den körperlichen Veränderungen, der Entwicklung der Sexualität und den neuen Medien umgehen können. Sie ist in der Regel begleitet von Allmachts- und Größenfantasien, experimentiert mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, stöbert in einem Möglichkeitsraum, aus dem sich gewissermaßen eine Wiedergeburt vollziehen kann. Dies alles findet vor dem Hintergrund von allgegenwärtigen Algorithmen statt, die steuern, was die Adoleszenten zu sehen bekommen, und was nicht.

Psyche und Kultur in Zeiten der Digitalisierung

Die Digitalisierung stellt eine vielfältige Herausforderung das. Es geht dabei um das soziale Miteinander, die psychische Verarbeitung, die Symbolisierung, für Beziehungen, weiter für das Verständnis von An- und Abwesenheit und das Verständnis von Anfang und Ende. Die Auswirkungen dieser Herausforderungen wurden in verschiedenen Studien erfasst. Frau King hebt hervor, dass dabei insbesondere die Scham in einer neuen Form aufgetaucht ist.

Neue Relationen von offline und online Welten

Schon der Titel des Vortrags benennt, dass der Zugang zur digitalen Welt häufig schon mit dem Aufwachen genutzt wird. Die Zeitspannen, die Adoleszente in der online Welt verbringen, umfassen häufig mehr als vier Stunden täglich. Diese Aufenthalte entfalten eine Eigendynamik. „Was geht?“ im Freundeskreis, wer hat gepostet oder geliked? Diese Dynamik wird durchaus kritisch wahrgenommen, aber es scheint keine Möglichkeit zu geben, dagegen anzukommen. Die digitale Welt beansprucht mehr und mehr Relevanz vor der analogen Realität und das Phänomen, dass mitten im Gespräch ein Teilnehmer sich „kurz“ mit seinem Smartphone beschäftigen muss, ist inzwischen gut bekannt.

Adoleszente Selbsterschaffung in Social Media

Der umfassende Weltzugang durch die digitalen Medien benötigt ein Bild, das der Welt präsentiert werden kann und diese Selbstbilder lassen sich frei entwerfen. Sie erlauben es, sich von der eigenen Realität und von sozialen Grenzen zu entfernen. Gleichzeitig erlauben sie es auch, sich von der Welt der Erwachsenen zu verabschieden, zumindest, sich von ihr zu distanzieren. Das Smartphone gewinnt den Status eines „digitalen Objekts“ – wird also gewissermaßen zu einem Teil der Psyche, die die Selbstwahrnehmung ebenso verändert wie die sozialen Interaktionen. Die gesteigerte Unmittelbarkeit digitaler Kommunikationen führt ebenfalls zu psychischen Veränderungen.

Psychisches Erleben digitaler Medien, Außen- und Innenwelten

Die Aufmerksamkeit, die digitale Medien fordern, ist enorm und Aufmerksamkeit verschiebt sich mehr und mehr von der analogen Welt zur digitalen. Die Adoleszenten sind mitunter leiblich anwesend und mit ihren Gedanken doch in der digitalen Welt. Die anschmiegsame Technik verführt zu einer Mensch-Maschinen Interaktion, wobei die Interaktion von Selbst und Anderem in den Hintergrund gerät. Das Smartphone wird auch zu einem neuen Quasi-Körperteil.

Ringen um Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit zu bekommen, spielt eine wichtige Rolle für das psychische Erleben und Aufmerksamkeit im gigantischen Meer des WWW stellt gewissermaßen eine eigene Währung dar. Aber wie ist Aufmerksamkeit bei dieser Konkurrenz zu gewinnen? Mit welchem Bild, welcher Nachricht erreiche ich User, damit sie mir ihre Aufmerksamkeit schenken? Digitale Plattformen haben raffinierte Funktionen entwickelt, um die User bei der Stange zu halten. Wer Aufmerksamkeitspunkte gesammelt hat, möchte die auf gar keinen Fall wieder verlieren, auch wenn die Aufmerksamkeit von wildfremden Menschen kommt.

Permanente Arbeit am Bild – digitale Selbstdarstellung

Eine wichtige Rolle spielt das Selfie. Es spendet einerseits Selbstvergewisserung – das bin ich! Gleichzeitig wird dieses Selfie von anderen gesehen und bewertet. Das Bild, das ins Netz gestellt wird soll mich gut aussehen lassen. Aber sehe ich gut genug aus? Nein sicher nicht, also muss das Bild gefotoshopt werden. Es ist vielen Adoleszenten bewusst, dass sie ihr Aussehen fälschen und auch, dass der Beifall, den sie für ein gefälschtes Selfie erhalten, einen faden Beigeschmack hinterlässt. „Es ist harte Arbeit, viele Follower zu bekommen.“ So eine befragte Jugendliche. Auch offline ist die Aufmerksamkeit noch in der digitalen Welt – sie plant, entwirft und sorgt sich um jeden Internet Auftritt.

Geteilte Aufmerksamkeit

Die Überwertigkeit des Digitalen vor dem leiblichen Miteinander führt zu neuen Beziehungsformen.

Vervielfältigte und fragmentierte Kommunikation unter Jugendlichen

Aus einer einfachen leiblichen Präsenz wird eine mediale Omnipräsenz, denn kaum ein Gespräch findet ohne Unterbrechung statt. Häufiger finden sich zwei oder mehr Jugendliche zusammen, und kommunizieren mit dem Smartphone miteinander.

Vater oder Mutter am Smartphone …

Dies kann auch eine Rolle in der Eltern-Kind Beziehung spielen. Die Eltern, die neben der Kinderbetreuung auf ihr Smartphone schauen, sich von ihm ablenken lassen, oder es für wichtiger halten, als die Äußerungen des Kindes. Das Kind kommt womöglich in eine Konkurrenzsituation mit dem Smartphone der Eltern.
„Der Glanz im Auge der Mutter oder des Vaters beim Blick auf das Smartphone (anstatt auf das Kind)“
Das Kind wird sich die Aufmerksamkeit im Netz suchen, denn dort bekommt es genau diese.

Fazit

Digitale Welten bieten neue Chancen und stellen vor neue Herausforderungen. Die alte Frage nach Schein und Sein wird neu gestellt und mit neuen Mitteln beantwortet.
Die Scham, in Anwesenheit anderer das Smartphone zu nutzen, schwindet. Aber neue Schamquellen tauchen auf. Die mögliche Beschämung im Netz, nicht up to date zu sein, nicht in den Netzwerken präsent zu sein und auch die Scham, das echte, eigene Gesicht zu zeigen.
Aus der ursprünglichen Triade von Mutter, Vater, Kind entwickeln sich Triaden, die ein Smartphone enthalten. Mutter, Kind, Smartphone.
Es entsteht eine neue Dynamik der Aufmerksamkeitsökonomie. Wenn ich von A keine mehr bekomme, wende ich mich einfach B zu.

Die Psychosomatik macht einen Ausflug in die Medienwissenschaft

Medienwissenschaft und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.06.18
Von Prof. Bernhard Pörksen „Die neue Macht der Lüge. Meinungsbildung und Desinformation im digitalen Zeitalter“

Herr Pörksen spricht frei, ohne Powerpoint und mit nur wenigen Stichwortzetteln in der Hand. Er führt uns mit einer kleinen Geschichte ins Thema ein. Es ist die Geschichte eines amerikanischen Radioreporters, der vor allem durch seine Verschwörungstheorien, die Leugnung des Klimawandels und seine Anhängerschaft zu D. Trump bekannt ist. Als 2017 der Hurrikan „Irma“ Kurs auf Florida nahm, erklärte er das zu einer Fake-News. Er blieb in seinem Studio sitzen und man weiß nicht genau, was ihm zugestoßen ist. Allerdings musste er eine Zeit lang seine Sendung aussetzen, was er auf geheime Maßnahmen zurückführte. Mit diesem „Superlativ von Seltsamkeit“ führt uns Herr Pörksen zu der Frage, was Realität eigentlich sei. Diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Letztlich wäre der Satz: „Realität ist das, was nicht verschwindet, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Die wohl beste Näherung an eine Definition.

Postfaktisches Zeitalter?

Angeblich, so Herr Pörksen weiter, leben wir im „Postfaktischen Zeitalter“. Er bekundet seine Skepsis gegen diese Benennung. Zum Ersten wechseln Zeit-Diagnosen recht schnell, und so bleibt es für ihn fraglich, ob diese Bezeichnung treffend sein kann. Zum Zweiten suggeriert diese Benennung, dass es einmal ein „Faktisches Zeitalter“ gegeben hätte. Aber wann soll das gewesen sein? Die Politik war schon immer ein Pfuhl von Lüge und Propaganda. Zum Dritten empfindet er den Ausdruck als resignativ – es ist eh zu spät, wir können nichts mehr ändern.
Also möchte uns Herr Pörksen eine tiefergehende Zeitdiagnose anbieten, die auch „Ambivalenz fähiger“ sein soll. Er benennt die Ausgangslage als eine „tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur“ – Boden und Wände wackeln also tüchtig – wie ist es dazu gekommen?

  1. Neue Verbreitungstechniken – z.B. gefälschte E-Mails, die als Massensendungen an unzählige Empfänger versendet werden und deren Lügen fast nicht mehr aus der Welt zu bringen sind.
  2. Neue Sichtbarkeit – zum heutigen Zeitpunkt gibt es bereits ca. 3 Milliarden Smartphones. In der Öffentlichkeit ist also quasi immer jemand mit einer Kamera dazu bereit, das nächstbeste Filmchen von wem auch immer zu drehen und sofort ins Netz zu stellen.
  3. Neue Manipulationsanfälligkeit der Öffentlichkeit – einerseits gibt es mehr Möglichkeiten für alle, Informationen bereit zu stellen, aber das erhöht auch die Möglichkeiten, Fälschungen zu verbreiten, die mitunter schwer als solche zu durchschauen sind.
  4. Neue Anreize – die Netzgemeinschaft steht auf Hypes, auf Extrem und auf Zuspitzungen. Die Klickraten werden gemessen und Marktakteure springen auf Trends auf und erhöhen so noch die Aufmerksamkeit.
  5. Neue Ungewissheit – die Flut von Informationen steigt immer höher, aber anstatt, dass uns das mehr Mündigkeit verleiht verunsichert dieses Zuviel viele Menschen.
  6. Neue Geschwindigkeit – dank Smartphones und Internet erleben wir weit entferntes quasi in Echtzeit. Das journalistische Spannungsfeld von „Schnelligkeit“ vs. „Genauigkeit“ kommt zugunsten der ersteren in ein Ungleichgewicht.

Was also tun?

Herr Pörksen referiert uns diese Punkte mit zahlreichen Beispielen. Was soll man nun von dieser Diagnose halten? Sich selbst erlebt der Vortragende zwischen den Polen von Apokalyptik und Euphorie wechselnd – zum Fatalismus neigt er nicht. Was kann getan werden, um mit diesen Verschiebungen fertig zu werden? Wie kann man Desinformation bekämpfen, ohne auf demokratische Grundwerte zu verzichten? Er unterstützt die Idee, dass die journalistischen Maximen von möglichst vielen Menschen erworben werden. Z.B. Prüfe erst und schreibe später! Höre auch die andere Seite! Sei skeptisch gegenüber anderen und dir selbst! Sei transparent in deinen Absichten!

Wie könnte das befördert werden? Herr Pörksen sieht drei Richtungen, in denen das bewerkstelligt werden kann.

  1. Journalistische Dialogfähigkeit – eine neue Kultur von Kommunikation zwischen Journalisten und Konsumenten
  2. Plattformregulierung – Inhaber von Internet Plattformen sollen kontrolliert werden – es bräuchte so etwas wie einen „Plattform Rat“.
  3. Bildung – es braucht ein Schulfach über Medienkompetenz, sowie Fähigkeiten zu einer Macht- und Medienanalyse

Mit drei Schlusssätzen (die einzigen Sätze, die er dann tatsächlich abliest) fasst er seinen Vortrag zusammen:

Wir, das Publikum, müssen medienmündig werden,

    1. Weil unser Miteinander von korrekten Informationen lebt
      Weil der Informationsraum neu definiert worden ist
      Weil wir medienmächtig geworden sind

Es gibt tosenden Beifall für Herrn Pörksen

Die Psychosomatik philosophiert über Empathie

Empathie und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.06.18 Von Prof. Dr. phil. Thiemo Breyer: „Empathie – Grundlagenforschung und ethische Konsequenzen“

Herr Breyer möchte uns einen Einblick in die Komplexität des Empathie Begriffs geben. Empathie ist gewissermaßen das Thema der Stunde in Psychologie, Psychotherapie, Soziologie und auch der Philosophie. Diskutiert wird sowohl darüber, was Empathie ist, wie sie zustande kommt, was das jeweils bedeuten kann und ob sich daraus ethische Konsequenzen ziehen lassen.

Einführung

Zum Einstieg erzählt uns Herr Breyer eine kleine Geschichte, die als Vignette für Empathie Themen dienen soll.

Nach einem frustrierenden Arbeitstag kommt ein Mann mürrisch auf eine Geburtstagsparty. Die festlich heitere Stimmung dort steckt ihn an und seine Frustration verschwindet – er freut sich mit seinem Freund, der Geburtstag hat. Dann wird auch noch gemeinsam das Geburtstagslied gesungen. Dabei fällt dem Gast auf, dass ein anderer Gast nicht mitsingt. Er spekuliert über die Gründe, für dieses Verhalten. Ist der Nicht-Sänger schüchtern, hat er schlechte Laune, kann er vielleicht nicht singen? Aber in diesem Moment beginnt ein schon angetrunkener Gast an, in sehr schräger Tonlage mitzusingen. Einige Gäste fangen an zu kichern und der Mann bekommt selbst auch einen kaum zu beruhigenden Kicheranfall. Dabei sieht er, dass die Gastgeberin offenbar betroffen über das Verhalten des Betrunkenen ist. Er schämt sich ein wenig für diesen und überlegt, ob er die Gastgeberin trösten soll.

Merkmale von Empathie

Aus dieser Geschichte lassen sich typische, für die Empathie relevante, Phänomene betrachten:

  1. Die affektive Resonanz, die in Stimmungen und Atmosphären auftritt
  1. Das Ausdrucksverstehen, die Mitfreude an der Freude des Jubilars
  1. Die leibliche Synchronisation, das gemeinsame Singen
  1. Die Mentalisierung, das Nachdenken über Gründe von anderen
  1. Die Gefühlsansteckung, unwillkürliches Mitkichern
  1. Die stellvertretende Emotion, die Fremdscham für den Betrunkenen
  1. Die Simulation, imaginatives Hineinversetzen in die Gastgeberin

Diese Dimensionen von Empathie lassen sich kategorisieren als:

leiblich-körperliche

  • Resonant (Synchronisierung)
  • Expressiv (Ausdrucksverstehen)

affektiv-emotionale

  • Partizipierend (Mitfreude, Mitleid)
  • Stellvertretend (Fremdscham)
  • Invertierend (Schadenfreude, Neid)

kognitive

  • Inferentiell (Theoretisierung)
  • Imaginativ (Transposition)

Theorien zur Empathie

Dieses breite Spektrum von Empathie wird von den wenigsten Theorien eingefangen. Die meisten gängigen Theorien versuchen, sie aus einem Teil des Spektrums abzuleiten und so zu erklären. Es gibt Theorien zu angeborenem bzw. erlerntem Empathie Verhalten. Dann gibt es Simulationstheorien, die neuronale oder imaginative Prozesse bevorzugen. Eine weitere Möglichkeit spielen Phänomenologische Theorien, die sich auf Zwischenleiblichkeit und Expressivität stützen. Ganz aktuell sind Narratologische Theorien sehr beliebt, die auf explizite Erzählungen oder narrativen Erfahrungen setzen.

Herr Breyer versucht auf phänomenologischem Weg (als wie die Dinge von sich her erscheinen) auf den Grund zu kommen. Dazu beschreibt er zunächst die Grenzen von empathischen Dimensionen er benennt diese folgendermaßen:

  • Die leibliche-körperliche Dimension findet ihre Grenzen in der Resonanzfähigkeit, und der Vertrautheit mit dem Ausdruckssinn
  • In der affektive-emotionalen Dimension bestehen Grenzen im Gemütszustand, der Haltung und der Verbundenheit.
  • In der kognitiven Dimension schließlich werden Grenzen durch die Lebenserfahrung, die Vorstellungskraft und das Denkvermögen gesetzt.

Empathie und Ethik

Damit kommt Herr Breyer zum zweiten Teil seines Vortrags, dem ethischen Diskurs.

Er fragt danach, wie äußere Faktoren die Grenzen der Empathie mit beeinflussen oder gar stören können. Als Beispiel nennt er totalitäre Religionssysteme, die auch ein affektives Regime ausbilden. Wie kann unter solchen Umständen die Empathie wachgehalten werden, wenn so starke Einflüsse auf sie einwirken.

Mögliche Einflüsse gibt es zahlreiche. So können Wissens- oder Glaubensinhalte (kognitive Ebene) auf die Mitleidsfähigkeit einwirken; Mimische oder gestische Synchronie (leiblich-körperliche Ebene) können das Mitgefühl und die Kommunikationsbereitschaft beeinflussen; ebenso können extreme Gefühle die Urteilsfähigkeit trüben – usw. usf.

Empathie und Philosophie

Es folgt ein Ausflug in die Philosophiegeschichte und diese beginnt mit den Erwägungen aus Max Schelers Werk: „Wesen und Formen der Sympathie“. Darin benennt Scheler vier Dimensionen von affektiv-emotionaler Empathie.

  • Die Gefühlsansteckung (dyadisch bis massenhaft)
  • Das Nachfühlen (Verstehen ohne Mitfühlen)
  • Das Mitfühlen (Teilen des Gefühls des Anderen)
  • Die Liebe und der Hass („geistige Gefühle“)

Natürlich hatte Scheler viele Vorgänger, die sich mit dem Thema befasst haben. Wir erfahren von Immanuel Kant, der in Mitfreude und Mitleid zwar sinnliche Gefühle sieht, diese aber so verwendet wissen will, dass sie zur Pflicht der Mitmenschlichkeit verwendet werden.

Arthur Schopenhauer, gewissermaßen der deutsche Pionier der Mitleidsethik, sieht im Mitleid bereits den Impuls zu helfen am Werk. Er möchte Mitleid als „wirkliche Basis“ von „freier Gerechtigkeit und echter Menschenliebe“ definieren.

Empathie im sozialen Sinn wurde von J.J. Rousseau betrachtet und sein ernüchternder Befund ist, dass das Mitgefühl mit der Entfernung abnimmt. Wohingegen Aristoteles feststellte, dass Leiden, das uns zu nahekommt, ebenfalls dem Mitgefühl abträglich sei. Aristoteles sieht im Mitgefühl eine Art Schmerz.

Eine andere Variante kommt aus der Stoa. Deren Vertreter Cicero befürwortet eine kühle Variante von Mitleid – natürlich ist es gut, den Leidenden zu helfen, aber mit-Leiden würde das Leid nur vergrößern und das erscheint unvernünftig.

Neuere Philosophie

Max Scheler kommt noch einmal zum Zuge. Er kam zu der Einsicht, dass Mitgefühl in all seinen Formen „prinzipiell wertblind“ ist, denn man könnte ja auch Mitfreude mit jemandem haben, der sich an seiner Bosheit erfreut.

Die zeitgenössische Forschung von z.B. Michael Tomasello versucht zu zeigen, dass Mitgefühl und Altruismus evolutionäre Entwicklungen und damit angeboren sind. Als Beleg sehen wir einen kleinen Film, in dem sehr kleine Kinder ziemlich tollpatschigen Erwachsenen spontan zur Hilfe kommen.

Die amerikanische Philosophin Marta Nussbaum stellt ernüchternd fest, dass Empathie zum Guten oder zum Bösen verwendet werden kann. Ihr Beispiel ist der Folterknecht, der sich seines Mitgefühls bedient, um möglichst große Schmerzen zuzufügen.

Empathie und Kognitionswissenschaft

Einen anderen kritischen Aspekt von Empathie sieht Fritz Breithaupt. Er stellt fest, dass mit der Empathie eine Parteinahme erfolgt, die durch Erzählstrategien legitimiert wird. Die Formen dieser Parteinahme können strategisch dem Eigennutz dienen. Das kann z.B. judikativ erfolgen, mit einer Beurteilung darüber ,wer Recht hat. Es funktioniert aber auch selbst-reflexiv, indem die eigene Position begründet wird. Dies führt ihn zu der Theorie, dass ein Mechanismus der Narration Empathie erlaubt und auch, dass Narration nur auf der Basis einer entwickelten Empathie Fähigkeit möglich ist.

Breithaupt hat auch sog. Empathie Blockaden erforscht. Er stellt fest, dass nicht alle Menschen auf narrative Empathie Angebote eingehen. Dies ist vom Bildungsgrad und der persönlichen Erfahrung abhängig. Weitere Einflüsse bestehen in der Situationsbedingtheit, z.B. in Schuldzuweisungen, sonstigen Attributionen und Gruppenzugehörigkeiten.

Strategien um Empathie Blockaden zu rechtfertigen wären z.B. die Rückwendung der Empathie auf sich selbst: >Ich habe so gelitten, als ich dieses Unrecht begehen musste< oder noch perfider, die Strategie der Dehumanisierung des Anderen: >das ist gar kein richtiger Mensch<. Damit kommt Herr Breyer zum Resümee seines Vortrags.

Fazit

  • Es gibt eine Vielzahl von Empathie Konzepten und –Definitionen
  • Die phänomenologische Struktur von Empathie ist leiblich, affektiv und kognitiv
  • Auf jeder Ebene kann Empathie auch begrenzt sein
  • Es gibt eine Vielzahl von Bewertungen von Empathie in ethisch-moralischer Hinsicht (positiv wie negativ)
  • Es gibt relevante Wechselwirkungen zwischen den Ebenen
  • Relevant ist auch der Umgang mit Empathie
  • Es lässt sich ein antagonistisches Wechselspiel von prosozialen und antisozialen, altruistischen und egoistischen Tendenzen feststellen
  • Empathie entwickelt ihr Sein in einem Spannungsfeld von kooperativen und kompetitiven Strategien
  • Es gibt eine Strukturanalogie zwischen dem ethischen Problem der Empathie und der menschlichen Freiheit allgemein
  • Empathie zu kultivieren ist eine mögliche Emanzipation. Perspektivenflexibilität istr besser als Solipsismus.

Am Ende des Vortrags fühle ich mich etwas erschlagen von der Fülle von Informationen.

Die Psychosomatik erkundet das Zuhören

Tiefes Zuhören als Intervention

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 15.05.18
Von Prof. Tilman Habermas: „Die Rolle des Zuhörers beim Erzählen: Eltern und Therapeuten“

Herr Habermas gehört der seltenen Spezies „Professor für Psychoanalyse“ an. Sein Vortrag soll allerdings weniger psychoanalytisch als vielmehr psychologischer Art sein. Er interessiert sich und forscht schon seit längerer Zeit über das Erzählen – insbesondere über Lebenserzählungen, mit deren Hilfe Menschen ihre Identität formen. Von der monologisierenden Form ist er inzwischen zur dialogischen fortgeschritten und nun forscht er seit neuestem über die Rolle des Zuhörers beim Erzählen.

Was ist eine Erzählung?

Herr Habermas stellt uns zunächst vor, was eine Erzählung ausmacht. Dazu erinnert er daran, dass Erzählungen etwas Alltägliches sind, dass sie ständig stattfinden und dabei auch verschiedene Funktionen erfüllen. Auf individueller Ebene bringt man seine Mitmenschen auf den neuesten Stand, was die eigenen Erlebnisse betrifft, sucht aber auch nach Teilhabe an den emotionalen Aspekten der Erzählung. Auf kollektiver Ebene geht es um kollektive Identitäten von Familiengeschichten, Firmengeschichten, bis hin zu nationalen Epen der Staatsgründung. Immer geht es dabei darum, eine gemeinsame Realität herzustellen. Aber Geschichten dienen auch der Unterhaltung, denn sie können die Zuhörer etwas lehren, können aber auch zu etwas verführen und von etwas überzeugen. Erzählungen dienen der Selbstdarstellung, sowie der Erklärung menschlichen Verhaltens, das sie rechtfertigen oder entschuldigen wollen.
Weiter besitzen Erzählungen eine innere Struktur, die einen strikten zeitlichen Ablauf aufweist, in dem nichts vertauscht werden darf. Außerdem gehört zu einer Erzählung eine Bewertung über das Erzählte. Erzählt werden in der Regel nur außergewöhnliche Vorkommnisse und zwar in folgender Reihenfolge. Zunächst kommt eine Ankündigung, dass nun etwas erzählt werde. Dann wird kurz der Hintergrund und der Kontext erläutert, darauf folgt die eigentliche Geschichte mit ihrer Komplikation. Weiter geht es mit den Handlungen, die daraufhin ausgeführt werden. Schließlich folgt das happy oder unhappy-end. Das Ende der Erzählung besteht dann meist aus „der Moral von der Geschichte“.

Die Rolle des Zuhörers

Welche Rolle spielen Zuhörer bei so einer Erzählung? Zunächst muss vereinbart werden, dass der/die Erzähler*in nun etwas erzählen darf. Der Erzähler darf nun seinerseits Interesse an seiner Erzählung erwarten. Dies wird durch Blickkontakt, Hmm-Lauten, Nicken und ähnliche Zeichen signalisiert. Zum Ende der Erzählung wird der/die Zuhörer*in einzelne Worte wiederholen, seine Bewertungen benennen (krass ey!) und evtl. mit einer eigenen, ähnlichen Geschichte aufwarten.
Eine spezielle Form der Erzählung ist die, des Sich-Anvertrauens mit einem Problem. Hier lässt sich ein Anteilnahme Muster erwarten. Die Zuhörer drücken aus, dass sie das Erzählte ebenfalls ungewöhnlich finden und dass sie dem Erzähler Glauben schenken. Sie bringen ihr Mitgefühl zum Ausdruck und explorieren die Erzählung weiter, sie trösten der Erzähler, zeigen sich solidarisch mit ihm/ihr und warten häufig mit Ratschlägen auf. Dabei gilt die Regel, dass je schwerwiegender das erzählte Ereignis war, sich die Zuhörer umso mehr zurückhalten.

Zuhörer gestalten Geschichten mit

Herr Habermas kommt nun zu seiner Kernthese, die lautet: „Zuhörende haben eine zwar wichtige, aber recht passive Rolle beim Erzählen. Es gibt jedoch Situationen, in denen sie eine wesentlich aktivere Rolle spielen. Und darunter sind sehr spezielle Situationen, in denen Zuhörende aktiv nicht nur die Geschichte mit-erzählen und verändern, sondern auch die Person des Erzählenden formen, indem sie aktiv zuhören und mit erzählen.“ Zwei solcher Situationen sind die Gespräche zwischen Eltern und ihren Kindern und die Situation von Therapeut und Patient. Beiden Fällen gemeinsam ist der Unterschied zwischen Sprecher/Hörer bezüglich der Autorität und der Kompetenz. Allerdings gibt es natürlich auch Unterschiede in den Situationen. Eltern haben einen Erziehungsauftrag, sie bringen Kindern bei, wie Erzählen funktioniert, wie die Erlebnisse zu verstehen sind und wie man richtig empfindet und reagiert. Therapeuten hingegen haben einen Therapieauftrag. Sie bringen Patienten bei, wie sie Erlebnisse und sich selbst verstehen können.

Eltern-Kind Gespräch

Ein kleiner Exkurs zur Eltern-Kind Situation verdeutlicht, das Vorschulkinder vor allem das Erzählen an sich erlernen, während Jugendliche beim Erzählen lernen, ihre Emotionen zu bewältigen. Das lässt sich anhand eines drei-phasigen Modells darstellen, auf dessen erster Stufe das Kind eine Fähigkeit noch nicht besitzt, aber einen fähigen Elternteil. Auf der zweiten Stufe übt das Kind die Fähigkeit in Zusammenarbeit mit dem Elter ein, um auf der dritten Stufe, die autonome Fähigkeit entwickelt hat.
Die Art und Weise, wie Eltern auf die Erzählungen der Vorschulkinder eingehen, hat durchaus Folgen für die Entwicklung der Erzählfähigkeit, die Gedächtnisleistung, die Fähigkeit andere Perspektiven einnehmen zu können und sogar die Bindungsqualität. Eltern können ihre kleinen Kinder durch Fragen unterstützen. Das geht mit geschlossenen Fragen, sog. W-Fragen oder mit offenen Fragen und durch die Auswertung des Erzählten.
Ab dem etwa neunten Lebensjahr können Kinder bereits recht gut erzählen. Trotzdem können Eltern auch hier noch hilfreich sein, indem sie vor allem dabei helfen, die emotionalen Aspekte des Erzählten zu integrieren.

Gefühle und Bedeutungen von und in Erzählungen

Es folgt ein Beispiel einer solchen Unterhaltung zwischen Mutter und Kind. Herr Habermas arbeitet daran heraus, dass die Mutter die zeitliche Perspektive erweitert, indem sie an ähnliche Situationen erinnert, dadurch die Gefühle verstärkt und einen Lerneffekt aus der Geschichte entstehen lässt. Die Mutter ergänzt und verändert auch die Motive der Beteiligten und stellt alternative Erklärungen zur Verfügung. Sie verallgemeinert die Situation und bietet einen Abstand zur Erfahrung. Auch die Umdeutung des Erlittenen wird aus der Passivität in die Aktivität uminterpretiert. Andere Möglichkeiten bestehen noch darin, die Persönlichkeit der Beteiligten als Erklärung anzunehmen. Das wären z.B. biografische Empfindlichkeiten, die eine Rolle spielen könnten und überhaupt kann die Persönlichkeiten durch biografische Erfahrungen erklärt werden.
Insgesamt geht die Mutter weniger auf die Ereignisse und Handlungen ein, als vielmehr auf die Motive und die Bewertungen, indem sie darauf abhebt, warum die Beteiltigten so gehandelt haben und wie das zu bewerten ist?

Therapeut-Patient Gespräch

Ähnlich den Eltern haben Therapeuten „die Aufgabe, die Fähigkeiten der Klienten zu verbessern, insbesondere ihre Fähigkeiten zur Introspektion, Reflexion und Bewältigung von kritischen Erlebnissen.“
Anders als Eltern haben Therapeut*innen die erzählten Ereignisse nicht miterlebt Sie haben acuh keine erzieherische Aufgabe. In der Regel dürfen sie (kaum) werten, denn sie sollen auf das Erleben des Patienten fokussieren, allerdings dürfen sie die Motive in Frage stellen und deuten.
Herr Habermas geht nun der Frage nach, welche Rolle das Erzählen in psychodynamischen Therapien spielt. Zunächst stellt er fest, dass es nicht so sehr darum geht, falsche Geschichten zu zerlegen oder das Patient*innen nur frei assoziieren. So gut wie immer finden die Mitteilungen der Klienten eine Erzählform für ihre Anliegen. Dazu stellt Herr Habermas folgende These auf: „Psychodynamische Psychotherapie lässt sich beschreiben als Arbeit am Erzählen, mit dem Ziel, dass möglichst alle relevanten Perspektiven eingeschlossen werden.“

Techniken therapeutischen Zuhörens

Zum Beleg der These will er beschreiben, wie Therapeuten aktiv zuhörend die Erzählungen vervollständigen. Dazu erläutert er vorab die klassischen Interventionen der psychoanalytischen Ichpsychologie. Diese bestehen aus Klärung der unklaren und fehlenden Teile, gefolgt vom Konfrontieren mit Fehlendem, mit Inkonsistentem, mit Auffälligkeiten und dem Deuten von z.B. Ängsten und abgewehrten Motiven, sowie der Emotionen. Wie beziehen sich nun diese Interventionen auf Geschichten?
Dazu bekommen wir noch zwei Gesprächsausschnitte vorgeführt, in denen die Anwendung der Interventionen die Geschichten vervollständigen, und dadurch die Emotionen und Motive geklärt werden. Daraus leitet Herr Habermas ab, auf welche Teile der Geschichte sich Therapeuten bevorzugt beziehen. Es sind verschiedene Teile, die aber immer mit Emotionen zu tun haben. Es geht dabei um Emotionen, die ein Motiv für Abwehr sein können.

Und die Moral von der Geschichte?

„Erzählungen sind ein zentrales Medium um Handlungen und Emotionen von Menschen zu verstehen.
Deshalb ist das Erzählen mit Eltern so wichtig für das Erlernen sozio-kognitiver und sozio-emotionaler Fähigkeit
Deshalb ist das Erzählen mit Therapeuten so wichtig für das Verstehen neurotischer Verzerrungen und Unglücks.“