Körperpsychotherapie und Anschauen

Mit Erdung wurde der Umgang mit der physikalischen Realität umschrieben, mit Zentrierung der Umgang mit der energetischen Wirklichkeit. ‚Anschauen‘ (Facing) befasst sich mit der Realität der Sinneswahrnehmung und –Verarbeitung. Die deutsche Übersetzung „Anschauen“ erreicht nicht ganz den englischen Begriff, denn dieser ist assoziationsreicher, weil er eben das „Gesicht“ (Face) mit anspricht. Es ist das Gesicht, das andere sehen, wenn sie mich anschauen. Anschauen beschreibt also den Umstand, dass uns eine aktive und passive Anschauungsmöglichkeit gegeben ist, eine reflexive und reflektierte Wahrnehmung der Welt.

Anschauen als Einstellung zur Welt

Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Thomas Metzinger

Eine Welt entsteht gewissermaßen erst dadurch, dass alle Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammengesetzt werden. So erhalten die Erscheinungen ihre Größe, ihre Form und Farbe, ihre Beschaffenheit und ihren Geruch und letztlich auch ihren Namen.

Anschauen bedeutet nun, über eine Abbildung der umgebenden Welt zu verfügen. Es mag selbstverständlich erscheinen, dass ein Mensch die Welt so wahrnimmt wie sie ist, aber spätestens seit Sigmund Freud wissen wir, dass die Psyche über die Fähigkeit verfügt zu verdrängen, das bedeutet u. a., dass bestimmte Aspekte der Welt aus dem Bewusstsein verbannt werden können.

In der sozialen Welt bezieht sich Anschauen auf die Kenntnis und die Anerkenntnis der Regeln und Übereinkünfte, die in einer Kultur gegeben sind. Die Zeichen und Signale der sozialen Welt können erkannt werden, ihr Sinn wird eingesehen.

Für Beziehungen bedeutet die Fähigkeit des Anschauens, sich selbst hinterfragen zu können, mit Kritik und Feedback umgehen zu können und bereit zu sein, seine Stärken und Schwächen anzuerkennen.

Im Bezug zum eigenen Körper bedeutet Anschauen, dass wir uns ein Bild von unserem Körper machen können, das angemessen realistisch ist und dass es möglich ist, über den Körper nachzudenken, die Worte zu haben, um ihn zu beschreiben.

Diagnostisch kann zu viel oder zu wenig Anschauen eingeschätzt werden. Zu viel tendiert zu Grübelei, zum ständigen Hinterfragen seiner selbst und der Welt. Zu wenig wäre entsprechend die Tendenz, sich nicht gut hinterfragen zu können und weiter geht es um eine gewisse Sprachlosigkeit, eine geringe Fähigkeit, Abstand von sich nehmen zu können, nicht kritikfähig zu sein. Und natürlich geht es auch um verzerrte Bilder, die sich ein Mensch von sich, seinen Beziehungen und seinem Platz in der Welt machen kann.

Anschauen in der Entwicklung

Seine Grundausstattung zur Entfaltung des Anschauens erhält ein Mensch durch seine genetische Ausstattung, aber erst durch die Kultur, die Eltern, die wirtschaftlichen und sozialen Umstände formen sich Anschauungen aus. Sie bestimmen die Phänomene, die der heranwachsende Mensch lernen muss einzuordnen. Die dabei erworbenen Sichtweisen haben einen großen Verdienst für jeden Menschen, egal, ob die Fähigkeiten eher gut oder nicht so gut entwickelt wurden.

Anschauen im Uterus

In der uterinen Phase entwickeln sich die Sinne erst nach und nach. Schon früh ist der Tastsinn und das Gehör einsatzbereit, der Sehsinn allerdings nur rudimentär. In diesem Sinn gibt es keine uterine Anschauung, denn es gibt kein Gegenüber. Trotzdem finden alle sinnlichen Erfahrungen auch ihren Weg in die neuronalen Verschaltungen und hinterlassen dort mehr oder weniger subtile Spuren im Körperempfinden. Sie können als Grundstimmungen oder Anmutungen wahrgenommen werden.

Anschauen in der Bindungsbeziehung

Mit der Bindungsbeziehung beginnt die Zeit des Miteinanders und der Beziehung von Gesicht zu Gesicht, dem eigentlichen Anschauen. Babys sind hervorragend dazu ausgerüstet, Gesichter erkennen zu können bzw. schulen sie ihren Sehsinn damit. Die Fähigkeit zur Imitation von Gesichtsausdrücken ist bereits kurz nach der Geburt ausgebildet. Sie bildet die Grundlage und Voraussetzung für spätere Empathiefähigkeit. Vor allem die Qualität des Blicks, von dem das Baby erblickt wird, legt Spuren für den späteren Umgang mit Anschauen – freundlich lächelnde, gleichgültige, kalte oder bedrohliche Blicke wirken tief in das Vegetativum des Babys hinein.

Als besonders relevante Erfahrung dieser Lebenszeit gilt die angemessene Spiegelungserfahrung. Als angemessene Spiegelung gilt, dass sie passend und markiert erfolgt. Sie nimmt Lautfolge, Tonhöhe, Dauer etc. auf und gibt sie variiert zurück. Erst damit bekommt das Kind die Möglichkeit, ein Selbst zu entwickeln.

Anschauen im Vorschulalter

Ab dem zweiten Lebensjahr beginnt die sprachliche Entwicklung und das Kind lernt, alles was ihm widerfährt zu benennen. Äußere Phänomene und innere Bewegungen. Gesichtsausdrücke spiegeln die Gefühle der Personen wieder. So lernt das Kind die Namen der Gefühle von seinen Bezugspersonen bzw. lernt es den Gesichtsausdruck von anderen zu deuten und zu benennen. Dadurch entsteht die Möglichkeit, sich mit anderen sprachlich auszutauschen und seine Befindlichkeit mitteilen zu können.

Anschauen in der Schulzeit

Spätestens in der Schule beginnt die Zeit des Zusammenseins mit gleichaltrigen Kindern. Hier bahnen sich neue Anschauen Erfahrungen an. Das Kind erfährt nach und nach, dass es so etwas wie ein „Ansehen“ bei den anderen Kindern und den Lehrer*innen besitzt. Ein Besitz, zu dem auch sein Äußeres beiträgt. Die Ein- und Ausschlusskämpfe in Grüppchen und Cliquen in dieser Zeit tragen viel zur sozialen Erfahrung und späteren Erwartung bei.

Anschauen in der Pubertät

Ab der Pubertät kommt eine neue Qualität des „Anschauens“ ins Spiel. Das Schauen und Angeschaut-Werden wird mit erotischen Qualitäten angereichert. Die Frage der eigenen Attraktivität und das Aussehen spielen eine größere Rolle als zuvor. Das Anschauen wird nun auch gerne zur Betrachtung im Spiegel, der die Augen der imaginären Betrachter ersetzt.

Anschauen im Körper

Anschauen ist körperlich mit den Sinnesorganen v. a. den Augen verbunden. Die Augen wiederum werden erst durch ihre Muskulatur voll nutzbar und die Sinneseindrücke erst durch ihre Benennung sinnvoll. Die verschiedenen Möglichkeiten von Ungleichgewichten können beschrieben werden als:

  • sehen (und anerkennen) dessen, was ist
  • nicht sehen (anerkennen), was ist
  • sehen, was nicht ist
  • nicht sehen, was nicht ist

Der erste dieser Fälle wäre eine gute Anschauenfähigkeit. Die Fälle zwei bis vier sind Verzerrungen zwischen Wahrnehmung und Realität. Sehen, was nicht ist, wäre eine Halluzination, nicht sehen, was ist eine Verleugnung, ebenso wie nicht Sehen, was nicht ist, z. B. einen Mangel nicht anzuerkennen.

Verzerrungen der Sichtweisen gehen gerne mit muskulären Ungleichgewichten einher. Starre Augen, ein entrückter Blick, wenig oder zwanghafter Augenkontakt und möglicherweise auch Fehlsichtigkeiten können auf problematische Erfahrungen mit Anschauen hinweisen.

Anschauen und Psychotherapie

Im engeren Sinn geht es beim Anschauen in der Therapie um die Verwendung der Sinnesorgane und um deren Befreiung aus einengenden Wahrnehmungsmustern.

Im weiteren Sinn könnte man die therapeutische Arbeit insgesamt als eine Art Anschauen betrachten. Die gemeinsamen Erfahrungen werden in Worte gefasst, der/die Therapeut*in bietet den Klient*innen Spiegelungen an, schildert seine Wahrnehmungen und sein Verständnis der Mitteilungen der Klienten. Dies ist eine Gelegenheit für Klient*innen, sich neu zu erfahren, sich mit neuen Begriffen und aus einer anderen Perspektive reflektieren zu lernen.

Erdung, Zentrierung und Anschauen sind drei Pole oder drei Aspekte von Realitätswahrnehmung, Anerkennung und Gestaltung. Sie sind unterscheidbare Aspekte jeder Situation und können gezielt adressiert werden, kommen aber niemals alleine für sich vor.