Die Psychosomatik erkundet Traumata von Kindern

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Prof. Dr. med. Martin Sack, TU München: „Folgen schwerer Traumatisierung in der Kindheit – wie kann Psychotherapie helfen?“

Einführung

Herr Sack erläutert uns zur Einführung, dass in den letzten dreißig bis vierzig Jahren ganz erhebliche Fortschritte zu den wichtigen Themen Trauma, Trauma Folgen und Trauma bedingte Störungen zu verzeichnen sind. Geforscht wurde und wird dazu in der Psychotherapie, der Psychosomatik, der Psychiatrie und der Neurologie. Daraus haben sich ein tieferes Verständnis der Dynamik und neue Methoden der Psychotherapie entwickelt.

Er erläutert uns das bekannte und inzwischen noch besser verstandene Modell der Trauma Entstehung. Gegeben ist eine Situation, in der sich die Betroffenen als völlig ohnmächtig erfahren, von den Ereignissen geradezu überrollt werden. Sie geraten in einen dissoziativen Zustand (s.u.), was dazu führt, dass das Erlebte nicht integriert werden kann. Die Erinnerung an den Vorfall zersplittert in eine Sammlung von Einzelteilen, die keinen Zusammenhang mehr haben. Später genügt ein kleiner Anlass – ein Gedanken, ein Geruch, ein Geräusch, um den ganzen Stress der Ausgangssituation wieder zu aktivieren.

Biologische Grundlagen

Wir sehen dazu das wohlbekannte Diagramm, das veranschaulicht, wie in einer kritischen Situation das Kampf-Flucht Muster aufgerufen wird und dass, wenn weder kämpfen noch fliehen möglich ist, ein Einfrieren erfolgt. Damit ist der Pfad zur Trauma Folgestörung betreten.

Was unmittelbar helfen könnte, wären Mitmenschen, die einem Halt, Trost und Orientierung bieten können. Soziale Unterstützung wirkt auch noch nach dem traumatisierenden Vorfall. Zugespitzt: Wann immer eine Trauma Folgenstörung entsteht, hat das soziale Unterstützungssystem versagt. Ganz besonders ist das der Fall, wo es um kindliche Traumatisierungen geht.

Kurzer Rückblick auf die Trauma Forschung

Herr Sack blickt kurz auf die Entwicklung der Trauma Forschung zurück. In den siebziger und achtziger Jahren ging es zunächst um die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD). Diese wurde dann 1980 als Diagnose in den ICD aufgenommen.

Beschrieben wurde das unwillkürliche Auftauchen von Erinnerungen an das Geschehen (Flash Back), das Vermeidungsverhalten, den Unwillen über die Geschehnisse zu sprechen, die ständig erhöhte Erregung des Körpers, Stress Symptome, erhöhte Wachsamkeit, erhöhter Blutdruck und erhöhte Herzfrequenz. Damit wird die PTSD auch zu einer Angelegenheit des Körpers und ebenfalls zu einer bio-psycho-sozialen Störung.

Traumatische Belastungen der Kindheit

Nach und nach hat die Traumforschung herausgefunden, dass Trauma Folgen nicht alleine PTSD verursachen, sondern dass die Auswirkungen sehr viel weiter reichen. Das geht so weit, dass „im Prinzip jede psychische Erkrankung durch Traumatisierungen in der Kindheit determiniert sein kann.“ Zumindest ist durch diese Erfahrung ein Risikofaktor für alle möglichen psychischen Erkrankungen gegeben.

Als Beleg bekommen wir die Ergebnisse einer von vielen Studien präsentiert. Diese zeigt, dass nur knapp die Hälfte von 30.000 Befragten keine Kindheitsbelastungen erlebt haben. Ein Viertel davon hat eine Belastung angegeben und 27% der Befragten hatten zwei, drei, vier oder mehr Belastungen auszuhalten.

Belastungen der Kindheit kommen vielgestaltig daher. Gewalt – körperlich, emotional, sexualisiert; Vernachlässigung, weil die Eltern selbst krank oder delinquent sind; Parentifizierung, weil ein oder beide Elternteile selbst der Versorgung bedürfen. Dabei können diese Belastungen auch in beliebigen Kombinationen auftauchen.

Dies führt u.a. dazu, dass Menschen mit einer Belastung in der Kindheit ein weit höheres Risiko haben, später erneut Traumata zu erleben.

Vernachlässigung – der vernachlässigte Faktor

Herr Sack stellt bedauernd fest, dass es in Deutschland nicht einmal ein Register zur Erfassung von Vernachlässigung gibt. Das ist schon deshalb ein großes Problem, weil Schätzungen besagen, dass Vernachlässigung etwa sieben Mal häufiger vorkommen als sexualisierte Gewalt. Dabei ist die Erfahrung von Vernachlässigung ebenso traumatisierend, wie die Erfahrung von Gewalt. Auch diesen Befund belegt der Vortragende mit einer Untersuchung, die für Vernachlässigung den erschütternden Wert von 62,8 % ermittelt hat.

Diese Vorgeschichte begünstigt die Entwicklung einer Depression in hohem Maße. Das erscheint sehr plausibel, wenn man sich in die Situation des vernachlässigten Kinds versetzt – Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit und natürlich Traurigkeit.

Belastung und Krankheit

Dramatisch sind die Folgen von vier oder mehr Kindheitsbelastungen. Nicht nur Depressionen (über vier Mal häufiger) können die Folge sein. Das Risiko einer koronaren Herzerkrankung ist mehr als doppelt so hoch; Diabetes mellitus wird wahrscheinlicher, noch wahrscheinlicher chronische Bronchitis oder Emphyseme. Besonders erschreckend erscheint die Selbstmordneigung, die mehr als zehnmal so hoch ist, als in der Gesamtbevölkerung.

Dazu werden fast fünf Mal häufiger illegale Drogen konsumiert, mehr als sieben Mal häufiger zu viel Alkohol und mehr als zehn Mal häufiger werden sogar illegale Drogen injiziert. Wohlgemerkt. Diese Risiken tragen auch vernachlässigte Kinder.

Dass Vernachlässigung bis tief in das biologische System hineinwirkt, hat eine Untersuchung von Rumänischen Waisenkindern ergeben. Die Beeinträchtigungen gehen hinab bis auf Zellebene, wo die Zellen schneller altern und sogar epigenetische Umschaltungen stattfinden. Sogar im Aufbau der Milchzähne lassen sich Spuren kindlichen Stresses finden.

Diagnostik und Kindheitsbelastungen

Hier fühlt sich die Psychotherapie gefordert. Wie kann eine angemessene Psychotherapie für Betroffene aussehen? Wie kann PT zur Gesundung und Stabilisierung der Person beitragen? Herr Sack ist der Überzeugung, dass „Trauma fokussierte PT“ dafür notwendig ist.

Zunächst geht es darum, den Patient*innen klarzumachen, dass sie keine Schuld an ihrer Erkrankung haben. Sie hatten das Pech, in dieser Familie aufzuwachsen, die so unfähig war, die kindlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Sie haben es geschafft, sich an diese Umstände anzupassen, aber diese Anpassungsmodus stellt heute ein Problem für sie dar.

Früher wurde diese Problematik unter dem Stichwort „Frühe Störung“ behandelt. Dieses umfasste: Störung der Mutter-Kind Bindung in den ersten zwei bis drei Lebensjahren. Was zu einer anhaltenden Behinderung der weiteren Entwicklung durch fehlende Erfahrungen von Handlungskompetenz, Bestätigung und Wertschätzung, Interaktion und Beziehung führt. Dadurch fehlt ein basales Sicherheitsgefühl, v.a. in Bezug auf Reizschutz, Angstregulation und Bindung.

Aus dieser Vorgeschichte entwickelt sich mit der Zeit ein immer vielfältigeres Krankheitsbild. Schlafstörungen, Ängste und Depressionen bei zwei bis dreijährigen Kindern. Spätere hinzukommende Traumata, dissoziativer Störungen, Persönlichkeitsstörungen usf.

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Herr Sack gibt uns das Beispiel einer Patientin, die nicht weniger als zehn verschiedene Diagnosen in ihrer Krankengeschichte hatte. Damit belegt er, dass die Komplexität, die sich aus dem kindlichen Trauma entwickelt, selbst ein Problem darstellt. Er schließt daraus, dass die diagnostischen Möglichkeiten um eine „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ ergänzt werden muss. Diese wird wohl auch mit dem ICD-11 auftauchen.

Aber wie umgehen mit dieser Komplexität? Es geht um zwei Ebenen der Behandlung. Einerseits muss die Symptomatik selbst behandelt werden. Hier geht es sehr stark um Stressregulation. Ebenfalls behandlungsbedürftig sind aber auch die brachliegenden Entwicklungsbedürfnisse. Hier treffen sich also Verhaltenstherapeutische mit psychodynamischen und humanistischen Psychotherapieansätzen.

Belastung und Persönlichkeit

Die Ähnlichkeit der Symptomatik mit sog. Persönlichkeitsstörungen ist offensichtlich. Die Annahme, dass diese Persönlichkeitsstörungen auf kindlichen Traumata beruht, liegt nahe. Deshalb schlägt Herr Sack vor, dass die Bezeichnungen „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ oder Entwicklungstraumafolgestörung“ passender und weniger diskrimierend seien.

Um die komplexe Störung von der „einfachen“ PTBS abgrenzen zu können, braucht es eine Differenzierung. Dazu sehen wir ein Modell, das uns vier Grade von Traumafolgestörungen zeigt. Es reicht von der einfachen PTBS, zur PTBS plus trauma-kompensierender Symptomatik (Sucht, Angst, Depression), weiter zu PTBS plus persönlichkeitsprägenden Symptomatik (Borderline und andere PS), bis zu PTBS plus komplexe dissoziativen Störungen (Amnesien, Fragmentierung, Identitätsstörung).

Herr Sack betont, dass solchen Krankheitsbildern mit Methodenvielfalt begegnet werden muss. Medikamente und Gespräche alleine genügen auf keinen Fall. Es braucht Körper- und Erlebnisorientierte Verfahren, Gruppen- und Einzeltherapie, alles was positive Erfahrungen begünstigen kann.

Dissoziationen

Um diesen Menschen helfen zu können, brauchen wir ein umfassenderes Verständnis von Gesundheit. Herr Sack nennt das „Salutogenese Konzept“ von Aaron Antonovsky, das zu einem solchen Verständnis beitragen kann.

Die grundsätzliche Richtung der Behandlung geht von der traumatischen Erfahrung aus. In ihr wurde Kontrollverlust erlebt, maximale Hilflosigkeit, existenzielle Bedrohung und ausgeliefert sein. Was angestrebt wird, ist ein Zustand von Stabilität, ein Grundgefühl von Überschaubarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens.

Als eine mögliche Methode beschreibt Herr Sack auch die Elektrokrampftherapie. Zumindest bei Ratten, anscheinend auch bei Menschen, scheint sie zu bewirken, dass traumatische Erinnerungen gelöscht werden können – eine elektrisierende Entdeckung gewissermaßen.

Therapeutische Möglichkeiten

Sein Hauptanliegen ist jedoch die „Traumakonfrontative Behandlungsmethode“. Dieser Ansatz kennt verschiedene Varianten, der bekannteste ist im Moment wohl die EMDR Methode. Aber es gibt weitere solcher Verfahren, die im Wesentlichen alle funktionieren. Nach Datenlage haben 80 % der Behandelten einen Behandlungserfolg zu verzeichnen.

Nun folgt ein Fallbeispiel aus seiner eigenen Praxis, das gut veranschaulicht, wie man sehr direkt mit traumatischen Sequenzen arbeiten kann. Im Anschluss dann noch eine Vergleichstabelle, die Antidepressiva, Gesprächspsychotherapie und Traumafokussierte PT anhand ihres Erfolgs vergleicht. Von schwach bist stark wirken Medikamente, PT und Traumafokussierte PT.

Therapie in der Tagesklinik

Traumfolgestörungen lassen sich nicht einer Kurzzeittherapie behandeln. Schon mehrfach hat der Vortragende auf den Faktor Zeit aufmerksam gemacht. Aus seiner Arbeit in einer Tagesklinik kann er von folgenden Bedürfnissen der Patient*innen berichten. Sich als handlungsfähig erleben; Selbstfürsorge und Selbstakzeptanz fördern, eigene Bedürfnisse erkennen, Grenzen setzen lernen, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit fördern; lernen, mit belastenden Affekten umzugehen; Bearbeitung von Stressoren (Traumatherapie).

Eine solche Fülle von Themen lässt sich natürlich nicht Punkt für Punkt abarbeiten. Die Probleme werden dann angegangen, wenn sie sich zeigen.

Als zentral schätzt Herr Sack die Förderung der Selbstwahrnehmung und des Selbstbezugs, zusammen mit der Förderung der Orientierung in der Gegenwart und der Förderung der Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme ein. Nur wer orientiert, gut genug mit sich in Kontakt ist, ist auch in der Lage eine Beziehung zu führen. Eine Beziehung, die bedeutsam genug ist, dass sie auch eine Ressource darstellen könnte. Im Auge ist dabei zu behalten, dass der Patient nicht dissoziiert.

Ein Aspekt, der ebenfalls in der Therapie auftauchen kann, ist Destruktivität. Auch dazu präsentiert Herr Sack uns noch eine sehr eindrückliche Fallgeschichte.

Bedürfnisse von Betroffenen

Um solche komplexen Lebensgeschichten angemessen behandeln zu können, braucht es eine Vorstellung davon, welche Bedürfnisse Menschen haben können. Diese müssen dann individuell behandelt werden. Herr Sack zeigt uns eine Liste, die er erstellt hat.

Schutz und Geborgenheit
Ein Grundgefühl von Sicherheit fördern
Interaktion und Orientierung
Verlässliche Beziehungen anbieten
Fürsorge und Unterstützung
Zuwendung zum individuellen Leid und persönlichen Bedürfnissen
Wertschätzung und Anerkennung
Die individuellen und kulturellen Besonderheiten wertschätzen
Förderung von Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit
Kompetenzerleben und Erfahrungen von Bewältigung fördern
Freude und lustvolle sinnliche Erfahrungen
Lebensfreude, Kontaktfähigkeit und positives Körpererleben fördern

Dies macht den Umfang der therapeutischen Arbeit sehr deutlich. Herr Sack formuliert das Ziel so: „[…] Arbeit an der Entwicklung der Persönlichkeit, an der Reifung, an dem, sich im Alltag integrieren können, sich von Wurzeln gestützt und wieder aufgehoben fühlen, sich vom Leben getragen fühlen können.“ Diese Arbeit mache ihm großen Spaß betont er zum Abschluss.
Ein sehr reichhaltiger Vortrag und hier ist der Link dazu

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