Die Psychosomatik erkundet Narzissmus

Bericht vom 17.05.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Marc Walter, Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste in Aargau: „Sind wir alle narzisstisch? Neue Erkenntnisse aus der Forschung“

Einführung

Wir erfahren zu Beginn, dass es wenig neurologische Forschung zum Thema gibt und wir deshalb auch nichts darüber hören werden. Spannend ist natürlich die Frage, woran ein Narzisst zu erkennen ist. Dieses Thema wird auch in den Medien häufig thematisiert – die Faustregel wäre: Der, der zuerst den anderen einen Narzissten nennt, ist meist eher der Narzisst. Der übertriebene Gebrauch dieser Zuschreibung macht den Begriff aber zunehmend unscharf.

Welche Personen fallen einem als erstes ein? Christiano Ronaldo oder Donald Trump – haben die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung? Nein, denn sie zeigen sich zwar sehr narzisstisch, leiden aber nicht darunter, was für die Diagnose erforderlich wäre. Es gibt also einen Unterschied zwischen der Bezeichnung „Narzisst“ und der „Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“.

Von Erich Fromm ist folgendes Zitat überliefert: „Man kann Narzissmus als ein Erlebniszustand definieren, indem nur die Person selbst, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihr Eigentum und alles was zu ihr gehört als real erlebt wird, während alles was nicht Teil der eigenen Person ist, keine volle Realität besitzt.“

Gliederung:

  1. Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung
  2. Neues zur Diagnose Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen
  3. Die Therapie bei Persönlichkeitsstörungen und narzisstischen Störungen

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Sigmund Freud hat das erste Narzissmus Konzept entwickelt (1914). Dann passierte lange nichts bis Heinz Kohut (1976) und bald darauf Otto Kernberg (1978) ihre Ausarbeitungen zum Thema vorlegten. Damit war auch der Weg frei, um diese Diagnose in das Klassifikationssystem der psychischen Störungen aufzunehmen.

Für Freud war Narzissmus nicht nur schlecht. Er nahm den Begriff aus der Griechischen Mythologie, in der die Geschichte von Narziss erzählt wurde. Der schöne, aber unglückliche junge Mann, der sich in sein Spiegelbild verliebt hatte. Freud gestand diesem Typus zu, dass er unabhängig, aktiv und aggressiv sei. Das ist noch eine ganz andere Perspektive als die Heutige, die den Narzissten eher negativ sieht.

Die aktuelle Einschätzung der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wird im DSM-5 im sog. Cluster B eingetragen. Dabei gilt für den Cluster A, dass er sog. bizarre Erscheinungsbilder zeigt (z.B. Paranoide PS), für B ist die Instabilität typisch (z.B. auch Bordeline) und für C gilt die Ängstlichkeit als zentrales Merkmal (z.B. Zwanghafte PS).

Nicht alle diese Persönlichkeitsstörungen kommen in psychiatrische Kliniken. Die Cluster A Typen leben gerne zurückgezogen am Waldrand und tun niemandem etwas zuleide. Und auch die ängstlichen Typen vom Typ C haben gute Chancen eine soziale Nische zu finden, in der sie weitgehend ungestört leben und sich sogar nützlich machen können. In der Psychiatrie geht es vor allem um den Cluster B, der die Antisoziale, die Borderline, die Histrionische und die Narzisstische Persönlichkeitsstörung umfasst.

Die Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Die Kernmerkmale dieses Bildes machen die Eigenschaften von Großartigkeit, dem Bedürfnis nach Bewunderung und der Mangel an Empathie aus. Gerne werden Fantasien von grenzenlosem Erfolg gepflegt – es geht dabei um Macht, Glanz und Schönheit. Die Überzeugung, ganz besonders und einzigartig zu sein, gehört auch häufig zum Erscheinungsbild, ebenso wie Anspruchsdenken und Arroganz.

Was gibt es Neues?

Neu ist zunächst, dass es eine neue Version des ICD gibt, es trägt die Zahl 11. Der ICD-11 ist seit Januar diesen Jahres gültig, aber es gibt eine fünfjährige Übergangsfrist. Für die Betrachtung der Narzisstischen PS gibt es darin eine neue Perspektive, nämlich dass Narzissmus eine allgemeine Persönlichkeitsdimension ist – in diesem Sinne sind wir tatsächlich alle Narzissten (aber nur ca. 5% haben auch eine Persönlichkeitsstörung). Erst ab einer bestimmten Schwelle wird der Narzissmus pathologisch und wenn diese Schwelle einmal überschritten ist, tendiert der Weg dahin, dass die Störung immer schlimmer wird.

Kommt dann noch Kriminalität hinzu beginnt gewissermaßen der Übergang zur Antisozialen PS, bei der, nach Ansicht des Vortragenden, immer gleichzeitig eine narzisstische Komponente vorhanden ist.

Neu ist auch die Entdeckung, dass es zwei Spielarten des pathologischen Narzissmus gibt. Das ist die gut bekannte „grandiose“ Spielart und neu entdeckt wurde die vulnerable Form. Mit der ersten Ausprägung sind folgende Beschreibungen verbunden: arrogant, aggressiv, psychopathisch, grandios, maligne, dickhäutig, manipulativ, grandiose Fantasien, Anspruchshaltung, Ausbeutung, schamlos, ansprüchlich und dominant.

Für den neuentdeckten vulnerablen Typ gibt es die Beschreibungen: schüchtern, ängstlich, sensitiv, fragil, zurückhaltend, selbstunsicher, das Selbst maskierend, abwertend, misstrauisch, neurotisch, introvertiert.

Bei allen äußerlichen Unterschieden haben doch beide Typen die genau gleichen innerlichen Probleme. Die narzisstischen Eigenschaften der Empathielosigkeit, das ausbeuterische Verhalten und das dringende Bedürfnis nach Bewunderung wird vom einen von vorneherein gezeigt, beim anderen erst mit der Zeit. Der vulnerable Typ ist also schwieriger zu diagnostizieren. Er oder sie kommt meist mit depressiven oder ängstlichen Problemen in die Klinik und erst mit der Zeit zeigt sich dann der fragile Selbstwert und die tiefe Selbstunsicherheit.

Erkennen von Narzissmus

Das Leitsymptom schlechthin zeigt sich, wenn der Betroffene mit einer Kränkung konfrontiert wird. In der klinischen Diagnostik kann es also vorkommen, dass ein Patient mit Narzissmus Verdacht, einfach mal ein wenig länger warten muss, bevor er ins Behandlungszimmer darf. Diese Situation stellt für Betroffene eine akute Krise dar. Die Grandiosität verdeckt ihr sehr zerbrechliches Selbstwertgefühl. Der grandiose Typus empfindet dann Wut und hegt Rachegelüste und der vulnerable Typus schämt sich und empfindet Angst. Mitunter geschieht auch, dass der eine Typus in den anderen umschlägt.

Das zentrale Problem der Persönlichkeitsstörung ist also vor allem der zerbrechliche Selbstwert und sehr viele der typischen Verhaltensweisen dienen dem Selbstwertschutz. Es ist ein verzweifelter Versuch der Selbstregulation.

Narzissmus im ICD-11

Im ICD-11 gibt es den Begriff „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“ nicht mehr. Vielmehr werden Persönlichkeitsstörungen als ineinander übergehende Dimensionen betrachtet, die von leicht über mittel bis schwerwiegend sind. Berücksichtigt werden die soziale Funktionsbeeinträchtigung und aggressives und selbstdestruktives Verhalten.

Diagnostisch werden die „Domänen“ negative Emotionalität, Dissozialität, Zwanghaftigkeit, Enthemmung und Distanziertheit unterschieden. Darin finden sich dann wieder die altbekannten Beschreibungen des narzisstischen Erlebens und Verhaltens.

So wird auch deutlicher, dass von Narzisstischer PS betroffene sehr häufig weitere Erkrankungen haben – z.B. Affektive Störungen, Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitsstörungen.

Gerade bei Suchtpatient*innen finden sich anders herum sehr häufig Persönlichkeitsstörungen.

Die Therapie der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Von einer Narzisstischen PS sind so gut wie immer auch andere Menschen mitbetroffen, insbesondere Partner*innen und Familienmitglieder. Herr Walter berichtet darüber, dass er plant einen Ratgeber zu schreiben, in dem beide Seiten vorkommen.

Die PS kann mit Psychotherapie behandelt werden. Es gibt zahlreiche Werke von Verhaltenstherapeuten und psychodynamischen Therapeuten, die hier hilfreiche Tipps geben können. Von Seiten der VT bieten sich die Dialektisch-behaviorale und die Schematherapie an. Auf Seiten der Tiefenpsychologie die Übertragungsfokussierte Therapie und die Mentalisierungsbasierte Therapie.

Egal, welcher Zugang gewählt wird. Typischerweise hat die Therapie einer PS drei Phasen. In der Eingangsphase geht es darum, zuzuhören, sich auf den Patienten einzulassen, sich ganz zur Verfügung zu stellen. Schon in dieser Phase, noch mehr in der zweiten, geht es aber auch darum, konstruktive Grenzen zu ziehen. Diese Grenzziehungen werden sinnvollerweise am besten gemeinsam erarbeitet und in einer Vereinbarung festgeschrieben.

In der zweiten Phase können kleine Kränkungen, am besten augenzwinkernd, verabreicht werden. Hier ist viel Feinfühligkeit gefragt, eine gute Einschätzung wieviel schon möglich ist und was den Patienten möglicherweise in eine Krise stürzen kann. Krisen sind für Betroffene besonders prekär. Die Suizidrate für dieses Krankheitsbild ist höher, als die der Depression.

Die dritte Phase konfrontiert dann den Patienten mit der Realität. Also heraus aus den Größenfantasien und der Aufbau eines realistischen Selbstbilds, sowie Fähigkeiten zur Selbststeuerung und Kommunikation. Das kann nur gelingen, wenn die Beziehung tatsächlich trägt und das gelingt wiederum nur, wenn ich als Therapeut auch etwas Liebenswertes oder Interessantes beim meinem Klienten finden kann.

Fazit:

Es gibt einen normalen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft

Narzisstische Persönlichkeitsstörungen und antisoziale PS sind narzisstische Störungen und befinden sich auf einem Kontinuum narzisstischer Psychopathologie

Ein vulnerabler narzisstischer Typus ergänzt den grandios narzisstischen Typus

Intensive Beziehungsarbeit und dialektisches Arbeiten (Einfühlen, Begrenzen) sind entscheidend für die Psychotherapie mit narzisstischen Patientinnen und Patienten.

Ein sehr spannender und gehaltvoller Vortrag, der mit leisem Humor angereichert war.

Hier geht es zum Vortrag: