Psychosomatik und Sprache

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 06.02.18 von Carl Eduard Scheidt, Prof. Dr. MA – Uni Freiburg
„Sprechen über sich – Zur narrativen Konstruktion von Identität“

Sprechen und erzählen

Sprache ist für Menschen selbstverständlich. Wir benutzen sie ständig, um uns verständlich zu machen und zwar sowohl in unseren Gedanken als auch im Austausch mit anderen. Sprechen wird auch als soziales Handeln betrachtet. Wir appellieren damit, stellen etwas fest oder drücken unsere Gefühle damit aus.

Sprache ist auch das Medium der Erzählung und eine Erzählung hat eine raumzeitliche Struktur. Das umfasst einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. In der Mitte kommt es in der Regel zu Komplikationen und am Ende steht eine Bewertung oder Schlussfolgerung.

Eine Erzählung findet in der Gegenwart statt. Sie bezieht sich dabei auf etwas in der Vergangenheit. Das ‚erzählende Ich‘ der Gegenwart berichtet von dem ‚erzählten Ich‘ der Vergangenheit. In einem gewissen Sinn rekonstruiert das erzählende Ich sich selbst durch die Erzählung.

Traumatische Erfahrungen können diese Rekonstruktion empfindlich stören, denn die Erzählung kann uns helfen Gefühle und Umstände in unser Selbstbild zu integrieren.

Durch das Erzählen erweitern wir unser Weltwissen und pflegen dabei auch noch unsere Beziehung zum Zuhörer. Die erzählte Geschichte kann zu einem Teil unserer Identität werden.

Erzählung und Identität

Was aber ist nun Identität? Die Identität wird nicht mehr einfach als ‚dieses Ding‘ betrachtet, das eindeutig für sich existiert. Vielmehr ist die aktuelle Perspektive darauf die, dass sie konstruiert werden muss. Diese Konstruktion besitzt mehrere Dimensionen, die je nach Situation verwendet werden kann.

Wenn Menschen in existenziell umwälzende Situationen geraten, z.B. eine Krebserkrankung, der Ausbruch einer Psychose oder die Entdeckung der eigenen Homosexualität, wird das die bisherige Identität erschüttern.

In so einem Fall bekommen Erzählungen ganz neue Aufgaben. Sie müssen es schaffen, das Fortbestehen der Identität zu sichern. Es braucht neue Erzählungen für die Übereinstimmung mit sich selbst. Sie können auch dazu dienen, Anerkennung und soziale Resonanz zu fordern und manchmal dienen sie auch der Selbstrechtfertigung. Gerade wenn Schuldgefühle eine Rolle spielen, wird es wichtig, sich mit der Schuld erzählerisch auseinanderzusetzen, um so seinen Selbstwert zu schützen und auch die Gelegenheit zur Selbstreflexion zu nutzen.

psychische Aspekte

Wir hören nun einige Beispiele von biografischen Erzählungen. Herr Scheidt weist uns auf die verschiedenen Funktionen der Erzählung in diesen Geschichten hin.

Schon die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, enthält Beziehungsbotschaften. Dafür werden hauptsächlich körpersprachlichen Mittel eingesetzt.

Wichtig für die ‚Identitätsarbeit‘ sind die Bilder bzw. die Vorstellungen von Bildern, die andere sich von einem machen. Hier vermischen sich bewusste und unbewusste Inhalte. Meine Vorstellung davon, wie ich gerne wäre, muss in Einklang mit dem Bild gebracht werden, das sich andere von mir machen. Und auch meine Annahmen darüber, wie andere mich sehen, muss mit dem versöhnt werden, wie andere mich tatsächlich sehen.

Diese Erwägungen sind nicht spannungsfrei. Wenn die Person allerdings über ein stabiles Selbstbild verfügt und sich auch vorstellen kann, dass der andere ebenfalls über ein eigenes Erleben verfügt (TOM), stehen die Chancen gut, dass dieser Prozess gelingen wird.

Ein weiterer Aspekt ist der Einfluss des Hörers auf die Geschichte. Dies ist besonders bei Paaren relevant, die üblicherweise über eine Co-Konstruktion ihrer Beziehung erschaffen haben.

Wissenschaftliche Zugänge

Es gibt natürlich auch Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit von Erzählen. Die Hypothesen zur Wirkkraft sind:

  • Auflösen von Blockaden
  • Kognitives Durcharbeiten
  • Selbstregulation
  • Soziale Integration
  • Selbstdarstellung

Vermutlich werden es individuelle Mischverhältnisse dieser Prozesse sein, die im Einzelfall wirken. Das wird auch durch neurowissenschaftliche Studien bestärkt.

Die Gender Forschung hat herausgefunden, dass sich männliche von weiblichen Erzählstilen unterscheiden. Dies ist wohlgemerkt der sozialen Konstruktion zu verdanken und nicht den Genen. Männliche Erzählungen orientieren sich bevorzugt an Fakten und sie schlussfolgern am liebsten. Frauen orientieren sich eher an Emotionen, deshalb fragen sie nach und deuten das Gehörte.

Dieser Befund lässt sich mit den entwicklungspsychologischen Theorien von Jaques Lacan und Daniel Stern vergleichen. Der erstere nimmt an, dass das Baby sich in einem psychischen Chaos befindet. Der andere sieht die heranwachsende Ordnung als Motor des psychischen Erwachens.

Erzählen und Krankheit

Es gibt etliche psychische Krankheitsbilder, in denen die Erzählfähigkeit eingeschränkt oder gehemmt ist.

  • Identitätsstörungen
  • Affektive Störungen
  • Persönlichkeitsstörungen

Sprechen und erzählen kann hier zu einer wertvollen Intervention werden. Wenn es z.B. in der Therapie zu Störungen des Erzählflusses kommt, kann das auf eine psychische Belastung hinweisen. Ebenso das plötzliche Verstummen oder die Weigerung, schmerzhafte Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

Hier besteht die therapeutische Aufgabe darin, Wege anzubieten, wie das Unsagbare doch noch ausgedrückt werden kann.

Ich fand Herrn Scheidt beeindruckend in seiner Ruhe und Klarheit. Ich habe die Dichte und Konsistenz des Vortrags sehr genossen.