Die Psychosomatik macht einen Ausflug in die Medienwissenschaft

Medienwissenschaft und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.06.18
Von Prof. Bernhard Pörksen „Die neue Macht der Lüge. Meinungsbildung und Desinformation im digitalen Zeitalter“

Herr Pörksen spricht frei, ohne Powerpoint und mit nur wenigen Stichwortzetteln in der Hand. Er führt uns mit einer kleinen Geschichte ins Thema ein. Es ist die Geschichte eines amerikanischen Radioreporters, der vor allem durch seine Verschwörungstheorien, die Leugnung des Klimawandels und seine Anhängerschaft zu D. Trump bekannt ist. Als 2017 der Hurrikan „Irma“ Kurs auf Florida nahm, erklärte er das zu einer Fake-News. Er blieb in seinem Studio sitzen und man weiß nicht genau, was ihm zugestoßen ist. Allerdings musste er eine Zeit lang seine Sendung aussetzen, was er auf geheime Maßnahmen zurückführte. Mit diesem „Superlativ von Seltsamkeit“ führt uns Herr Pörksen zu der Frage, was Realität eigentlich sei. Diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Letztlich wäre der Satz: „Realität ist das, was nicht verschwindet, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Die wohl beste Näherung an eine Definition.

Postfaktisches Zeitalter?

Angeblich, so Herr Pörksen weiter, leben wir im „Postfaktischen Zeitalter“. Er bekundet seine Skepsis gegen diese Benennung. Zum Ersten wechseln Zeit-Diagnosen recht schnell, und so bleibt es für ihn fraglich, ob diese Bezeichnung treffend sein kann. Zum Zweiten suggeriert diese Benennung, dass es einmal ein „Faktisches Zeitalter“ gegeben hätte. Aber wann soll das gewesen sein? Die Politik war schon immer ein Pfuhl von Lüge und Propaganda. Zum Dritten empfindet er den Ausdruck als resignativ – es ist eh zu spät, wir können nichts mehr ändern.
Also möchte uns Herr Pörksen eine tiefergehende Zeitdiagnose anbieten, die auch „Ambivalenz fähiger“ sein soll. Er benennt die Ausgangslage als eine „tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur“ – Boden und Wände wackeln also tüchtig – wie ist es dazu gekommen?

  1. Neue Verbreitungstechniken – z.B. gefälschte E-Mails, die als Massensendungen an unzählige Empfänger versendet werden und deren Lügen fast nicht mehr aus der Welt zu bringen sind.
  2. Neue Sichtbarkeit – zum heutigen Zeitpunkt gibt es bereits ca. 3 Milliarden Smartphones. In der Öffentlichkeit ist also quasi immer jemand mit einer Kamera dazu bereit, das nächstbeste Filmchen von wem auch immer zu drehen und sofort ins Netz zu stellen.
  3. Neue Manipulationsanfälligkeit der Öffentlichkeit – einerseits gibt es mehr Möglichkeiten für alle, Informationen bereit zu stellen, aber das erhöht auch die Möglichkeiten, Fälschungen zu verbreiten, die mitunter schwer als solche zu durchschauen sind.
  4. Neue Anreize – die Netzgemeinschaft steht auf Hypes, auf Extrem und auf Zuspitzungen. Die Klickraten werden gemessen und Marktakteure springen auf Trends auf und erhöhen so noch die Aufmerksamkeit.
  5. Neue Ungewissheit – die Flut von Informationen steigt immer höher, aber anstatt, dass uns das mehr Mündigkeit verleiht verunsichert dieses Zuviel viele Menschen.
  6. Neue Geschwindigkeit – dank Smartphones und Internet erleben wir weit entferntes quasi in Echtzeit. Das journalistische Spannungsfeld von „Schnelligkeit“ vs. „Genauigkeit“ kommt zugunsten der ersteren in ein Ungleichgewicht.

Was also tun?

Herr Pörksen referiert uns diese Punkte mit zahlreichen Beispielen. Was soll man nun von dieser Diagnose halten? Sich selbst erlebt der Vortragende zwischen den Polen von Apokalyptik und Euphorie wechselnd – zum Fatalismus neigt er nicht. Was kann getan werden, um mit diesen Verschiebungen fertig zu werden? Wie kann man Desinformation bekämpfen, ohne auf demokratische Grundwerte zu verzichten? Er unterstützt die Idee, dass die journalistischen Maximen von möglichst vielen Menschen erworben werden. Z.B. Prüfe erst und schreibe später! Höre auch die andere Seite! Sei skeptisch gegenüber anderen und dir selbst! Sei transparent in deinen Absichten!

Wie könnte das befördert werden? Herr Pörksen sieht drei Richtungen, in denen das bewerkstelligt werden kann.

  1. Journalistische Dialogfähigkeit – eine neue Kultur von Kommunikation zwischen Journalisten und Konsumenten
  2. Plattformregulierung – Inhaber von Internet Plattformen sollen kontrolliert werden – es bräuchte so etwas wie einen „Plattform Rat“.
  3. Bildung – es braucht ein Schulfach über Medienkompetenz, sowie Fähigkeiten zu einer Macht- und Medienanalyse

Mit drei Schlusssätzen (die einzigen Sätze, die er dann tatsächlich abliest) fasst er seinen Vortrag zusammen:

Wir, das Publikum, müssen medienmündig werden,

    1. Weil unser Miteinander von korrekten Informationen lebt
      Weil der Informationsraum neu definiert worden ist
      Weil wir medienmächtig geworden sind

Es gibt tosenden Beifall für Herrn Pörksen

Kriegsenkel

Kriegsenkel

– oder der lange Schatten des großen Kriegs

Nicht wenige Autoren betrachten den Verlauf des letzten Jahrhunderts als die Zeit eines „Großen Kriegs“. Beginnend mit dem ersten Weltkrieg 1914 und endend erst mit der Auflösung der Sowjetunion 1989. Das wären 75 Jahre Krieg gewesen, ein dreiviertel des letzten Jahrhunderts mit Abermillionen Toten und beispiellosen Verbrechen. Zurück blieben die Überlebenden und Nachfahren von Tätern, Mitläufern und Opfern sowohl auf Sieger- als auch auf Verliererseite.
Dass in Kriegen traumatische Erfahrungen gemacht werden können, die lange nachwirken, ist spätestens seit dem Vietnamkrieg belegt. Dass traumatische Erfahrungen auch auf die Folgegenerationen wirken können, erschien als These immer plausibel, inzwischen gilt auch dieser Umstand als gesichert.
Deutsche Kriegskinder und –Enkel müssen nicht nur mit ihren persönlichen Traumen und Verlusten leben, sondern auch mit der Scham des Verlierers und der kollektiven Schuld an den Verbrechen des Nazi Regimes. Was zählt schon das familiäre oder persönliche Leid angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten?

Die Traumen der Kriegskinder

Aus der Perspektive des „Großen Kriegs“ waren die Kriegskinder von heute wohl nicht selten ebenfalls schon Kriegsenkel. Ihre Eltern hatten z. T. schon den ersten Weltkrieg als Kinder erleben müssen. Und auch falls das nicht der Fall war, gab es schon vor dem Faschismus eine „Schwarze Pädagogik“, die darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder zu brechen, um sie zu gehorsamen Wesen zuzurichten.
Auch diejenigen Kriegskinder, die diese Vorbelastung nicht trugen, wurden von faschistischen Erziehungsidealen berührt, erlebten Verluste, mussten fliehen, erlebten sexuelle Gewalt, wurden ausgebombt, standen hungrig und frierend in den Trümmern ihrer Heimat oder hatten ihre Heimat ganz verloren.
Dazu mussten sie lernen anzuerkennen, dass Deutschland nicht nur den Krieg verloren, sondern auch noch ein Jahrtausendverbrechen verübt hatte. Diese Ausgangssituation ließ wenig Entwicklungsspielraum zu. Befindlichkeiten durften keine Rolle spielen angesichts der alltäglichen Herausforderungen des Weiterlebens nach dem Krieg. In großem Umfang mussten die Verletzungen, Verluste und Traumen verdrängt, verleugnet und abgespalten werden.
Nicht erst mit dem Beginn des Wirtschaftswunders wurden die Schrecken der Kindheit mit Arbeit zugedeckt. Aber ab den fünfziger Jahren stand zusätzlich noch der Konsum als Pflaster zur Verfügung. Die Zeit des Mangels hatte ein Ende und der fromme Wunsch, dass damit die Vergangenheit vorbei sei, war weit verbreitet. In der wachsenden Sicherheit wurden viele Familien gegründet, in denen bald auch Kinder zur Welt kamen.

Die Kindheit der Kriegsenkel

Die allermeisten jungen Eltern wollten sicher das Beste für ihre Kinder. Leider wussten damals viele junge Eltern nicht, wie das zu vermitteln gewesen wäre. Die Variationen von Eltern-Kind Beziehungen sind unüberschaubar. Aber einige typische Rahmen Geschichten lassen sich skizzieren.

Traumatische Belastungsstörung

Ein (oder beide) Elternteile leidet unter einer (in der Regel unentdeckten) Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie können die körperliche Versorgung hinreichend bis gut leisten, die emotionale Versorgung ist hingegen eher problematisch. Körperliche Nähe und Schutz zu bieten fällt solchen Eltern schwer. Trost spenden, Ermutigungen aussprechen, mit Ärger und Trotz des Kindes umgehen zu können sind Interaktionen, die entweder eingefroren sind oder niemals selbst erfahren wurden.
Das Kind beobachtet sonderbares Verhalten, geistige Abwesenheit, emotionale Leere oder überbordende Emotionen bis hin zu Gewaltausbrüchen. Die Fähigkeit zu emotionaler Resonanz ist zumindest eingeschränkt, und nicht selten kommt noch eine Alkohol- oder sonstige Abhängigkeit ins Spiel.
Viele Betroffene sind nicht in der Lage, ihren Kindern Halt oder Orientierung zu vermitteln.
Wenn das ältere Kind die Vergangenheit anspricht, bekommt es entweder gar keine Antwort, die immer selben Geschichten oder einen völlig emotionslos vorgetragenen Bericht.
Die Kinder finden häufig die Lösung darin, sich selbst für das Geschehen schuldig zu fühlen. Ebenfalls recht häufig beginnen sie ihre Eltern zu beeltern, übernehmen Verantwortung nicht nur für den Haushalt, sondern sogar für die Stimmungen der Eltern oder des Elternteils. Dies ist ggfls. die Wiederholung des Elternschicksals – keine angemessene Kindheit durchleben zu können.

Gering integrierte Ich-Struktur

Ein (oder beide) Elternteile haben teilweise gering integrierte Ich-Strukturen. Ich-Strukturen werden wesentlich während der ersten sechs Lebensjahre ausgebildet. Dazu zählen die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung, die Fähigkeit andere Menschen mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen wahrzunehmen, die Fähigkeiten zu kommunizieren, das psychische Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können und die Fähigkeiten zur Bindung.
Auch wenn die Ich-Strukturen brüchig sind, gelingt den Betroffenen meist mit der Zeit eine Art von Organisation. Diese Organisation hat die Eigenart, dass sie sehr rigide erscheint, keine Abweichung von einem Sollwert tolerieren kann, einiges aus der Wahrnehmung ausschließt und als einzige Möglichkeit überhaupt zählt, wie das Leben zu bewältigen sei. Je nach Ausprägung sind die Eltern nicht oder nur schwer dazu in der Lage, ihren Kindern ein Beziehungsangebot zu machen, das die Entwicklung von Ich-Strukturen fördern würde.
Je nach Strukturbereich fühlen sich die Kinder unsicher im eigenen Körper, können z.B. seine Freuden nicht genießen; haben Schwierigkeiten damit, andere Meinungen und Ansichten wahrzunehmen und gelten zu lassen; weiter fällt die Impulskontrolle schwer und/oder sie können sich nur schwer selbst beruhigen; häufig fällt es schwer, Beziehungen und Bindungen einzugehen; und sich angemessen kommunikativ zu verhalten. Begleitet ist dieses Selbsterleben häufig mit einem mehr oder weniger subtilen Schuldgefühl oder gar der Hypothese, kein Recht zur Existenz zu besitzen.
Solche Einschränkungen schlagen auf den Selbstwert, auf die Selbstwirksamkeit und damit auf die Lebensqualität durch. Als Jugendliche fühlen viele sich einsam und fremd auf der Welt, haben vielleicht den Eindruck auf dem falschen Planeten geboren zu sein. Die Suche nach einer passenden Identität kann sich schwierig gestalten.

Großeltern als Täter*innen

Die Großeltern oder Familienangehörigen waren NS Täter*innen oder haben mit dem System sympathisiert. Die Eltern sind meist unbewusst in die Schuld und Scham der Großeltern verstrickt. Es gibt einen niemals benannten und doch immer fühlbaren Bereich eines Tabus. Was versteckt wurde soll für immer verborgen bleiben, auch nicht durch Kinder oder Kindeskinder ausgeplaudert werden. In dieser Konstellation gerät das Leben zur Fassade. Alle sollen glücklich aussehen, Gutes tun und niemals die Beherrschung verlieren.
So eine Atmosphäre ist eine große Herausforderung für ein heranwachsendes Kind. Es erlebt häufig eine Dissonanz zwischen seiner Wahrnehmung einer Situation und deren Erklärung durch die Eltern. Nichts scheint so zu sein, wie es sich anfühlt. Besonders Gefühlswertungen werden maskiert, wegrationalisiert und ein häufiger Satz lautet: „Das bildest Du Dir nur ein.“ Die Enkel haben kaum eine Wahl, sie müssen sich auf diese Welterklärungen einstellen und allmählich gewöhnen sie sich auch daran und höchstens ein subtiles Unbehagen bleibt erhalten.

Großeltern als Opfer

Großeltern oder Familienangehörige gehören zu den Opfern des NS-Regimes. Diese Konstellation kann ebenfalls in ein Tabu Szenario führen. Ein anderer möglicher Weg liegt darin, den Kindern, bzw. Enkeln den Auftrag zu erteilen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Kampf um die Anerkennung des erlittenen Unrechts, evtl. Entschädigung und Wiedergutmachung zu fordern bis dahin Rache zu üben. Diese Aufträge werden zu einem so frühen Zeitpunkt des Lebens empfangen, dass sie einerseits nicht abgelehnt werden können und andererseits eine absolute Überforderung darstellen.
Der unmöglich zu erreichende Erfolg führt in Richtung Überforderung und Minderwertigkeitsgefühl. Egal was erreicht wird, es ist nie genug und daran fühlen sich die Betroffenen schuldig.

Rebellion oder Anpassung

Wie gingen die Kriegsenkel mit ihrer Situation um? Auch hier sind die Möglichkeiten zahlreich und unüberschaubar, aber auf eine Achse zwischen Unterwerfung, Kapitulation und Anpassung zu Widerstand, Trotz und Rebellion lassen sich wohl viele der Lösungen unterbringen. Beide Richtungen bewirken Verdienste und kosten einen Preis. Die Anpassung sorgt für Ruhe, unterwirft sich der herrschenden Strömung und kann mit wenig Aufwand im Strom mitschwimmen und erfolgreich sein. Der Preis dafür mag in der Aufgabe des eigenen Impulses liegen, im Verzicht darauf, eine eigene Position zu entwickeln und einen eigenen Sinn zu finden.
Diesen Eigensinn bewahren die Rebellen. Der Preis, den Rebell*innen zu zahlen gewärtig sein müssen, ist, dass es schwierig wird, sich in soziale Strukturen einzubringen, mit Autoritäten zurechtzukommen, sich in übergeordnete Sinnstrukturen einzubringen und es womöglich schwer damit haben, im sozialen Feld erfolgreich zu sein.

Was bringt eine Gesprächsgruppe?

Kriegsenkel sind aktuell zwischen fünfzig und fünfundsechzig Jahre alt. Sie haben ihre Leben bis hierher gemeistert, haben Berufe erlernt und üben sie noch aus, haben Beziehungen geführt und führen sie noch immer, Kinder wurden groß gezogen und die großen und kleinen Dramen eines Menschenlebens wurden kennengelernt.
Manche von ihnen kennen ungute Gefühle, kennen Situationen, die sie mit aller Kraft vermeiden wollen, kennen vielleicht auch Orte von Schmerz, von Unsicherheit, Angst, Scham oder Hass. In der Regel Gefühle, die nur oberflächlich erklärt werden können. Andere kennen auch hartnäckigere Störungen der Befindlichkeit, die in ihrer Ausprägung verschieden sein können, aber einen wiederkehrenden Charakter aufweisen.
Ein Grund dafür können die oben geschilderten Belastungen sein. Die Probleme, die in der Kindheit aufgenommen wurden, wurden immer nur abgewehrt und verdrängt, aber niemals bewusst gemacht und bearbeitet. Nicht selten gibt es so etwas wie ein Sprechverbot für schwierige Themen – nicht sprechen dürfen wird zu nicht sprechen können über das, was belastet. Die Erfahrung von kommunikativer Leere und emotionalem Vakuum sind wohl typisch für Kriegsenkelgeschichten.
Eine Gruppe bietet einen speziellen, geschützten Raum zum Sprechen an. Eine Gesprächsgruppe bietet eine Gelegenheit, der Sprachlosigkeit zu entrinnen, die Möglichkeit die eigene Geschichte erzählend kennenzulernen, und die fehlenden oder unklaren Teile davon zu identifizieren und auf diese Art Kohärenz und Verständnis für sich zu finden.

Wozu therapeutische Begleitung?

Betroffene Kriegsenkel*innen fühlen sich teilweise sehr verletzlich und je nach Geschichte können die mit ihr verbundenen Gefühle sehr heftig sein. Eine therapeutische Begleitung strukturiert und moderiert die Begegnung so, dass sie Schutz und Halt bieten kann.
Ein therapeutischer Blick kann auch dabei helfen, Verbindungen zu entdecken, Zusammenhänge zu sehen, die dem Erleben einen neuen Sinn geben, und so auch neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können.

Die Psychosomatik philosophiert über Empathie

Empathie und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.06.18 Von Prof. Dr. phil. Thiemo Breyer: „Empathie – Grundlagenforschung und ethische Konsequenzen“

Herr Breyer möchte uns einen Einblick in die Komplexität des Empathie Begriffs geben. Empathie ist gewissermaßen das Thema der Stunde in Psychologie, Psychotherapie, Soziologie und auch der Philosophie. Diskutiert wird sowohl darüber, was Empathie ist, wie sie zustande kommt, was das jeweils bedeuten kann und ob sich daraus ethische Konsequenzen ziehen lassen.

Einführung

Zum Einstieg erzählt uns Herr Breyer eine kleine Geschichte, die als Vignette für Empathie Themen dienen soll.

Nach einem frustrierenden Arbeitstag kommt ein Mann mürrisch auf eine Geburtstagsparty. Die festlich heitere Stimmung dort steckt ihn an und seine Frustration verschwindet – er freut sich mit seinem Freund, der Geburtstag hat. Dann wird auch noch gemeinsam das Geburtstagslied gesungen. Dabei fällt dem Gast auf, dass ein anderer Gast nicht mitsingt. Er spekuliert über die Gründe, für dieses Verhalten. Ist der Nicht-Sänger schüchtern, hat er schlechte Laune, kann er vielleicht nicht singen? Aber in diesem Moment beginnt ein schon angetrunkener Gast an, in sehr schräger Tonlage mitzusingen. Einige Gäste fangen an zu kichern und der Mann bekommt selbst auch einen kaum zu beruhigenden Kicheranfall. Dabei sieht er, dass die Gastgeberin offenbar betroffen über das Verhalten des Betrunkenen ist. Er schämt sich ein wenig für diesen und überlegt, ob er die Gastgeberin trösten soll.

Merkmale von Empathie

Aus dieser Geschichte lassen sich typische, für die Empathie relevante, Phänomene betrachten:

  1. Die affektive Resonanz, die in Stimmungen und Atmosphären auftritt
  1. Das Ausdrucksverstehen, die Mitfreude an der Freude des Jubilars
  1. Die leibliche Synchronisation, das gemeinsame Singen
  1. Die Mentalisierung, das Nachdenken über Gründe von anderen
  1. Die Gefühlsansteckung, unwillkürliches Mitkichern
  1. Die stellvertretende Emotion, die Fremdscham für den Betrunkenen
  1. Die Simulation, imaginatives Hineinversetzen in die Gastgeberin

Diese Dimensionen von Empathie lassen sich kategorisieren als:

leiblich-körperliche

  • Resonant (Synchronisierung)
  • Expressiv (Ausdrucksverstehen)

affektiv-emotionale

  • Partizipierend (Mitfreude, Mitleid)
  • Stellvertretend (Fremdscham)
  • Invertierend (Schadenfreude, Neid)

kognitive

  • Inferentiell (Theoretisierung)
  • Imaginativ (Transposition)

Theorien zur Empathie

Dieses breite Spektrum von Empathie wird von den wenigsten Theorien eingefangen. Die meisten gängigen Theorien versuchen, sie aus einem Teil des Spektrums abzuleiten und so zu erklären. Es gibt Theorien zu angeborenem bzw. erlerntem Empathie Verhalten. Dann gibt es Simulationstheorien, die neuronale oder imaginative Prozesse bevorzugen. Eine weitere Möglichkeit spielen Phänomenologische Theorien, die sich auf Zwischenleiblichkeit und Expressivität stützen. Ganz aktuell sind Narratologische Theorien sehr beliebt, die auf explizite Erzählungen oder narrativen Erfahrungen setzen.

Herr Breyer versucht auf phänomenologischem Weg (als wie die Dinge von sich her erscheinen) auf den Grund zu kommen. Dazu beschreibt er zunächst die Grenzen von empathischen Dimensionen er benennt diese folgendermaßen:

  • Die leibliche-körperliche Dimension findet ihre Grenzen in der Resonanzfähigkeit, und der Vertrautheit mit dem Ausdruckssinn
  • In der affektive-emotionalen Dimension bestehen Grenzen im Gemütszustand, der Haltung und der Verbundenheit.
  • In der kognitiven Dimension schließlich werden Grenzen durch die Lebenserfahrung, die Vorstellungskraft und das Denkvermögen gesetzt.

Empathie und Ethik

Damit kommt Herr Breyer zum zweiten Teil seines Vortrags, dem ethischen Diskurs.

Er fragt danach, wie äußere Faktoren die Grenzen der Empathie mit beeinflussen oder gar stören können. Als Beispiel nennt er totalitäre Religionssysteme, die auch ein affektives Regime ausbilden. Wie kann unter solchen Umständen die Empathie wachgehalten werden, wenn so starke Einflüsse auf sie einwirken.

Mögliche Einflüsse gibt es zahlreiche. So können Wissens- oder Glaubensinhalte (kognitive Ebene) auf die Mitleidsfähigkeit einwirken; Mimische oder gestische Synchronie (leiblich-körperliche Ebene) können das Mitgefühl und die Kommunikationsbereitschaft beeinflussen; ebenso können extreme Gefühle die Urteilsfähigkeit trüben – usw. usf.

Empathie und Philosophie

Es folgt ein Ausflug in die Philosophiegeschichte und diese beginnt mit den Erwägungen aus Max Schelers Werk: „Wesen und Formen der Sympathie“. Darin benennt Scheler vier Dimensionen von affektiv-emotionaler Empathie.

  • Die Gefühlsansteckung (dyadisch bis massenhaft)
  • Das Nachfühlen (Verstehen ohne Mitfühlen)
  • Das Mitfühlen (Teilen des Gefühls des Anderen)
  • Die Liebe und der Hass („geistige Gefühle“)

Natürlich hatte Scheler viele Vorgänger, die sich mit dem Thema befasst haben. Wir erfahren von Immanuel Kant, der in Mitfreude und Mitleid zwar sinnliche Gefühle sieht, diese aber so verwendet wissen will, dass sie zur Pflicht der Mitmenschlichkeit verwendet werden.

Arthur Schopenhauer, gewissermaßen der deutsche Pionier der Mitleidsethik, sieht im Mitleid bereits den Impuls zu helfen am Werk. Er möchte Mitleid als „wirkliche Basis“ von „freier Gerechtigkeit und echter Menschenliebe“ definieren.

Empathie im sozialen Sinn wurde von J.J. Rousseau betrachtet und sein ernüchternder Befund ist, dass das Mitgefühl mit der Entfernung abnimmt. Wohingegen Aristoteles feststellte, dass Leiden, das uns zu nahekommt, ebenfalls dem Mitgefühl abträglich sei. Aristoteles sieht im Mitgefühl eine Art Schmerz.

Eine andere Variante kommt aus der Stoa. Deren Vertreter Cicero befürwortet eine kühle Variante von Mitleid – natürlich ist es gut, den Leidenden zu helfen, aber mit-Leiden würde das Leid nur vergrößern und das erscheint unvernünftig.

Neuere Philosophie

Max Scheler kommt noch einmal zum Zuge. Er kam zu der Einsicht, dass Mitgefühl in all seinen Formen „prinzipiell wertblind“ ist, denn man könnte ja auch Mitfreude mit jemandem haben, der sich an seiner Bosheit erfreut.

Die zeitgenössische Forschung von z.B. Michael Tomasello versucht zu zeigen, dass Mitgefühl und Altruismus evolutionäre Entwicklungen und damit angeboren sind. Als Beleg sehen wir einen kleinen Film, in dem sehr kleine Kinder ziemlich tollpatschigen Erwachsenen spontan zur Hilfe kommen.

Die amerikanische Philosophin Marta Nussbaum stellt ernüchternd fest, dass Empathie zum Guten oder zum Bösen verwendet werden kann. Ihr Beispiel ist der Folterknecht, der sich seines Mitgefühls bedient, um möglichst große Schmerzen zuzufügen.

Empathie und Kognitionswissenschaft

Einen anderen kritischen Aspekt von Empathie sieht Fritz Breithaupt. Er stellt fest, dass mit der Empathie eine Parteinahme erfolgt, die durch Erzählstrategien legitimiert wird. Die Formen dieser Parteinahme können strategisch dem Eigennutz dienen. Das kann z.B. judikativ erfolgen, mit einer Beurteilung darüber ,wer Recht hat. Es funktioniert aber auch selbst-reflexiv, indem die eigene Position begründet wird. Dies führt ihn zu der Theorie, dass ein Mechanismus der Narration Empathie erlaubt und auch, dass Narration nur auf der Basis einer entwickelten Empathie Fähigkeit möglich ist.

Breithaupt hat auch sog. Empathie Blockaden erforscht. Er stellt fest, dass nicht alle Menschen auf narrative Empathie Angebote eingehen. Dies ist vom Bildungsgrad und der persönlichen Erfahrung abhängig. Weitere Einflüsse bestehen in der Situationsbedingtheit, z.B. in Schuldzuweisungen, sonstigen Attributionen und Gruppenzugehörigkeiten.

Strategien um Empathie Blockaden zu rechtfertigen wären z.B. die Rückwendung der Empathie auf sich selbst: >Ich habe so gelitten, als ich dieses Unrecht begehen musste< oder noch perfider, die Strategie der Dehumanisierung des Anderen: >das ist gar kein richtiger Mensch<. Damit kommt Herr Breyer zum Resümee seines Vortrags.

Fazit

  • Es gibt eine Vielzahl von Empathie Konzepten und –Definitionen
  • Die phänomenologische Struktur von Empathie ist leiblich, affektiv und kognitiv
  • Auf jeder Ebene kann Empathie auch begrenzt sein
  • Es gibt eine Vielzahl von Bewertungen von Empathie in ethisch-moralischer Hinsicht (positiv wie negativ)
  • Es gibt relevante Wechselwirkungen zwischen den Ebenen
  • Relevant ist auch der Umgang mit Empathie
  • Es lässt sich ein antagonistisches Wechselspiel von prosozialen und antisozialen, altruistischen und egoistischen Tendenzen feststellen
  • Empathie entwickelt ihr Sein in einem Spannungsfeld von kooperativen und kompetitiven Strategien
  • Es gibt eine Strukturanalogie zwischen dem ethischen Problem der Empathie und der menschlichen Freiheit allgemein
  • Empathie zu kultivieren ist eine mögliche Emanzipation. Perspektivenflexibilität istr besser als Solipsismus.

Am Ende des Vortrags fühle ich mich etwas erschlagen von der Fülle von Informationen.