Die Psychosomatik erkundet Empathie und Achtsamkeit

Empathie und Achtsamkeit

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Philipp Kanske, Prof. Dr. rer. nat., Klinische Psychologie und Behaviorale Neurowissenschaft, TU Dresden

Einführung

Empathie und Achtsamkeit sind die Themen der Stunde in der Psychotherapie und der Neuro-Psychotherapie. Der Untertitel des Vortrags lautet: „Psychopathologie und Training des sozialen Gehirns“. Er stimmt uns auf den Schwerpunkt der Forschung von Herrn Kanske ein.
Warum beschäftigt sich die Forschung mit diesen Themen? Weil die kognitiven Prozesse in sozialen Interaktionen höchst komplex sind. „Wie können wir einander überhaupt verstehen?“ Wäre eine weitere Frage, und eine Teilantwort darauf lautet: „Theory of Mind (ToM)“. Dieser Begriff umschreibt die Fähigkeit, dass Menschen, etwa ab dem vierten Lebensjahr, imstande sind, sich vorzustellen, dass andere Menschen einen eigenen Gesichtspunkt, eigene Gedanken, Absichten und Wünsche haben, wie man selbst. Diese Fähigkeit wird gerne auch als „soziales Gehirn“ bezeichnet.

Soziale Integration

Soziale Integration ist eine zentrale Quelle von Resilienz, denn ohne sie drohen Einsamkeit, der Verlust sozialer Unterstützung und das Risiko zu sterben erhöht sich messbar. So ist der Verlust von sozialer Teilhabe für das Leben riskanter, als z. B. zu rauchen. Und, vielleicht überraschend, es sind die kleinen Begegnungen des Alltags, wie der Nachbar mit dem Hund, die Briefträgerin, die Verkäufer*innen, die einen grüßen und denen man zulächelt, die einen noch stärken positiven Einfluss haben, als die familiären Kontakte.
Das Institut von Herrn Kanske hat dazu in der aktuellen Corona Situation geforscht. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen waren deutlich mehr von den Folgen des Lockdowns betroffen, als Menschen ohne Vorerkrankung. Der Stress, der von sozialer Isolation induziert wird, wirkt sich dabei auch subjektiv aus. Die empfundene soziale Isolation, die nicht mit der tatsächlichen Anzahl der Kontakte übereinstimmen muss, wirkt pathogen. Sie kann sogar dazu führen, dass Menschen sich empathisch unverbunden erleben.

Empathie

Was wir unter „Empathie“ verstehen, hat eine große Bandbreite. Es geht um solche Aspekte wie: Einfühlungsvermögen, soziale Motivation, Perspektivwechsel (ToM), Sozialverhalten, Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Personenerkennung, Bindung, Gesichtswahrnehmung. Herr Kanske hat daraus das Einfühlungsvermögen, das Mitgefühl und den Perspektivwechsel ausgewählt, um sie näher zu erforschen.
Was er herausbekommen möchte, ist, wie sich soziale Kognition und Emotion, bestehend aus Empathie und Mitgefühl (positive Gefühle) sowie der ToM im weiteren auf das Sozialverhalten auswirken.

Neuronale Befunde

Für solche Forschungen wird heute gerne ein „Scanner“ in Anspruch genommen, denn nur so können Hinweise darauf gefunden werden, welche neuronalen Strukturen die Grundlagen für Mitgefühl darstellen. Die Proband*innen liegen also in der Röhre und sehen einen kleinen Film. Darin berichtet ein Mensch von einem Vorfall – einmal eher neutral und das andere Mal eher emotional. Danach werden die Proband*innen befragt. Zunächst zu ihrer Stimmung, danach, ob sie Mitgefühl empfinden und dann noch, ob sie die Perspektive der Erzähler*in nachvollziehen können.
Da solche Forschungen schon seit längerer Zeit betrieben werden, war das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. Die Gehirnstruktur, die bei Stimmungen eine zentrale Rolle spielt, ist die „Insula“. Interessanterweise korreliert die Aktivität der Insel allerdings nicht unbedingt mit der subjektiven Wahrnehmung. Sie kann hohe Aktivität aufweisen, ohne dass der Betreffende eine große Stimmungsänderung wahrnehmen kann.
Das positive Mitgefühl (compassion) braucht das „Striatum“ für sein Erscheinen. Es hat bekanntermaßen mit Fürsorgeverhalten zu tun, ebenso mit Belohnung und lernen. Das positive Mitgefühl unterscheidet sich also auch auf neuronaler Ebene von der Gestimmtheit.
Bei der Untersuchung zu Fragen der ToM stellte sich heraus, dass hier insbesondere der tempoparietale Übergang eine wichtige Rolle spielt. Diese Region scheint eine Art „Generalfaktor der sozialen Intelligenz“ zu sein.

Zusammenhänge

Haben nun Stimmung, Mitgefühl und ToM etwas miteinander zu tun? Bedeutet gutes Einfühlungsvermögen auch gutes Eindenkvermögen? Nein! Es zeigen sich keine Korrelationen zwischen diesen beiden Vermögen. Aber um das noch genauer zu überprüfen, hat das Institut von Herrn Kanske eine große Metaanalyse zur sozialen Neuroforschung durchgeführt.
Das Ergebnis zeigt, dass es eine ganze Reihe von Testaufgaben für die Erforschung der Empathie, als auch der Erforschung der ToM gibt. Es gibt aber auch noch einen Zwischenbereich, der sich nicht so eindeutig zuordnen lässt. In diesem Bereich zeigen sich Verbindungen von Gehirnstrukturen, die sonst eher selten miteinander interagieren. Hier findet sich auch am ehesten eine negative Korrelation zwischen Mitgefühl und ToM, wenn ich nämlich mit dem einen beschäftigt bin, rückt das andere eher in den Hintergrund. Gerade komplexe Aufgabenstellung werden auch komplex verarbeitet. Hier steht die Forschung noch ziemlich am Anfang.
Die Hoffnung besteht, dass auf diese Art auch psychische Störungen besser verstanden werden können, denn bei vielen psychischen Störungen sind es genau die Fähigkeiten der ToM und der Empatie, die beeinträchtigt sind.

Soziales Verhalten

Um einen Einblick in den Zusammenhang von Empathie und Sozialverhalten zu bekommen, wurde dem experimentellen Setting eine weitere Frage hinzugefügt, nämlich: Ob die Proband*in bereit wäre, der Person in dem Film zu helfen. Und ja, der Wille zu helfen war zunächst eindeutig stärker, wenn die Geschichte emotional erzählt wurde. Die ToM hatte allerdings kaum einen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft.
Ein weiterer Test war ein „Spendenspiel“. Es ging darum von geschenkten fünfzig Euro etwas an eine gemeinnützige Organisation zu spenden. Viele Spenden wurden gesammelt und die Befragung danach versuchte herauszufinden, ob empathische Gründe oder Perspektivgründe für das Spenden eine Rolle gespielt haben. Diese Experimente wurden dann auch für Vorhersagen geprüft, und tatsächlich kann man mit einem vorhergehenden Scan der Affektivität zu gut 60 % vorhersagen, ob der Proband spenden wird.
Nun kommt noch ein kleiner Exkurs. Im Rahmen der obengenannten Experimente wurde eine kleine Variation vorgenommen. Die Proband*innen bekamen neutrale oder emotionale Musik eingespielt. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass emotionale Musik das Mitgefühl verstärkt, was aber nicht der Fall war, wenn die Geschichte neutral erzählt wurde. Auf die ToM hatte die Musik keinen Einfluss.

Achtsamkeit & Co

Herr Kanske hat auch im Team von Tanja Singer mitgearbeitet, die die Effekte von Achtsamkeit erforscht hat und weiter erforscht. Worum geht es? Es gibt drei Arten von Trainingsmodulen, das sind: Präsenz, Affektivität und Perspektive. Präsenz umfasst die Aufmerksamkeit, innere Achtsamkeit, auf den Atem und den Körper zu spüren. Affekt umfasst Mitgefühl, prosoziale Motivation, Akzeptanz von Gefühlen. Das wurde mit Freundlichkeits- und Mitgefühlsmeditationen geübt und in einer Partnerübung als Erzählung über alltägliche Schwierigkeiten und Dankbarkeit. Das Perspektivmodul umfasst die Metakognition (denken über Gedanken), eigene und andere Perspektiven zu erfassen. Als Übung dafür ist die Meditation der Beobachtung der eigenen Gedanken geeignet und das Modell der „Inneren Familie“. Darin kommen verschiedene „Familienmitglieder“ zu Wort, wenn es um irgendein Thema geht. Ein Proband erzählt einem anderen eine Wortmeldung und dieser darf erraten, um welches Familienmitglied es sich handelt.

Training

Insgesamt dauert so ein Training länger als ein Jahr. Nach einem Retreat zur Einstimmung werden die Gruppen geteilt. Beide Gruppen beginnen mit Präsenzübungen, aber dann macht eine Gruppe mit Affektivität weiter und die andere mit Perspektive, die andere Gruppe in umgekehrter Reihenfolge. Dazu gab es noch eine Kontrollgruppe, die gar nichts trainiert hat.
Bei der Nachuntersuchung wurde umfangreich ermittelt, welche Veränderungen sich ergeben haben. Als Ergebnis zeigte sich, dass Mitgefühl vor allem nach dem Affektmodul angestiegen ist, und dass sich die Fähigkeit der ToM vor allem nach dem Perspektivmodul gesteigert hat. Aber es gab nicht nur diese relativ weichen Ergebnisse, sogar in der Gehirnstruktur wurden Veränderungen festgestellt. Die „Corticale Dicke“ also die Zellen der Hirnrinde haben sich vermehrt und zwar entsprechend den Bereichen, von denen wir schon weiter oben gehört haben – also z.B. die Insel, wenn es um Empathie geht.

Selbstberichtetes Sozialverhalten

Natürlich wurden die Proband*innen auch mit Spielen getestet. Sie zeigten vermehrt Altruismus, Großzügigkeit, Vertrauen und Hilfsbereitschaft. Reziprozität stieg allerdings nur durch das Affektmodul an. Wurden allerdings die Selbstbeschreibung mit den tatsächlichen prosozialen Verhalten verglichen zeigten sich Abweichungen. Die Menschen handelten nicht so nobel, wie sie selbst von sich glaubten.

Psychosozialer Stress

Stress wird gerne mit dem „Trierer Stresstest“ gemessen, der aus einer unerfreulichen Prüfungssituation besteht. Es zeigte sich, dass das reine Präsenztraining keinen Effekt auf den Stresslevel hat. Aber das gesamte Training war durchaus in der Lage, den Stress zu lindern.

Subklinische Veränderungen

Alle Proband*innen waren psychische gesunde Menschen. Aber auch solche Menschen zeigen in Tests subklinische Anzeichen wie z. B. Depressivität, Ängstlichkeit, Narzissmus, Einsamkeit etc. Die Frage war nun, ob sich hier nach dem Training eine Veränderung eingestellt hat. Das lies sich spezifisch nicht ermitteln, aber über die Summe der festgestellten Veränderungen konnte man immerhin aussagen, dass ein Training absolviert worden war.
Bei noch genauerer Auswertung wollten die Forscher*innen anhand der Testveränderungen vorhersagen, ob der Betreffende z.B. ein Affekt- oder ein Präsenzmodul absolviert hat und hier ergab sich ein positives Ergebnis. So ergaben sich spezielle Cluster, die zeigten für welche Bereiche, welches Modul am hilfreichsten ist. So hilft Affekt Training z.B. für Kardiovaskuläre Problem oder auch Ängstlichkeit; Perspektivtraining ist u.a. hilfreich für die Stresswahrnehmung, und Präsenz Training hilft bei Unsicherheit.

Fazit

Herr Kanske fasst zusammen: Empathie, Mitgefühl und ToM sind unterschiedliche Aspekte der sozialen Kognition und Emotion. Es ist möglich, diese Fähigkeiten gezielt „anzusteuern“ und einzuüben. Betroffene können so von ihren neuen Fähigkeiten profitieren, dass sie über ein verändertes Sozialverhalten neue soziale Situationen mitkreieren, die wiederum die erworbenen Veränderungen weiter unterstützen.
Den ganzen Vortrag kann man sich hier anhören.

Die Psychosomatik enttarnt „Neuromythen“

Neuroforschung und Bildgebung

Bericht vom Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ vom 22.01.19  von Felix Hasler: „Neuromythologie“

Willkommen im Neurozeitalter

Herr Hasler beginnt seinen Vortrag mit der Behauptung, dass wir uns nicht mehr nur im „Neurozeitalter“ befinden, sondern zu „Neuroessenzialisten“ geworden sind. Begriffe wie: „Cerebral subjects“, „Homo cerebralis“ oder „Neurochemical selves“ stehen dafür ein. Buchtitel mit dem „Brain“, bzw. „Gehirn“ im Titel überfluten den Buchmarkt und erläutern uns das „Weibliche Gehirn“, den „Gehirn Sex“, das „Gehirn basierte Lernen“ u.v.m.
Alle diese Veröffentlichungen spielen mit der Vorstellung, dass durch Abbildungen der Biomasse im Schädel, das Verhalten des Schädelbesitzers vorhergesagt werden könnte. Tatsächlich gibt es inzwischen Lehrstühle für „Neuro-Psychoanalyse“ und „Neuro-Forensik“. Hinter den Veröffentlichungen und Aktivitäten steht die Autorität strenger Wissenschaftlichkeit, das Versprechen durch Neurowissenschaft das Wesen des Menschen ergründen zu können.
Als Beispiel zitiert Herr Hasler aus einem Buch über Neuro-Didaktik. Die Passagen enthüllen nichts Neues über das Lehren und Lernen, als schon z.B. Johann Pestalozzi wusste. Aber das schadet dem Neuroenthusiasmus nicht weiter. Die Vorsilbe „Neuro-“ lässt sich vor jegliche Wissenschaftsdisziplin stellen und suggeriert dann Wissenschaft auf dem neuesten Stand der Technik.

Das neue Zeitalter ist schön bunt

Die Vorzeigetechnik der Neurowissenschaft sind die bildgebenden Verfahren (fMRE, PET, MRT). Sie garantieren die wunderbar bunten Bilder, die suggerieren, dass der Betrachter dem Gehirn beim Denke zusehen kann. Das ist allerdings eine Illusion. Die Bilder entstehen durch statistische Rechenverfahren, die bestimmten Veränderungen, z.B. der Durchblutung, einen Zahlen-, bzw. Farbwert zuordnen. Der Wissenschaftler muss sich an zahlreichen Stellen dafür entscheiden, welchen Rechenweg er einschlägt, aber jeder Rechenweg führt zu einem anderen Bild. Daher rührt auch der Effekt, dass sich kaum eine bildgebende Studie replizieren lassen kann. Dies gilt insbesondere wenn höhere kognitive Funktionen wie moralische Entscheidungen oder Kunstgenuss erforscht werden sollen.
Als Beispiel präsentiert uns Herr Hasler eine Studie zur „romantischen Liebe“. Aus der Versuchsanordnung mit Bildern des geliebten Menschen und dazwischen gestreute neutrale Bildern entstehen dann Abbildungen, die insbesondere den ACC (Anteriorer Cingulärer Cortex) hell erleuchtet darstellen. Allerdings leuchtet der auch bei amerikanischen Wählern von Hillary Clinton, beim Genuss eines Schoko-Milchshakes oder wenn Vegetarier Bilder von Tierquälerei sehen usw. usf.

Geschichte und öffentliche Darstellung

Nun geht Herr Hasler ein wenig auf die Geschichte und die öffentliche Wahrnehmung des „Neuro-Imaging“ ein. Um die Jahrtausendwende waren zahlreiche Forscher geradezu euphorisch, was die Möglichkeiten der neuen Verfahren anging. Zahlreiche Zeitschriften präsentierten Bilder aus verschiedenen Studien, die angeblich belegen sollten, wie die Gehirne bei Schizophrenie oder Depression im PET aussehen.
Führende Wissenschaftler schwärmten kurz nach der Jahrhundertwende von den neuen Möglichkeiten. Aber nach nur zehn Jahren war die Euphorie verflogen. Weder wurde ein neues Verständnis von Krankheitsentstehung und –Verlauf gewonnen, noch wurden neue Medikamente entdeckt.
Dennoch hatte dieser Hype Auswirkungen auf die Psychiatrie selbst. Seither dominiert ein blinder Materialismus, für den eine Depression nur noch eine Transmitterstörung darstellt. Alle diagnostischen und therapeutischen Zugänge sollen über neuronale, bzw. genetische Faktoren validiert werden. Ungeheure Geldmittel wurden (und werden) für dieses Ziel aufgewendet. Der wahre Preis dafür ist aber die Vernachlässigung von Beziehungen (siehe Beitrag von letzter Woche).
In einer Zeitschrift mit dem Namen „Molecular Psychiatry“ finden sich dann solche wunderbaren Befunde wie: „mTORC1-abhängige Translation von Collapsin antwortet auf das Mediator Protein-2, das unterstützt neuronale Adaptionen, die exzessiven Alkoholkonsum unterstützen.“ „Molecular Psychiatry“ war jahrelang die meistgelesene Fachzeitschrift (!).

Die Rolle der Pharmahersteller

Nun kommt Herr Hasler noch auf die Rolle der Pharmaindustrie zu sprechen. Bemerkenswerterweise übertrifft in den USA die Zahl der Psychopharmaka Nutzer inzwischen die der Raucher. Die Pharmaindustrie hat ein Interesse an bildgebenden Verfahren, da sie eben suggerieren, dass da ein „Defekt“ vorhanden sei, der mit Pharmazeutika beseitigt werden können. Eine Art Analogie z.B. zu Diabetes.
Gleichzeitig stellt die Pharmaindustrie die Produktion zahlreicher Medikamente ein und ebenso die Forschung für neue Produkte. Tatsächlich sind alle (!) geläufigen Psychopharmaka Zufallsfunde. Ihre Wirkung ist alles andere als krankheitsspezifisch. Die heute vermittelte Spezifität wurde allein dadurch erreicht, dass Krankheiten neue Benennungen erhalten haben. „Wenn man kein Medikament für eine Krankheit findet, kann man ja eine Krankheit für ein Medikament erfinden.“

Weitere Probleme des Neuroimaging

Herr Hasler nähert sich dem Ende seines Vortrags und präsentiert eine Meta-Analyse von Meta-Analysen zu Unipolarer Depression. Diese kommt zum Befund, dass keinerlei (!) replizierbare Effekte in den Studien zu finden sind. Zwischen somatischer Erkrankung und psychiatrischen Diagnosen scheint ein qualitativer Abgrund zu liegen. Die Psychiatrie steht so vor der Frage, ob sie ihre (willkürlichen) Diagnosen aufgeben will oder das Gehirn. Offenbar hat sie sich zum Ersteren entschlossen und beginnt gigantische Listen/Tabellen zu erstellen, in denen alle möglichen Transmitter, synaptische Aktivitäten, Hormone etc. aufgezählt sind.

Was ist normal?

Einige weitere Probleme der Psychodiagnostik liegen in den Schlussfolgerungen, die aus der Tierforschung auf den Menschen übertragen werden. Ebenso die biologische Variabilität von Lebewesen, denn in jeder untersuchten Gruppe finden sich Abweichungen von einer Norm. Wie üblich gibt es nur „Glockenkurven“, bei denen bestimmte Bereiche als pathologisch definiert werden. Wie weit das gehen kann demonstriert uns Herr Hasler mit Röntgenaufnahmen eines Kindes, dem eine Hirnhälfte entfernt werden musste, das aber keinerlei Auffälligkeiten zeigt (Neuroplastizität). Eine weitere Aufnahme ist ein Zufallsbefund. Sie zeigt den Schädel eines Angestellten, dessen Schädel tatsächlich so gut wie leer ist. Auch er zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Noch ein weiteres Problem besteht darin, dass mit jeder neuen Entdeckung/Darstellung die Komplexität des Geschehens noch größer wird.
Aber unverdrossen verfolgen führende Psychiater weiterhin den Weg der materialistischen Diagnose und Therapie. Weiterhin werden Unsummen für solche Projekte mobilisiert (z.B. das Human Brain Project).

Ausblick

Herr Hasler stellt fest: Ein Gehirn kann nicht depressiv sein, es sind Menschen die an einer Depression leiden. Die akademische Psychiatrie hat ein Eigenleben entwickelt, das sie von den Patienten mehr und mehr entfernt. Er fordert ein Zurück zu den sozialen Modellen von Pathogenese und Therapie.
Die Zukunft der Psychiatrie sieht er als digital und nicht neurologisch – es geht um Telepsychiatrie, Apps, Videokonferenzen. Die Patient-Therapeut-Beziehung muss sich wieder ändern. Es braucht mobile Kriseninterventionsteams, statt stationären Behandlungen, Dialog-basierte Programme und einen neuen Pragmatismus: Was hilft wirklich in der Praxis?