Die Psychosomatik erkundet Beziehungen zwischen Musizierenden und ihren Instrumenten

In Beziehung zu einem Instrument

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
Vortrag von Karin Nohr
Dr. phil., Schriftstellerin, Psychoanalytikerin, Gründungsmitglied
der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik e.V.,
Berlin

Zwilling, Schatten, Partner, Feind

Zur „Beziehung“ zwischen Musizierenden und ihren Instrumenten

Wie wohltuend! Ein Thema wie aus einer „guten alten Zeit“. Nicht Corona, nicht Klima, sondern eine Forschungsarbeit, die sich mit nicht ganz alltäglichen Beziehungen befasst und uns etwas über das „Mensch-Sein“ aufzeigen kann.

Persönlicher Zugang

Frau Nohr informiert uns darüber, dass sie inzwischen hauptsächlich Romane schreibt. Anlässlich des Vortrags hat sie ihre, inzwischen 30 Jahre alte Untersuchung, noch einmal betrachtet. Sie möchte uns davon berichten, wie sich Musizierende ihren Instrumenten annähern und wie sie zum Instrument kamen. Sie fragt sich heute, was davon für Musizierende noch relevant sein könnte, und was sie heute anders machen würde.
Aber zunächst berichtet sie von ihrem eigenen Weg zu dieser Forschung, wobei auch ihre musikalische Karriere eine Rolle spielt. Dieser Weg führte sie vom Cello (neuntes Lebensjahr) zur Querflöte und weiter zum immer noch aktuellen Gesang.
Der Konflikt mit ihrem ersten Instrument, die „Hass-Liebe“, die sie dazu entwickelte, erklärt sie mit einem Erlebnis. Sie hatte ein Cello Konzert gehört, und war tief von dem Klang beeindruckt, den einer der beiden Spieler dem Instrument entlockt hatte. Sie berichtete ihrem Lehrer davon und vom Wunsch, ebenfalls solche Töne zu erzeugen. Der Lehrer erwiderte etwas trocken: „Ja, ja, aber erst einmal über wir Tonleitern.“ Auf der Beziehungsebene empfand sie das als „kalte Dusche“ und diese Ambivalenz übertrug sie auf das Instrument.
Während ihrer Studienzeit vernachlässigte sie die Musik und erst in ihrer Lehranalyse hatte sie einen Traum. Sie spielt mit einer anderen Frau Querflöte, aber es gelingt ihr nicht, der Flöte Töne zu erzeugen. Sie überprüft die Flöte und entdeckt, dass diese, voller Wolle steckt. Der Gedanke an die strickende Mutter lag nahe. Und der nächste Gedanke war, dass sie nun vielleicht wieder musizieren könnte. So begannen ihre Querflötenkarriere und ihr Interesse an der Beziehung von Musizierenden zu ihren Instrumenten.

Forschungsmethoden und -Ergebnisse

Ihre Herausforderung als Forscherin war: Wie könnte sie sich auf wissenschaftliche Art, also nachprüfbar, sachlich und interdisziplinär, diesem Thema annähern? Es lag nahe, dass die Psychologie, die ja auch eine Wissenschaft der Beziehungen ist, eine Rolle spielen muss. Allerdings lag weder aus der Psychologie, noch aus der Musikwissenschaft und -Geschichte etwas Solides zum Thema vor.
Sie entschied sich dazu, eine qualitative Textanalyse von Autobiografien berühmter Künstler zu machen. Dafür studierte sie 41 Bücher. Ihre Forschung enthüllte ihr vier Arten, wie diese Musiker (es waren übrigens alles Männer) zu ihrem Instrument kamen. Die Art des Beginns bestimmt nämlich die Beziehung zum Instrument mit, so Frau Nohr.
Das erste Muster nennt sie „Übernahme“. Bereits die Eltern, oder ein Elter, spielten das Instrument und das Kind wächst gewissermaßen in die Beziehung hinein – „nimmt es mit der Muttermilch auf“.
Das zweite Muster nennt sie „Übergabe“. Die Eltern drängen das Kind zu einem Instrument. Hieraus entwickelt sich nicht selten eine ambivalente Beziehung, denn die Aufgabe steht im Konflikt mit der Autonomieentwicklung des Kindes. Dieses kann der Ärger auf die Eltern dann durchaus auf das Instrument verschieben.
Ein drittes Muster nennt sie „Suche“ oder auch „der überraschende Fund“. Es ist geprägt von Begegnungen mit dem Instrument, die als „himmlisch, paradiesische Erfahrung“ geschildert wird. Die Vortragende vermutet Anklänge an eine vorsprachliche Zeit und der Assoziation mit der mütterlichen Stimme.
Das vierte Muster schließlich, nennt sie „Beliebig“. Es zeichnet sich durch ein unpersönliches, sachliches Verhältnis zum Instrument aus. Trotzdem mag auch in diesem Muster eine Verheißung stecken, denn das Instrument zu finden, betrifft immer mehr als nur das Instrument.

Beziehungsgestaltungen

Viele Instrumentalisten leiden an der Beziehung zu ihrem Instrument. Das liegt nicht nur am Instrument, sondern vor allem am stressigen Umfeld, in dem Profis leben müssen – Reisen, Termine, Kritiken u.v.m. macht ihnen das Musikerleben oft schwer.
Der Aufbruch in ein solches Leben ist oft von wichtigen Beziehungsbotschaften gefärbt. Eltern oder Lehrer prophezeien dem Kind eine große Karriere, legen mitunter Gelübde ab, das Kind zum Erfolg zu führen. Solche Botschaften sind wichtig für die Identitätsentwicklung, sie beflügeln die Fantasie und entwickeln sich zum Lebensprojekt des Kindes.
Häufig auch findet sich der Fall, dass eine engagierte Mutter den Ausschlag gab. Der ganze spätere Erfolg ist ihr zu verdanken. Diese Konstellation bringt die Gefahr von Schuldgefühlen mit sich. Wie könnte ein solcher Einsatz auch vergolten werden können?
Aber nicht wenige Musiker nutzen das Instrument auch als Alibi, um sich zurückziehen zu können. Das Instrument wird zum Werkzeug der Nähe-Distanz-Regulation. Es dient als Versteck bei drohenden Konflikten.
Die vielleicht gelungenste Beziehungserfahrung liegt wohl im Glücksgefühl des Muszierens an sich. Erfülltes Musizieren bewirkt eine Art Metamorphose, es führt zu einer Verschmelzung von Musiker und Instrument – eine gelungene Gestalt von sinnlich-geistiger Existenzerfahrung. Das Körperschema verändert sich. Der Musiker empfindet sich als Teil eines höheren und schönen Ganzen. Die psychische Erfahrung weist Qualitäten eines Flow-Zustands auf.
Auch hier vermutet Frau Nohr Anklänge an frühkindliche, vorsprachliche Körperzustände. Es ist ein Lustgefühl, zu musizieren.

Partnermuster

Aus den Schilderungen der Musiker, wie sie ihr Instrument sehen, zeichnen sich wiederum vier Muster ab.
Vor allem von Geigern ist bekannt, dass sie ihrem Instrument eine eigene Individualität zuschreiben. Frau Nohr vermutet projektive Vorgänge dahinter. Das Instrument hat seine Launen, manchmal hat es keine Lust zu klingen.
Eine andere Möglichkeit unterstellt dem Instrument einen eigenen Willen. Es stellt gewissermaßen ein anderes Ich dar, einen positiven Doppelgänger. Frau Nohr vermutet, dass hier Selbstanteile auf das Instrument projiziert werden.
Noch eine Möglichkeit umschreibt sie, angelehnt an C.G. Jung, mit dem Begriff des „Schattens“. In diesem Fall vermutet sie, dass negative Selbstanteile projiziert werden.
Eher selten gibt es auch eine ausgesprochen feindselige Beziehung zum Instrument. Es wird zu einem „überdeterminierten Gegenstand“, der die Projektionen des Künstlers aufnehmen soll.
Im besten Fall, so Frau Nohr, wird das Instrument als „Erbe der mütterlichen Stimme“ zu positiven Identifikationen führen. Musizieren kann zu Glückszuständen führen, und zwar auch bei Laienmusikant*innen.

Anregungen und Resümee

Das Verhältnis von Musizierenden zu ihren Instrumenten erlaubt Rückschlüsse auf die Psyche der Beteiligten. Ein häufiges psychisches Phänomen ist der Verlust der Spielfreude. Das kann verschiedene Ursachen haben. Die Erwartungen an das musizierende Kind können zu hoch sein; die Eltern glauben nicht wirklich an die musikalischen Fähigkeiten des Kinds; das Kind hat keine musikalischen Vorbilder; die Erwartungen sind hoch, aber die Förderung lässt zu wünschen übrig; es wird zu viel geübt.
Beziehungen sind sehr komplex. Deshalb empfiehlt Frau Nohr Eltern, die ihren Kindern Instrumente schenken wollen, zunächst über sich selbst und seine Motive nachzudenken. Denn, beim Instrumente schenken zeigt der Schenker viel von sich selbst, er/sie schenkt gewissermaßen einen Teil von sich selbst.
Damit hat sie ihre Forschungsergebnisse und Schlussfolgerungen vorgetragen. Würde sie diese Forschung heute wieder aufnehmen, würde sie vor allem Frauen mit aufnehmen. Sie würde sich Gedanken darüber machen, was „passen“ eigentlich bedeutet. Ebenso würde sie der Verinnerlichung von Beziehungsprozessen mehr Aufmerksamkeit schenken, und als Forschungsparadigma würde sie Gespräche verwenden.

Die Psychosomatik erkundet die Klimakrise

Klimakrise und Psyche

Bericht vom Dienstagskolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von Prof. Dr. med. Christoph Nikendei, leitender Oberarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikums Heidelberg:       „Klima, Psyche und Psychotherapie“

Mein zweiter gestreamter Vortrag. Ich sitze gemütlich auf meinem Stuhl, Modell „Sorgenfrei“, in der Küche und bin gespannt. Ich mag vorwegnehmen, dass dies ein sehr umfangreicher Bericht ist. Wer sich den Vortrag ganz anhören/sehen mag, sei auf diesen Link verwiesen.

Einführung

Herr Nikendei beginnt mit der neurowissenschaftlichen Erkenntnis, dass wir nur 100 Millisekunden brauchen um uns ein Bild von jemandem zu machen und er fordert uns auf, während des Vortrags in uns hineinzuspüren, zu beobachten, wie es uns mit seinem Input geht.
Er beginnt, für mich überraschend, mit Prof. Jem Bendell, dessen Aufsatz „Deep Adaptation“ von Fachjournalen abgelehnt wurde. Dann aber trotzdem eine große Aufmerksamkeit erfahren hat. Bendell prophezeit darin, dass die bekannte soziale Ordnung binnen zehn Jahren zusammenbrechen wird (jetzt noch acht Jahre).
Dieser Aufsatz hat auch in der Fachwelt für großes Entsetzen gesorgt. Eine Kollegin nannte ihn: „sadistisch, esoterisch-ausweichend, im Apokalypse-Rausch befindend, angriffslustig, moralisierend, reißerisch-aggressiv, verwirrt, radikalisiert, aber später dann doch, vielleicht doch nicht von der Realität abgewandt.“

Auswirkungen

Der Aufsatz verursachte einen Schock über die Massivität der Auswirkungen und der zeitlichen Nähe, der kommenden Ereignisse. Dieser führt in einen Zustand der Gespaltenheit und Verwirrtheit. So ein Zustand induziert eine psychische Abwehr, die den Inhalt diskreditiert und entwertet, es entsteht der Wunsch, das Thema Ad-Acta legen zu wollen.
Ein aktuelles Problem, das die Diskussion ums Klima erschwert ist natürlich die Corona Situation. Herr Nikendei meint dazu: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, die Klimakrise verschwindet nicht, auch wenn Corona ihr gerade die Schau stiehlt. Er demonstriert das mit der CO2 Uhr, die uns darüber informiert, wie lange wir noch die Atmosphäre mit CO2 belasten können, wenn wir das 1,5° Ziel erreichen wollen. Beim derzeitigen Ausstoß werden wir in sieben Jahren unser Budget (von dem Bendell behauptet, dass es gar nicht existiere) aufgebraucht haben.

Persönlicher Zugang

Das war aber nur die Einführung. Wir erfahren nun etwas zur Tradition der Psychosomatik in Heidelberg und den persönlichen Hintergrund von Herrn Nikendei, wie er zur Psychosomatik und seinen Themen gekommen ist. Wir sehen Fotos von einem ertrunkenen Kind (Alan Kurdi) und dem Kind des Vortragenden. Vor diesem Hintergrund wurde für Herrn Nikendei die Frage drängend:

„Welche Art von Welt, geben wir an unsere Kinder weiter?“

Er benennt einige seiner Quellen für „kluge Gedanken“. Sie stammen von Philosoph*innen und Soziolog*innen zum Klimawandel, die er auch in diesem Vortrag verwenden will. Jetzt bekommen wir die Struktur des Vortrags genannt:

  • Klimawandel und Kognitions-/Sozialpsychologie
  • Tiefenpsychologie, Psychotraumatologie
  • psychische Aspekt
  • Klimawandel was nun?

Klimawandel und Kognitions- Sozialpsychologie

Der Sachstand

Aber zunächst gibt es noch einige Informationen zum aktuellen Sachstand. Dieser ist bereits einigermaßen alarmierend, wie das Potsdamer Klimainstitut feststellen muss. So sind die Bereiche Erwärmung, Artenvielfalt und Nitratzyklus bereits massiv aus dem Gleichgewicht geraten. Dass z.B. das Erdklima bereits um über 1° C zugenommen hat, wird zwar inzwischen weitgehend anerkannt, aber dass der Mensch die Ursache dieser Erwärmung ist, wird fast ebenso weitgehend bestritten.
Auf dem derzeitigen Entwicklungspfad laufen wir auf eine Erwärmung von etwa 4° C zu (Hochrisikoszenario). Das würde dazu führen, dass z.B. Nordindien unbewohnbar werden würde – Djakarta in Indonesien ist jetzt schon dabei, sich von der Küste wegzubauen, denn der Meeresspiegel wird weiter ansteigen und in einigen Jahren dramatisch ansteigen. Weitere Folgen wären geschätzte 140 Millionen Menschen, die die Flucht ergreifen müssten – doppelt so viele wie im Moment; und bis zu 40 % aller Tierarten würden vermutlich aussterben.

Information genügt nicht

Die Zahlen zum CO2 Eintrag in die Atmosphäre sind gewaltig – um sich zu veranschaulichen, was sich ändern müsste, mag die Zahl genügen, dass deutsche Bürger*innen derzeit 11 T CO2 pro Jahr und Person verantworten, dieser Ausstoß müsste bis 2050 um 10 T (!) vermindert werden.
Die berühmte Karte von den „Kippelementen“ in der Atmosphäre demonstriert die möglichen Konsequenzen, wenn weiterhin viel zu wenig getan wird – (und dabei ist in diesen Berechnungen noch nicht einmal der steigende Methangehalt der Atmosphäre berücksichtigt).
Diese „harten“ wissenschaftlichen Fakten sind solider, als jene, die über Corona bekannt sind. Die spannende Frage entsteht: Wenn wir so viele Informationen und Wissen haben, warum geschieht dann so wenig? Wir sehen doch, dass wissenschaftlicher Rat in der Corona Krise sehr hilfreich ist. Offenbar genügt es nicht, gesicherte Informationen zu haben – wir ertrinken geradezu in ihnen und was wir stattdessen nutzen, sind unsere Gefühle und den sog. gesunde Menschenverstand, allerdings sind beide für diese Herausforderung völlig überfordert.

Kognitions- und Sozialpsychologie

Bekanntermaßen gibt es eine angeborene Reaktion auf Bedrohungen, die berühmte Kampf- Flucht- oder Erstarrungsreaktion. Damit es aber zu diesen Reaktionen kommen kann, muss die Gefahr unmittelbar, konkret und unstrittig sein. Hier liegt ein Unterschied zwischen Corona und Klimakrise. Wir sehen die Bilder der überfüllten Krankenhäuser, aber die Gefahren der Klimakrise erscheinen weit entfernt, wenig konkret, komplex und sie werden nach wie vor von einflussreichen Mitmenschen bezweifelt.

Kognitive Verzerrungen

Nun kommen kognitive Verzerrungen sog. „Bias“ ins Spiel. Zum Beispiel den Verfügbarkeitsbias. Australier, die die verheerende Brandkatastrophe des letzten Jahres erlebt haben, haben eine konkrete Vorstellung von den Folgen des Klimawandels, wir in Europa hingegen haben diese direkte Erfahrung (noch) nicht.
Von einer weiteren Verzerrung sind vor allem Eltern betroffen, es handelt sich um die Optimismus Verzerrung. Eltern wollen und können sich oft nicht vorstellen, dass die Zukunft ihrer Kinder eher trübe aussehen wird.
Eine weiter Verzerrung wird durch Gruppenzugehörigkeit begünstigt. In Gruppen wird auch eine bestimmte Sichtweise auf die Welt gepflegt. Diese Sichtweise kann sogar zum Merkmal der Gruppenzugehörigkeit werden, wie es an der Situation in den USA anschaulich wird.

Die Rolle des Internets

Eine weitere wichtige Rolle spielen Desinformationen und Manipulation durch und vermittels der Sozialen Medien. So erhält nicht jeder Mensch, der den Begriff „Klimawandel“ googelt, dieselben Ergebnisse. Diese hängen u. a. von vorherigen Suchbegriffen ab, aber auch von vielen anderen Informationen, die die Anbieter gesammelt haben.

Beschleunigung und Entfremdung

Damit immer noch nicht genug, handelt es sich bei der Klimathematik um ein sog. verflixtes/verzwicktes Problem. Ein solches zeichnet sich durch Komplexität, Vernetztheit, Zielpluralität und Unschärfe aus. Hier gibt es eine gewisse Nähe zur Corona Situation.
Zuguterletzt spielen auch Beschleunigung und Entfremdung in der Kultur ihre Rolle. Der Soziologe Hartmut Rosa hat dies so zugespitzt und es „Eskalation des Weltverhältnisses der Moderne“ genannt. Strukturell sieht es so aus, dass sich die Moderne nur dynamisch stabilisieren kann, sie benötigt Wachstum zum Erhalt des Status Quo. Kulturell sieht Rosa einen „Kategorischen Imperativ der Moderne“ am Werk: „Handle stets so, dass Deine Weltreichweite größer wird!“
Die Folgen dieses Weltverhältnisses sieht er strukturell als „Desynchronisation“ Die Natur ist zu langsam, was zur Öko-Krise führt und die Seele ist zu langsam, was zur „Psycho-Krise“ führt.
Die kulturellen Folgen sieht er in einer Verdinglichung der Weltbeziehung. Es kommt zur Entfremdung, dem Erleben einer „schweigenden Welt“. Das führt in der Folge zu Derealisation, Zynismus und weiteren Symptomen eines „Burn-out“.

Sozialforschung

Wenig ermutigend sind Experimente mit Student*innen, die einen Spieleinsatz so aufteilen können, dass am Ende die Welt gerettet wird. Dazu müssten sie einen Teil ihres Geldes hergeben, aber leider scheint diese altruistische Haltung wenig verbreitet.
Als Zwischenfazit fasst Herr Nikendei zusammen, dass wir kognitiven Verzerrungen unterliegen und dass es offenbar nicht gelingt, den Abgrund zwischen Wissen und Handeln zu überbrücken.

Klimawandel und Tiefenpsychologie

Als kurze Einführung führt der Redner das Grundkonzept der TP an. Es geht in ihr um eine Konflikt- und Strukturtheorie. Also unbewusste Konflikte oder strukturelle Mängel führen zu psychischem Leiden.
Im Falle des Konflikts geht es um widerstreitende Motive, Wünsche oder Bedürfnisse, die zu inneren Konflikten führen. Dies geht mit Gefühlen von Verlust, Schuld, Angst, Scham, Verzweiflung und Neid einher und diese unerträglichen Gefühle müssen mittels psychischer Abwehr vom Bewusstsein ferngehalten werden.
Anhand des „Strukturmodells“ von Freud (Es, Ich, Über-Ich) bekommen wir das erläutert. Wir sind (auf der Es-Ebene) in einer umfassenden Natur beheimatet und hier finden wir auch die naturbezogenen Bedürfnisse unserer kreatürlichen Existenz.
Auf der mitmenschlichen Ebene (Ich-Ebene) sind wir geborgen und Kulturschaffende Wesen.
Und wir haben Ideale für unsere Existenz, die Ebene des Gewordenen (Über-Ich-Ebene), dort finden wir Leistungsanforderungen.

Strukturelle Bedrohungen

Durch die Dynamik der Prozesse werden wir aber von unserer Verbundenheit entfremdet und dies führt zum Gefühl der Bedrohung.  Was einst Heimat war, ist nun in Gefahr. Wo wir uns geborgen fühlen sollen, müssen wir hektisch arbeiten und wo etwas wachsen sollte, finden wir nur noch künstlich produziertes. Dies alles führt zu der Erfahrung, dass die Natur zurückschlägt und dies wiederum zum Gefühl der Scham.
Scham: … „reflektiert eine Ahnung des Scheiterns oder ein Defizit des Selbst“, bzw.: „Scham paralysiert und führt zu einem Leben in Neid“
Scham ist wiederum ein Gefühl, das abgewehrt werden muss. Z. B. durch Verleugnung (gibt es gar nicht) oder Omnipotenzfantasie (z. B. Technik Omnipotenz). Ebenfalls möglich ist Abwehr durch Projektion (Greta isst aus einer Plastikschale), durch Entwertung (siehe Eingangsbeispiel), durch Spaltung (Greta als Heilige oder Hexe), durch Rationalisierung (das wird das Klima nicht kippen lassen, wenn ich nach Hawaii fliege) oder durch Sublimierung (Spenden, Kompensationen).
Kompakt zusammengefasst lautet das folgendermaßen:

„Die umfassende Realisierung eines globalen Desasters und die Anerkennung unseres eigenen Beitrags wäre möglicherweise vernichtender und bedrohlicher für uns, als die auf uns zukommende Bedrohung selbst.“

Also:

„Die Hinnahme eines drohenden „äußeren Untergangs“ gefährdet uns weniger, ist weniger beschämend für uns, als der drohende „innere psychische Untergang.“

Identität und Selbstwert

Identität und Selbstwert sind von der kulturellen Einbettung abhängig. Also, wie wird (falls überhaupt) über Klimaentwicklungen in den sozialen Kontexten gesprochen?
Strukturelle und Gesellschaftsstrukturelle Perspektiven drehen sich um die Symbolisierung der Klimakrise. Das verbreitetste (Nicht-) Narrativ (Erzählung) dazu ist so Herr Nikendei die kollektive Stille – die Klimakatastrophe wird schlicht und einfach verschwiegen.
Die Einstellung zum Thema wird zu einem Gruppenmerkmal mit der möglichen Folge, dass an Einstellungen festgehalten wird, die hinterfragbar oder sogar falsch sein können. Verstärkend kommen die „Echo-Kammern“ der sozialen Medien hinzu, denn sie führen in einen Zustand von „pluralistischer Ignoranz“.
Eine weiter Folge von sozialen Medien ist, dass sie persönliche „Wunsch-Identitäten“ beeinflussen. Sie fördern einen forcierten Individualismus, fokussieren auf individuelle Selbstoptimierung und entgrenztem Konsumverhalten. Im Zentrum stehen Produkte, die identitätsstiftend geworden sind und im Sinne eines „falschen Selbst“ verstanden werden können.

Psychische Aspekte

Empathie

Zum Preis der CO2 Erzeugung, den andere Länder und deren Bevölkerungen zahlen müssen, meint ein Ex-Präsident eines Inselstaats sinngemäß, dass dieses Verhalten, wider besseres Wissen, einen kriegerischen Akt darstelle, dem die Betroffenen ohnmächtig ausgeliefert seien. Eine andere Formulierung bringt es so auf den Punkt: „Diese Länder sind nicht unterentwickelt, sie sind über-ausgebeutet.“
Vor diesem Hintergrund macht uns Herr Nikendei klar, dass auch Deutschland ein Entwicklungsland ist. Gemessen an den UNO Zielen 2030 wird viel zu wenig insbesondere für den Klimaschutz unternommen.

Körperselbst

Das Körperselbst ist auch eine strukturelle Dimension. Der Vortragende zieht eine bedenkliche Bilanz. Es lässt sich feststellen, dass: „Trotz aller vermarkteten Natur- und Körperkulte, existiert eine tiefgreifende Natur- und Körpervergessenheit. Sinnliche Seiten der selbsttätigen inneren Natur werden in den Bereich des Schöngeistigen oder des Freizeitmarkes verschoben. Die Eigenständigkeit der leib-seelischen Körperdynamik wird auf dem Niveau einer pathologischen Selbstobjekt-Beziehung missbraucht.“

Klimawandel und Trauma

Wir erfahren, dass von den Menschen, die z.B. Hurrikans erleiden mussten, bis zu 80 % eine Traumfolgenstörung entwickeln. Und wir erfahren auch vom „Trauma der Täter“. Insbesondere die europäischen Nationen sind Erben kulturhistorischer Verbrechen wie dem Kolonialismus, dem Nationalsozialismus, dem Rassismus und der Sklaverei. Dieses transgenerationale Erbe kann zu Dissoziationen und dadurch zu einer doppelten Buchführung münden. Z.B. sponsern Ölkonzerne gerne Klimaschutzmaßnahmen.
Was das Eingreifen ebenfalls erschwert, ist das Phänomen der passiven Dabeisteher – es sind so viele Menschen da, da wird sich schon ein anderer darum kümmern.

Auswirkungen

Bisher liegen Ängste vor dem Klimawandel in Deutschland auf dem zehnten Platz, sie sind nur bei 41 % vorhanden. Aber es gibt inzwischen so etwas wie „Eco-Anxiety“ – Besorgnis um den Klimawandel. Dieser geht einher mit Symptomen von Depression, Angst und Stress. Vor allem bei Frauen, die jünger als 35 Jahre alt sind, die eine umweltbezogene Einstellung haben – sie entwickeln eine Tendenz zur Zukunftsangst.
Eine weiterer Klimaeffekt ist, dass Hitze die Aggressionen vermehrt. Wir sehen dazu eine eindrückliche Statistik über den Anstieg von Gewaltdelikten in den USA zwischen 2010 und 2019, einer Zeit, in der verschiedene Hitzerekorde gebrochen wurden.
Die Frage, inwiefern unser Alltagsverhalten eine Fremdgefährdung darstellt und deshalb evtl. auch regulatorisch begrenzt werden müsste, wird kurz aufgeworfen. Wir sehen, welche Proteste die Corona Regeln bereits bei manchen Menschen auslösen.
Auch die Frage, ob wir gerade dabei sind, einen „Pan-Suizid“ zu begehen, wird noch angesprochen.

Klimawandel und nun?

Viele Ansatzpunkte

Was können wir tun? Wie kann eine Veränderung herbeigeführt werden. Eine Antwort darauf gibt das „Change-Management“. Dieses beschreibt eine Art Stufenplan, der durch die folgenden Schritte verwirklicht werden könnte: Im Zustand der Sorglosigkeit wäre es wichtig ein Problembewusstsein zu schaffen. Dieses führt zur Bewusstwerdung. Hier müssten Ambivalenzen aufgelöst werden. Sodann können Vorbereitungen getroffen werden. Dafür braucht es eine Zielplanung, auf die dann die Handlung folgen kann. Nach erfolgter Handlung geht es darum die Ergebnisse zu konsolidieren und letztlich auch darum, einen Abschluss zu finden.
Aber es gibt einen kleinen Dämpfer danach. Eine Statistik aus der Psychotherapie zeigt, dass zwar sowohl Verhaltens- als auch Tiefenpsychologische Therapie erfolgreich sein kann, aber nie alle Patient*innen erreichen kann.
Wir brauchen mehrere Ansatzpunkte. Vernetzung von Politik, Wirtschaft und Initiativen, Erfolge, z.B. beschlossene Begrenzungen von CO2 Ausstoß. Erste Schritte könnten in moderaten Anpassungen bestehen, wie weniger Flugreisen, Fleischkonsum usw. Allerdings würde uns das nicht mehr retten. Es braucht sehr ambitioniert Veränderungen der Lebens- und Wirtschaftsweisen, damit wir halbwegs sicher sein können, dass der Planet bewohnbar bleibt.

Intrinsische Motive

Ein wichtiger Bereich könnte auch intrinsische Motivation darstellen. Intrinsische Faktoren wären: Werteorientierung, die Möglichkeit, Identität und Status Ausdruck zur verleihen (mit Klimaengagement). Dabei spielt die Symbolik von Handlungen eine scheinbar wichtigere Rolle als extrinsische Anreize wie Steuererleichterung oder Ähnliches. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn es gibt den sog. „Single-Action-Bias“, der dazu führt, dass man einmal einen Gemüseauflauf ist und das als ausreichend empfindet. Man könnte auch das Greenwashing dazu zählen.

Technologische Wege

Die Rolle der notwendigen technischen Innovationen wird auch nicht vergessen. Wir brauchen sie, aber der „Technical-Fix“ der CO2 Problematik ist eher unwahrscheinlich. Weder die „Direct Air Capture“, noch die Elektrifizierung des Verkehrs, die Aufforstung oder die Verteilung von Schwefel in der Stratosphäre sind in der Lage, genügend CO2 zu binden.
Es werden wohl politisch beschlossene Normen notwendig. Dass diese erfolgreich sein können, sehen wir im Moment in der Corona Situation. Oder als älteres Beispiel, die Gurtpflicht im Auto. Ansonsten wird möglicherweise ein Gedankenspiel wahr, dass Politiker*inne in Zukunft wegen „Ökozid“ angeklagt werden könnten.

Ökonomische Wege

Neue Normen bräuchte es auch für die Wirtschaft. Hier wäre die Frage zu stellen: Wollen wir die Zukunft gestalten oder abwarten, wie wir mit dem Desaster umgehen können? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Geld alleine nicht ausreichen wird. Die Art des Wirtschaftens an sich steht zur Disposition – von den vielen Möglichkeiten wählt der Vortragende die „Post Wachstumsökonomie“ von Nico Paech. Aus dieser Sicht braucht es neue Effizienzstrategien, Konsistenzstrategien, Suffizienzstrategien und Re-Regionalisierung. Oder auch: „All you need is less“.
Auch Maja Göpel wird noch zitiert. Sie spricht in Anlehnung an Max Weber von der herrschenden „Eisenkäfig-Ökonomie“ und stellt fest, dass diese zu Fragmentierung, Quantifizierung/Monetarisierung, Akkumulation und Vergleich/Ranking führt.

Ethische Möglichkeiten

Einen weiteren Aspekt stellt die „Radikale Ethik“ von Donna Orange dar. Diese fordert die Anerkennung an unserer Beteiligung am Desaster des Klimawandels. Sie fordert eine neue Gesellschaftsorganisation, in der Maßlosigkeit keinen Platz hat, indem wir auf politischer, ökonomischer, technischer, ideologischer Ebene in der Haltung einer radikalen Ethik Ungerechtigkeiten und Glück auf Kosten anderer nicht tolerieren“.
All das kann nur funktionieren, wenn sich Individuen für sich selbst für Veränderungen entscheiden, dabei aber das Kollektiv mitnehmen, und wenn auch Kollektive die Einzelnen ermuntern, die neuen Wege zu beschreiten.
Dazu braucht es auch neue soziale Wert, denn es gibt Chancen für Soziale Kipppunkte, die dann eine Kettenreaktion der Veränderung auslösen könnten.

Achtsamkeit und Resonanz

Zuguterletzt kommt noch die Achtsamkeit als Wirkfaktor ins Spiel. Hier greift Herr Nikendei wieder Hartmut Rosa und dessen Resonanzkonzept auf. Es empfiehlt uns, berührbar zu sein, Veränderungen durch Berührung zuzulassen, Toleranz für Ergebnisoffenheit zu entwickeln, die Unverfügbarkeit von Resonanz anzuerkennen, auf Berührung zu antworten und vor allem seine eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit anzuerkennen.
Aus der Psychotherapie ist bekannt, dass die Hinwendung zu etwas Neuem immer mit dem Betrauern des Verabschiedeten einhergeht – mit der Anerkennung, dass die Dinge nicht mehr so sind wie früher. Dazu brauchen wir Mut, denn es wird auf jeden Fall auch Verlierer*innen geben. Und, wir brauchen Vorbilder, Rollen Modelle, die uns inspirieren.
Damit all diese Aspekte ineinandergreifen können braucht es dann auch noch eine gute Klima-Kommunikation:

„Einen Raum, um zu üben, den Klimawandel zu >symbolisieren< denn wenn dieser in die Realität der Sprache tritt, tritt er in unsere Bewusstseinsrealität und wird damit Teil unserer Lebensrealität.“

Haben wir Macht oder sind wir dem Klimawandel ohnmächtig ausgeliefert? Solange wir noch handeln können, haben wir noch die Macht etwas zu verändern, so der Schluss von Herrn Nikendei. Ich bin einigermaßen erschlagen von der Fülle dieses Inputs und hoffe, der/die Leser*in hat bis zum Ende durchgehalten.

Mehr zum Thema aus meiner Feder gibt er hier, hier und hier

Die Psychosomatik erkundet Corona

Corona und Psyche

mit: Claas Lahmann Prof. Dr. med., Psychosom. Uni Klinik, FR
Winfried Kern, Prof. Dr. med., Leiter Infektiologie, Uni Klinik, FR
Bernd Kortmann, Prof. Dr. Dr. h. c. Uni Freiburg:                                                                         Seele – Körper – Geist im Spiegel der Corona Pandemie

Meine erste Online Vorlesung in diesem Semester. Das Einloggen ist kein Problem, aber es ist Dienstag und Microsoft hat sich genau diesen Moment gewählt, um mir ein Update zu verpassen. Deshalb fehlen mir einige Minuten, die ich gebraucht habe, um das Update anzuhalten.
Das Format finde ich sehr gelungen. Jeder Referent bekommt 15 – 20 Minuten Zeit für seinen Vortrag und zu jedem Aspekt von „Seele – Körper – Geist“ gibt es einen Input. Nun bin ich gespannt, welche Einsichte es darüber gibt, was Corona mit uns macht.

Körper

Es beginnt Winfried Kern für den Bereich Körper. Er möchte etwas zur Epidemiologie mitteilen, dann zu Langzeit Folgeschäden nach Corona Infektion, sowie weitere Neuigkeiten und offene Frage ansprechen.
Er stellt zunächst fest, dass wir in der zweiten Welle angekommen sind. Es gibt mehr als 50 Millionen Infizierte und mehr als eine Million Tote und das rechtfertigt die Bezeichnung: „saftige Pandemie“.
Wir bekommen viele Tabellen und Statistiken gezeigt, die ich leider nicht alle sehen konnte. Ein paar Fakten: Die globale Fallsterblichkeit liegt zwischen 1 und 10 %, allerdings sind diese Zahlen mit sehr großer Vorsicht zu genießen, da die Erhebungen unterschiedlichen Standards folgen.
In Deutschland war in der ersten Welle keine statistische Übersterblichkeit festzustellen, allerdings in zahlreichen anderen Ländern.
Im Vergleich zur ersten Welle sind jetzt auch viele Kinder erkrankt, so auch in Freiburg. Einige von ihnen entwickeln dabei heftige Entzündungsreaktionen. Über Langzeitfolgen ist im Moment noch wenig bekannt.
Zum Thema „Lockdown“ äußert er sich zweifelnd. Jja, irgendwie sei er schon richtig, aber vielleicht nicht so stark wie jetzt.
Die Lage in Freiburg beschreibt er wie folgt: Die Fallzahlen steigen; es gibt (noch) weniger Schwerkranke als während der ersten Welle, aber es ist klar, dass der Gipfel der Entwicklung noch nicht erreicht ist; die Testkapazitäten sind an ihrer Grenze angelangt; es sind zum Glück nur wenige Mitarbeiter*innen erkrankt; die Nachsorgeambulanz ist noch mit ehemaligen Betroffenen befasst; Klarheit über Art und Ausmaß von Immunität ist nicht vorhanden; von den 47 Impfstoffen, die sich in Entwicklung befinden, sind 11 bereits in Phase 3; die Behandlung bleibt schwierig, das einzig bekannte hilfreiche Medikament ist Cortison.

Seele

Danach spricht Herr Lahmann von der Abteilung „Seele“.
Er berichtet ebenfalls zunächst die aktuellen Zahlen über psychische Beeinträchtigungen. Demnach klagen derzeit 33 % über Ängste (vorher 15 %), 28 % über Depressive Verstimmungen (vorher 9 %) und über posttraumatische Stresssymptome klagen 24% der Patient*innen (vorher 2 %) – beeindruckende Zahlen.
Geht es bei Corona um ein kollektives Trauma? Herr Lahmann zitiert eine Studie, die den Bombenkrieg von London (Blitz) mit der Corona Situation vergleicht. Die proportionale Sterblichkeit ist vergleichbar. Der große Unterschied ist, dass Corona eine Naturkatastrophe ist und das Kriegsgeschehen ein sog. personales Trauma, also von Menschen verursacht wurde, ist für die Trauma Verarbeitung ein wesentlicher Unterschied.
Er bietet uns den Vergleich mit „Höhenbergsteigen“. Ganz oben um den Gipfel liegt eine Todeszone. Hier lässt es sich, wenn überhaupt, nur ganz kurz überleben. Unterhalb davon ist es möglich, sich anzupassen. Anpassung sei überhaupt ein Merkmal psychischer Verarbeitungund zwar sowohl individuell als auch kollektiv. Die Pandemie ist so gesehen ein Stresstest für die Resilienz (Widerstandsfähigkeit).

Krise und Resilienz

Er zeigt uns das chinesische Schriftzeichen für „Krise“. Dieses ist zusammengesetzt aus den beiden Zeichen von „Gefahr“ und „Chance“. Diese Sichtweise kann die Resilienz unterstützen. Weitere Stützen der Resilienz wären: Emotionale Stabilität, einen (psychischen) Ort der Kontrolle, ein positiver Umgangsstil, psychische Flexibilität, Sport und guter Schlaf, soziale Unterstützung, Arbeitsplatzgestaltung und Führung. Er räumt selbst ein, dass das ein wenig nach Küchenpsychologie klingt.
Wir bekommen noch das PERMA Modell aus der Positiven Psychologie vorgestellt: Positive Emotionen, Engagement, Relationship (Beziehungen), Meaning (Bedeutung, Sinn), Accomplishment (Wirksamkeit). Und im Zweifel hilft auch immer noch – mehr Bewegung!
Nun möchte er noch einen Blick auf den Arbeitsplatz werfen, auf Gesundheit und auf die Leugnung von Corona.

Corona und Arbeit

Gerade im Homeoffice ist es gut, einen festen Arbeitsplatz zu haben, sich anzukleiden, sich feste Zeiten einzurichten, auch was die Erreichbarkeit angeht, die Aufgaben zu planen, sich eine Pausenstruktur zu geben und diese Pausen auch zu gestalten. Wichtig auch, nach der Arbeit mit anderen Menschen Kontakte pflegen.
Auch und gerade im Lockdown ist es wichtig, sich nicht zu isolieren. Eine Studie an Forscher*innen in der Antarktis hat gezeigt, dass Isolation die geistigen Fähigkeiten verkümmern lässt. Auch und gerade im Homeoffice führt das zu eher negativen Gefühlszuständen.

Zeitgenössische Herausforderungen

Allgemeiner zum Thema Gesundheit führt Herr Lahmann den Begriff der „VUCA Welt“ ein. Dieser stammt aus der Wirtschaft, speziell aus der Schulung von Führungskräften. Er bedeutet so viel wie: Volatilität (Flüchtigkeit), Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Vieldeutigkeit). Diese Begriffe sollen umschreiben, welchen Kräften und Zuständen, zeitgenössische Menschen ausgesetzt sind. Es erfordert viel von den Einzelnen, mit so viel Unwägbarkeiten umzugehen. Es kann zu Gefühlen von Angst und Bedrohung kommen und die Betroffene erleiden häufig einen Mangel an Resonanz.
Zum Abschluss gibt es noch ein Zitat von C.G. Jung, das ich hier nur sinngemäß wiedergeben kann. Es ist nicht die Aufgabe der Therapie den Patienten glücklich zu machen, sondern ihn dazu in die Lage zu versetzen, mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen.

Corona Leugnung

Nun noch ein paar Befunde und Gedanken zum Phänomen der Corona-Leugnung. Es gibt nur wenige Studien, die auch nicht allzu viel Aussagekraft aufweisen können. Es scheint so, dass eher empfindliche und ältere Menschen dazu neigen, zu Leugner*innen zu werden.
Eine gewisse Widerstandskraft scheinen Menschen zu haben, die Vertrauen in die Wissenschaft haben, die gute Rechenfähigkeiten haben, die nicht zu Minderheiten gehören, und die Unsicherheit aushalten können. Jungen Menschen scheinen das weniger gut zu können.
Sein Appell ist, dass es nicht notwendig sei, Sicherheit zu gewinnen, und das Kontrolle eher das Problem, als eine mögliche Lösung ist. „Keep calm and carry on!“

Geist

Nun ist Herr Kortmann für den Aspekt des Geistes an der Reihe.
Er bewirbt zunächst ein Buch, das von der „FRIAS“ (Freiburg Institut for Advanced Studies) gerade veröffentlicht wurde. Sein Titel lautet: „Jenseits von Corona“ und es enthält etwa vierzig Beiträge aus den Geistes- und Sozialwissenschaften.
Inhaltlich beginnt er mit der Frage: „Was wird von Corona bleiben?“ Ist das Ereignis nur eine Delle im üblichen Kurvenverlauf oder hinterlässt die Krise eine echte Veränderung. Einige Gedanken dazu lauten:
Wird die Krise als Chance genutzt, die auch auf andere, drängende Themen der Zeit angewendet werden können, v.a. die Klimakrise.
Immerhin sehen wir, dass entschlossenes wirtschaftliches Umsteuern möglich ist.
Andererseits müssen wir die Erfahrung machen, dass insbesondere Frauen und schlechter ausgebildete Menschen überproportional an der Krise leiden.
Wir müssen auch lernen, dass viele Menschen sich gegenüber Wissenschaft und Medizin sehr skeptisch eingestellt haben.

Was Corona deutlich macht

Die Corona Krise wirkt wie ein Brennglas oder eine Lupe, die bestehende Defizite verstärkt ins Licht rücken und endlich ernsthafte Bemühungen zu deren Beseitigung einfordern.
Weiter entsteht die Einsicht, dass es kein Zurück gibt, weder in eine gute alte Zeit, noch in ein verlorenes Paradies.
Die Krise bietet uns die Chance des Umdenkens. Sie fordert uns auf, uns mehr gemeinwohlorientiert einzustellen. Das wird zum Beispiel bei den Impfstoffen deutlich, sie sollen eben nicht marktwirtschaftlich gehandelt werden können.
Die historische Perspektive zeigt, dass es Traditionslinien in der Seuchenerfahrung gibt. Es gibt sozusagen nichts Neues seit dem 15. Jahrhundert – die Grenzen werden dichtgemacht; es werden Schuldige gesucht, das Unsichtbare wird auf Sichtbares verschoben.
Auf der Positivseite wäre noch zu bemerken, dass Corona einen Digitalisierungsschub bewirkt hat.
Dass trotz starker populistischer Aktivitäten, die Demokratie breites Vertrauen genießt, dass die Regierungen (meist) rational handeln und auch die Gerichte funktionieren.
Auch Verschwörungsmythen sind historisch nichts Neues. Herr Kortmann empfiehlt, mehr miteinander als übereinander zu reden.
Er zieht den Schluss, dass wissenschaftsbasierte Politik bessere Ergebnisse bei der Krisenbekämpfung erreicht und fordert von der Wissenschaft, dass sie klar kommuniziert, was sie weiß, was sie noch nicht weiß und was ihr unbekannt ist.
Da der Zeitrahmen bereits gesprengt ist, werden nur noch wenige Fragen erörtert. Ich bin schon gut aufgefüllt mit diesen Informationen und beende meine Teilnahme.