Die Psychosomatik erkundet leibliche Präsenz

Empathie zwischen Körpern

Bericht vom 06.12.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Leiter der Sektion „Phänomenologische Psychopathologie und Psychotherapie“ der Klinik für Allgemeine Psychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg. Sein Vortrag trägt den Titel: Leibliche Präsenz und Virtualität

Einleitung

Thomas Fuchs erzählt zur Einführung von dem Science-Fiction Roman „The machine stopps“, in dem eine Menschheit beschrieben wird, wie sie in dem Film „Matrix“ dann gezeigt wurde. Die Menschen leben völlig voneinander isoliert in künstlichen Blasen – ihre gesamte Wahrnehmung ist virtuell vermittelt. Als die Maschine kaputtgeht sterben die Menschen, denn sie haben verlernt, selbst etwas zu tun.

Virtualität sei ein zentrales Thema des 21ten Jahrhunderts, so Herr Fuchs und sie breite sich ja auch immer weiter aus. Kaum ein Arbeitsplatz, der nicht davon betroffen ist. Das Virtuelle durchdringt mehr und mehr die gesamte Lebenswelt.

Neurokonstruktivismus

Dazu passt auch der sog. Neurokonstruktivismus. In dieser Anschauung wird die Welt selbst zum Konstrukt. Die Menschen haben dieser Sichtweise nach nur einen Ego-Tunnel oder leben in einer Art Kopf-Kino – es gibt keinen echten Zugang zur Welt. So schreibt der Neurophilosoph Thomas Metzinger: „Unser Gehirn erzeugt eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können […] Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst. Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.“

Neurokonstruktivismus und der Andere

Auch der Weg zum Mitmenschen ist uns verstellt. Wir brauchen eine Theory of Mind, eine Art Simulation oder Mind-Reading, um uns ein Modell des anderen Menschen herzustellen.

Neurokonstruktivismus und Virtualität

In der Anschauung des Neurokonstruktivismus verschwimmt und verschwindet der Unterschied zwischen Bild und Original bzw. gibt es am Ende nur noch Bilder und die Welt droht zu verschwinden. Es entsteht so etwas wie eine „Kultur der Simulation“.

Welche Auswirkungen hat das auf die Fähigkeit der Empathie? Empathie kann auch ins Fiktive und Illusionäre übergreifen, denn wir sind empathisch verbunden mit unseren Fantasien und Vorstellungen. Je weiter die Empathie sich jedoch von der leiblichen Erfahrung des anderen abkoppelt, desto mehr erfasst sie nur noch sein Bild, einen Schein.

Überblick

Stufen der Empathie

Empathie und Virtualität

Virtualisierung der Lebenswelt

Stufen der Empathie

Seit der Einführung des Begriffs Ende des 19ten Jahrhunderts, gibt es Versuche, die Empathie zu definieren. Dazu wurde die „Theory of Mind“ herangezogen und eine Simulationstheorie entwickelt, aber Herr Fuchs möchte lieber auf die „Theorie der direkten sozialen Wahrnehmung“, auch „Theorie der leiblichen Kommunikation“ genannt, zurückgreifen.

Aus diesem Verständnis ergeben sich die drei Stufen von Empathie:

  • die „primäre, verkörperte Empathie“
  • die „sekundäre kognitive Empathie“
  • die„fiktionale oder projektive Empathie“

primäre Empathie

Wenn wir uns einem wütenden Menschen gegenübersehen, wird uns dessen Zustand sofort bewusst. Ein Philosoph der Philosophischen Anthropologie, Max Scheler schrieb dazu: „Wir nehmen im Lächeln des anderen unmittelbar die Freude, in seinen Tränen das Leid, in seinem Erröten, die Scham wahr.“ Menschen erkennen einander als physio-psychische Wesen an.

Aber wie kann das geschehen, ohne Simulation bzw. Konstruktion? Indem wir leiblich-körperlich in Resonanz kommen. Wir spüren den jeweils anderen am eigenen Leib, sein emotionaler Ausdruck berührt und bewegt uns, so dass wir leiblich antworten und damit in eine leiblich-affektive Kommunikation einsteigen.

sekundäre Empathie

Dieses einfühlende Verstehen können wir nun auch noch ausweiten, indem wir uns vorzustellen versuchen, weshalb der andere in so einem Zustand ist. Wir vollziehen eine Perspektivübernahme, an der auch ein imaginärer Anteil mitspielt – eine Als-Ob Position.

fiktionale Empathie

Von der impliziten zur expliziten Empathie ist es nur noch ein weiterer Schritt zur fiktionalen Empathie, wenn wir z.B. mit unseren Lieblingshelden in Büchern oder Filmen mitfiebern. Es ist sogar möglich, Empathie für völlig abstrakte geometrische Figuren zu entwickeln, wenn diese eine kleine Geschichte darstellen, die Anlass zu Gefühlen gibt.

Die Als-Ob Spiele sind ihrerseits eine Art Quelle der menschlichen Kultur. Sie ermöglichen uns Rollenspiele, ein Fantasiebewusstsein u.v.m.

Wenn die Fähigkeit zum Als-Ob verloren geht, wir also den Schein nicht mehr vom Original unterscheiden können, werden sich vermutlich Schwierigkeiten einstellen. Der Film „Her“, in dem sich ein Mann in ein Computerprogramm verliebt, dient Herrn Fuchs als Beispiel für dieses Phänomen.

Das hat durchaus Relevanz für die Psychotherapie, denn es gibt bereits einige Programme, die den/die Therapeut*in ersetzen sollen. Eine Studie dazu hat ergeben, dass die Nutzer*innen, obwohl sie wussten, dass sie es mit einer KI zu tun hatten, das Gefühl entwickelten, von ihrer KI verstanden und sogar gemocht zu werden. Herr Fuchs nennt dieses Phänomen: „Digitalen Animismus“.

Zwischen Resümee: Polarität der Empathie

Empathie weist also verschiedene Grade an Körperlichkeit auf – von der zwischenleiblichen zur kognitiven zur fiktionalen Empathie als ein Prozess von zunehmender Immersion (eintauchen in fiktive Welten).

In der leiblichen Kommunikation sind wir immer wieder mit der Widerständigkeit des anderen konfrontiert – Phasen von Resonanz wechseln mit solchen von Dissonanz. Das führt den Vortragenden zur:

Zusammenfassung: Polarität der Empathie

Dazu hören wir zwei Zitate von Emanuel Levinas (Philosoph):

„Intersubjektive Erfahrung beruht darauf, dass das Gesicht des Anderen immer ein Moment des Fremden und unverfügbaren enthält.“

Und:

„Personen werden füreinander wirklich, insofern sie sich gegenseitig als Wesen erkennen, die immer jenseits dessen bleiben, als was sie sich zeigen.“

Diese Art von Begegnung kann sich fiktional fantastisch ausschmücken. Je ferner wir dem Leib des anderen sind, desto mehr blühen die Projektionen.

Virtualisierung der Lebenswelt

Die Tendenz zur Virtualisierung entkoppelt die Menschen von ihrer unmittelbar zwischenleiblichen Erfahrung und führt im Weiteren zu einem gewissen „Disembodiment“. Dafür hat Philosoph Günter Anders bereits den Begriff der Phantomisierung entwickelt. Er meinte damit die Tendenz zur Aufhebung der Differenz von Sein und Schein.

Phantomisierung

Phantomisierung bedeutet auch, dass die Bilder Massenmedien uns die Realität vorspiegeln. In den Worten von Anders: „Die Welt unter ihrem Bild zum Verschwinden bringen.“ Die Welt wird von Simulacren bewohnt, Phantome, die Realität vorspiegeln, so tun, als seien sie genau in diesem Moment präsent.

Damit verschwindet auch der Als-Ob Charakter des Bildes und begünstigt so, dass die Realität mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Auch hier hat Anders einen schönen Begriff: „Medialer Idealismus“ Die Welt als Schauspiel – ähnlich dem Neurokonstruktivismus.

Die Technik schaffte es nun sogar, dass wir körperlich mit den Maschinen interagieren z. B. am Touch Screen. Diese Interaktionen im Cyberspace im Metaversum führt zu einer „Einleibung“ des virtuellen Raums. Dort, in der virtuellen Realität, gibt es keine Widerstände oder allenfalls solche, die zu überwinden sind – die Möglichkeiten sind grenzenlos. Der widerständige Körper aus Fleisch und Blut wird verdrängt zugunsten eines rein funktionalen Körpers, der an eine virtuelle Maschine angeschlossen ist.

Entkörperung der Kommunikation

Auch das Kommunikationsverhalten erfährt eine tiefgreifende Wandlung. Immer mehr Menschen leben in virtuellen Blasen und pflegen dort eine Scheinpräsenz, in der sie anderen Scheinpräsenzen begegnen. Andere werden zu Schnittstellen ohne leibliche Verankerung, ohne zwischenleibliche Resonanz. Die Kontakte werden zahlreicher aber qualitativ ärmer, denn bei diesen Treffen kommt es eher zu Projektionen, als zu interaffektiven Begegnungen.

Die Soziologin Eva Illouz schreibt dazu:

„Fiktionale Emotionen können denselben kognitiven Inhalt haben wie reale Emotionen, aber sie sind selbstreferentielle: das heißt, sie beziehen sich zurück auf das Selbst und sind nicht Teil einer laufenden und dynamischen Interaktion mit einem anderen.“

Und:

„Der imaginative Stil, der sich in und durch Internet-Kontaktbörsen bildet, [muss] vor dem Hintergrund einer Technologie verstanden werden, die Begegnungen entkörperlicht und textualisiert […] Die so hergestellte Intimität beruht auf keiner Erfahrung und ist nicht körperlich grundiert.“

Im Online-Dating gehen die kleinen Schritte der allmählichen Annäherung verloren. Es entsteht so etwas wie eine  Pseudo-Intimität, wobei der jeweils Andere überwiegend eine Projektionsfläche darstellt.

Günter Anders hat diese Entwicklung auf den Begriff des „Masseneremiten“ gebracht. Dieser möchte der Welt nicht entsagen, sondern ja keinen Brocken der Welt versäumen.

Resümee

Was also bringen diese Entwicklungen mit sich? Eine Annahme ist, dass sich die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern werden, denn:

„Wenn so viel Zeit mit online- statt mit realen Interaktionen verbracht wird, könnte sich eine interpersonelle Dynamik wie die Empathie sicher verändern. So ist es womöglich leichter, Freundschaften und Beziehungen online zu etablieren, doch diese Fähigkeiten werden sich nicht in reibungslose soziale Beziehungen im wirklichen Leben übertragen lassen.“

Studien, welche die Veränderungen durch die Virtualität erforschen, kommen zu dem beunruhigenden Ergebnis, dass innerhalb weniger Jahre die Empathiefähigkeit junger Menschen teilweise erheblich (bis zu 40%) abgenommen hat.

Der Konstruktivismus ist eine Perspektive, die genau zu dieser Zeit passt. Er entspricht einer Kulturentwicklung, in der sich die Unterscheidungen zwischen Bild und Original, Schein und Sein, Virtualität und Realität zunehmend nivellieren.

Die Korrektur von Illusionen und Projektionen kann nur durch die aktive Auseinandersetzung mit der Welt und durch die Begegnung mit anderen erfolgen. Das letzte Kriterium für die Wirklichkeit ist der Widerstand und das Widerfahrnis: das, was uns zustößt, was wir nicht berechnen können.

Die Gegenwart überflutet uns mit Bildern und diese sind im besonderen Maße geeignet, unsere Imagination anzufachen. Gleichzeitig hypnotisieren sie uns und überrumpeln sie unsere Wahrnehmung.

Herr Fuchs plädiert dafür, dass wir lernen sollen, diese Flut einzudämmen und stattdessen wieder zu sinnlichen Erfahrungen und leiblich gegenwärtigen Begegnungen zurückfinden.

Martin Buber war der Ansicht, dass alles wirklich menschliche Leben, Begegnung sei. Herr Fuchs bringt das auf die folgende Schlussformel:

Nur der andere ist ein Sein jenseits des bloßen ‚für mich‘, jenseits des medialen Idealismus oder der neurokonstruktivistischen Innenwelt, aus der wir nie hinausgelangen.

Einzig der andere befreit mich auch aus dem Käfig meiner Vorstellungen und Projektionen, in dem ich immer nur mir selbst begegne.

Ausschließlich wenn andere für uns in konkreter Begegnung wirklich werden, werden wir auch uns selbst wirklich.

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Die Psychosomatik erkundet Psychotherapie

Das Dodo Theorem behauptet die Gleichwirksamkeit aller Psychotherapien

Bericht vom 28.06.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena. Sein Vortrag trägt den Titel: Die Zukunft der Psychotherapie

Herr Strauß präsentiert zur Auflockerung zwei Zitate von seinem Landsmann Karl Valentin: „Die Zukunft war früher auch besser.“ Und: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn es sich um die Zukunft dreht.“ Der möchte damit deutlich machen, dass der forsch formulierte Titel dieses Vortrags nicht  zu wörtlich genommen wird. Nun erfahren wir die Gliederung:

  • Die große Psychotherapiedebatte
  • „Core Knowledge“
  • Verfahrensbezogene Hindernisse
  • Zukunft

Die große Psychotherapiedebatte

Diese Überschrift entspricht einem Buchtitel, der zuerst in englischer Sprache erschienen ist und inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Die folgenden Erkenntnisse sind wesentlich diesem Buch entnommen.

Was wir sicher wissen

  • Psychotherapie ist (relativ) wirksam – relativ bezieht sich v.a. auf die hohen Rückfallquoten
  • Psychotherapie ist in der Praxis ähnlich (relativ) wirksam wie Psychotherapie in randomisierten Doppelblindstudien
  • Veränderungsprozesse dauern unterschiedlich lange
  • Therapeuten unterscheiden sich deutlich in ihrer Effektivität

Was wir ziemlich sicher wissen

  • Kontextuelle Faktoren wie Allianz, Empathie, Erwartungen, Aufklärung über die Störung etc. hängen deutlich mit dem Therapieergebnis zusammen.
  • Grafik blaue Schrift = Kontextuelle Faktoren

Was wie einigermaßen sicher wissen

  • Therapeuten werden mit zunehmenden Erfahrungen nicht besser
  • Strukturierte/fokussierte Behandlungen sind wirksamer
  • Spezifische Techniken haben einen geringen Einfluss

Worüber wir noch spekulieren

Ist die kognitive Verhaltenstherapie besser als andere (ein alter Streitpunkt). Wenn, dann nur bezogen auf „target symptoms“. Ansonsten gibt es keine wesentlichen Unterschiede bzgl. Lebensqualität, Wohlbefinden oder Funktionsniveau. Zu beachten ist der sog. Allegiance Effekt – Forscher bevorzugen „ihre“ Methode in der Beurteilung.

Core Knowledge

Was also macht den Kern des Wissens über Psychotherapie aus? Das ist nicht einfach festzustellen, denn der Diskurs der Therapieschulen ist schwierig. Das liegt zum einen daran, dass Theoretiker der verschiedenen Schulen ihre Konstrukte ungern aufgeben oder relativieren wollen. Zum anderen sind Psychotherapieverfahren auch Institutionen, die sich nur sehr schwerfällig verändern lassen.

Andere Hintergründe dieses Problems sind:

  • Lücken zwischen Forschung und Praxis
  • Unterschiedliche theoretische Ansätze zum Verständnis von Psychotherapie
  • Sprachbarrieren (z.B. zwischen Tiefenpsychologen und Verhaltenstherapeuten)
  • Wandel in der Forschungsmethodologie
  • Die Wirksamkeit vermeintlich neuer Befunde
  • Spielregeln der Wissenschaft

Diesen letzten Aspekt verdeutlicht der Vortragende mit zwei Zitaten über Wissenschaft: 1942 beanspruchte Wissenschaft noch Universalismus, Kommunalität, Disinterestedness und Organisierter Skeptizismus.

1974 liest sich die Liste so: Partikularismus, Solitarismus, Interestedness und Organisierter Dogmatismus.

Letztlich sind auch Wissenschaftler nur Menschen, die sich auch so sehen können: „Eine Karriere wird gemacht, indem Geschichte gemacht wird.“ Womit der Autor seinen Ehrgeiz öffentlich macht.

Warum aber gibt es überhaupt Konflikte in der Psychotherapie und der Psychotherapieforschung. Es sind Konflikte zwischen Vertretern einzelner Verfahren; zwischen Wissenschaft und Praxis; zwischen traditionellen Verfahren und neuen Entwicklungen.

Der Lösungsvorschlag geht dahin, dass es eine Konsenstheorie der Psychotherapie braucht. Dass Identitäten als Psychotherapeut*innen wichtiger sind als Identitäten als Vertreter*innen von Schulen.

Unter der Forschergemeinde gibt es einige Vertreter, die einen solchen Konsens befürworten. Allerdings wird auch beklagt, dass die Datenlage nach wie vor höchst bescheiden ist. Um die komplexen Veränderungsprozesse auch nur annähernd valide erforschen zu können, bräuchte es sehr viel größere Stichproben, als sie im Moment vorhanden sind. Betrachtet man dann Modelle von Veränderungen, findet man verschieden Faktoren, die jeweils für sich und im Zusammenwirken mit den anderen gemessen werden müssten.

Z.B. der Moderator der erfasst für wen und unter welchen Umständen etwas hilfreich ist. Dann der Mechanismus, der erklären kann, wie eine Intervention ihre Wirkung entfaltet sowie den Mediator, der die Veränderungen statistisch und kausal messen und erklären kann. Hypothetische Mediatoren wären z.B.

Wir erfahren nun noch etwas über „Evidenzbasierte Beziehungsfaktoren, Behandlungen und individuelle Patientenmerkmale“ – ein Buch aus einer sehr intensiven Forschungsarbeit der Autoren Norcross und Lambert. Es ist eines der wenigen evidenzbasierten Werke.

Es gibt einen Vorschlag für eine Konsens-Theorie, die für alle Psychotherapieverfahren Gültigkeit haben könnte:

  • Die Unterstützung einer positiven Therapieerwartung und die Motivation, dass Psychotherapie helfen kann
  • Möglichst eine optimale Therapeut-Klient Beziehung etablieren
  • Das Bewusstsein der Patienten für die Faktoren sensibilisieren, die mit Schwierigkeiten verbunden sein können
  • Die Ermunterung, sich für korrigierenden Erfahrungen zu öffnen
  • Die Ermunterung, sich fortlaufend Realitätsprüfungen auszusetzen

Verfahrensbezug als Hindernis

Herr Strauß leitet diesen Teil mit einem Zitat von Sigmund Freud ein. Freud schreibt in „Das Unbehagen in der Kultur“ davon, dass es einen Narzissmus der kleinen Unterschiede gebe. Dieser biete eine bequeme und relativ harmlose Möglichkeit, seine Aggressionsneigung zu befriedigen. Freud sah es als anthropologisch gegeben an, dass diese kleinen missgünstigen Gefechte in jeder Gemeinschaft ausgetragen werden.

So war ein Pionier der PT-Forschung, Klaus Grawe, auch heftiger Kritik ausgesetzt, als er seinem Buch den Untertitel „Von der Konfession zur Profession“ gegeben hatte (Titel: Psychotherapie im Wandel).

Ein amerikanischer (radikaler) Behaviorist (Rachlin) wurde zum Thema der Agoraphobie interviewt. Das Interview wurde dann in die Alltagssprache übertragen (ohne Fachtermini) und Menschen vorgelesen, die daraufhin raten sollten, aus welcher Therapierrichtung der Interviewte wohl stamme. Die meisten tippten darauf, dass es sich um eine psychodynamische Therapierichtung handeln müsse.

Der Verfahrensbezug in der Therapielandschaft ist historische entstanden und nun sehr ausdifferenziert. Jedes Verfahren bietet ein übergeordnetes Rahmenmodell mit besten Identifikationsmöglichkeiten. Es stellt Richtlinien bereit, Fachverbände, verfahrensbezogene Fortbildung und nimmt Einfluss auf die Gesetzgebung.

Versuche, die Verfahrensgrenzen zu überwinden, stoßen häufig auf harschen Widerstand. So z. B. ein Modell psychogener Störungen

Tatsächlich macht die Verfahrensorientierung auch zahlreiche Probleme

  • Hohe (über)Identifikation mit der Therapieschule; hohe Investitionskosten (zeitlich, finanziell), die zu kognitiver Dissonanz führen würden, würde man diesen Einsatz hinterfragen
  • Selbstschützende und therapieformschützende Bewertungen; Täuschungen und Placebo-Effekte, selektive Wahrnehmung und Interpretation von Ergebnissen
  • Orientierung an Gurus und Meinungsführern anstatt wissenschaftlich-kritischer Auseinandersetzung
  • Ingroup-Outgroup Dynamiken
  • Destruktive Prozess innerhalb der Profession, Ferne vom Versorgungsbedarf
  • Tendenziöse und selektive PT-Forschung
  • Behinderung von dynamischer Weiterentwicklung

Psychotherapeut*innen scheinen bemerkenswert blind für die Psychotherapieforschung zu sein. Sie stehen häufig auf dem Standpunkt, dass Forschung instrumentell nutzlos sei, nicht informativ und nicht inspirierend. Dabei ergibt die Forschung, dass Psychotherapeut*innen

Zukunft

Für die Zukunft der Psychotherapie fordert Herr Strauß die systematische Einbeziehung der Patientenperspektive zur Qualitätssicherung psychotherapeutischer Behandlungen hinsichtlich des Therapieverlaufs, der therapeutischen Beziehung und der unerwünschten Wirkungen. Außerdem möge doch bitte mehr Forschung im Praxisalltag stattfinden.

Es gibt inzwischen auch Vorschläge, wie mit Beziehungskrisen in der Therapie umgegangen werden kann. Die Interventionen sind metakommunikativ, thematisieren also die Qualität und den Inhalt der Kommunikation. Der Fokus kann dabei mehr auf dem Patienten, mehr auf dem Therapeuten oder mehr auf dem interpersonalen Feld liegen.

Fokus auf Patientenperspektive: „Was fühlen Sie gerade?“ oder: „Sie wirken etwas gereizt auf mich.“ …

Fokus auf interpersonales Feld: „Was passiert gerade zwischen uns?“ oder: „Wir scheinen eine Art Tanz auszuführen.“ …

Fokus auf Therapeutenperspektive: „Haben Sie eine Idee, was gerade in mir vorgeht?“ oder: „Was könnte mein Beitrag dazu sein, weswegen es hier gerade stockt?“ …

Ein weiteres, sehr lebendiges Forschungsfeld ist die „Nonverbale Synchronisation“. Diese können mit Filmaufnahmen, die dann von einer speziellen Software bearbeitet wird sehr spannende Einblicke ins therapeutische Geschehen vermitteln. Es geht dabei um Sequenzen, die einen hohen Grad an interpersoneller Koordination des nonverbalen Verhaltens zeigen. Z.B. die Spiegelung von Körperhaltungen, gleichzeitige Bewegungen, Imitation von Mimik … Treten diese Phänomene auf, sind sie mit prosozialem Verhalten korreliert.

Die Auswertung ergibt, dass bei erhöhter Synchronie die Patienten insgesamt zufriedener sind, mehr Empathie empfinden, auch die Bindung positiver einschätzen und der Therapieerfolg eher gewährleistet ist.

Unerwünschte Wirkungen

Was natürlich kein Therapeut und keine Therapeutin anstrebt sind negative Wirkungen der Psychotherapie. Trotzdem gibt es dieses Phänomen, dass sich Symptome verschlimmern, sogar die Lebens- und Funktionsbereich in Mitleidenschaft gezogen werden und mitunter sogar zu anhaltend negative Effekten führen kann. Es gibt inzwischen eine Klassifikation unerwünschter Ereignisse.

Herr Strauß wünscht sich, dass die Ergebnisse der PT-Forschung mehr Verwendung in der Praxis finden. So sollte sich z.B. das Psychotherapieangebot mehr an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren.

Er plädiert auch für eine neue Vielfalt der PT-Methoden, die eine individualisierte und personalisierte PT ermöglichen könnte. Psychotherapie könnte modular erlernt werden, mehr auf die Erwartungen fokussieren und mehr auf die Kompetenzen der Therapeut*innen.

Eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapie Aus- und Weiterbildung würde:

Eine fundierte Kenntnis der wichtigen therapeutischen Theorien und Ideen vermitteln, vom Setting abhängige und störungsabhängige Zugänge vermitteln; es wäre möglich, die Therapie zu personalisieren und Veränderungsprinzipien zum Einsatz bringen. Außerdem sollten die persönlichen Kompetenzen der Therapeut*innen in den für die Therapie relevanten Bereichen besonders gefördert werden.

Zum Schluss bekommen wir noch eine Schlussfolgerung. Forschung und Praxis schauen von unterschiedlichen Standpunkten auf die Psychotherapie. Da wo ihre Erkenntnisse einander ähnlich werden, könnten womöglich die Kerngewissheiten gefunden werden.

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Die Psychosomatik erkundet Musik

Musiker können erkranknen

Bericht vom 21.06.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Sein Vortrag trägt den Titel: Wirkungen von Musik auf Körper und Seele: Neurobiologische und musikpsychologische Aspekte

Herr Altenmüller präsentiert zunächst die Gliederung:

  1. Musik ist universell
  2. Musik hören und machen als Prozess der Umwandlung von Unsicherheit
  3. Musik erzeugt Neuroplastizität und unterliegt Metaplastizität
  4. Es ist nie zu spät: auch mit 70 kann man Klavier lernen
  5. Aber manchmal kann zu viel Musik auch schlecht sein: Dystonie
  6. Ausblick mit Musik

Musik ist universell

Zum Punkt eins präsentiert uns Herr Altenmüller zwei Bilder. Das eine ist ein Foto von 2010, das einen San-Jungen mit einer sog. Mundharfe zeigt. Eine Saite, die mit dem Mund gehalten und gespannt wird und mit einer Art Bogen angeschlagen werden kann. Das andere Bild ist von einer Höhlenmalerei ca. 16 000 Jahr v.u.Z. Es zeigt einen Schamanen (mutmaßlich), der ebenfalls dieses Instrument bespielt und dazu tanzt. Musik hat also eine Verbindung zu Spiritualität, Bewegung, Raum und auch die Qualität des sich Versenkens beim Spiel.

Musik verbindet Menschen, denn nur Menschen haben überhaupt die Kapazität, Musik hören zu können (s.u.). Als Beispiel hören wir ein kleines spontanes Straßenkonzert, an dem uns der Vortragende erläutert, dass die Beteiligten nicht nur einen Rhythmus klatschen können, sondern auch noch, die Zukunft vorwegnehmend, den Rhythmus beschleunigen können und so die Musik auch direkt in Bewegung umsetzen.

Nun bekommen wir den Nachbau einer 18000 Jahre alten Knochenflöte zu sehen und zu hören. Die Löcher sind so gebohrt, dass die Tonhöhenskala dieser Flöte uns vertraut ist. Herr Altenmüller spielt kurz den „Bruder Jakob“ an und ein kleines Stück von Brahms. Allerdings müssen wir einschränkend berücksichtigen, dass wir nicht wissen können, ob die damaligen Menschen die Flöte auch so benutzt haben oder nicht vielmehr ganz andere Anblastechniken verwendet haben.

Was ist also Musik? Musik ist das, was eine hinreichend große Anzahl von Hörern als solche ansieht. Oder etwas technischer: Musik sind bewusst gestaltete, zeitlich strukturierte akustische Phänomene a) in sozialen Kontexten, die b) nicht sprachlich sind. Victor Hugo meinte dazu: „Musik drückt das aus, was nicht mit Worten gesagt werden kann, worüber es aber unmöglich ist zu schweigen.“

Das Wunder des Musikhörens

Wie werden Klänge zu Musik? Bevor aus den Schwingungen der Luft Musik entsteht müssen diese erst verarbeitet werden und das geschieht wesentlich im Gehirn. Es bedarf mindestens fünf Umschaltstellen bevor wir ein Hörerlebnis als Musik erkennen. Dabei spielt auch der Sehsinn eine Rolle, z.B. wenn wir sehen, dass der Vortragende zu seiner Querflöte greift, dann bereitet sich das Nervensystem schon auf Flötentöne vor.

Bereits ein einzelner Ton beinhaltet unglaublich viele Facetten und fordert unseren Hörsinn enorm heraus. Sofort ergibt sich auch die Frage: Was kommt als Nächstes? Dann hören wir einige Töne von Debussy. Vor allem die Zuhörer, die dieses Stück nicht kennen, müssen sich nun ziemlich anstrengen, denn es sind ungewohnte Töne. Herr Müller spielt und erläutert uns, was in uns vorgeht und wie sich nach und nach aus der Überforderung und Unsicherheit durch Lernen etwas Bekanntes bildet und wir uns wieder sicher fühlen können.

Neuroplastizität

Nun bekommen wir einige Bilder gezeigt, die demonstrieren, dass die Gehirne von Musikern sich von denen von Nicht-Musikern unterscheiden. Musikergehirne haben in den relevanten Gehirnarealen z. B. sensorische und motorische Regionen oder dem Kleinhirn mehr Nervenzellen als Nicht-Musiker. Das konnte nur bei Männern nachgewiesen werden, weil weibliche Gehirne sich während des Hormonzyklus stärker verändern. Es wurden auch nur klassische Musiker untersucht, weil sich deren Karrieren stark ähneln – früher Beginn, ähnliche Fertigkeiten und Repertoires. Herr Altenmüller umschreibt das damit, dass das Gehirn kristallin gewordene Lebensereignisse zeigt.

Eine weitere Studie aus Spanien zeigt vor allem den Unterschied, den ein früher (4-6 Jahre) und ein späterer (etwa 8 Jahre) Beginn für das Musizieren und das Gehirn bedeutet. Einige Gehirnregionen sind vergrößert, andere verkleinert, was daran liegt, dass diese Regionen so früh optimiert worden sind. Dieses Phänomen wird Metaplastizität genannt. Der frühe Beginn lässt sich niemals mehr aufholen, aber man kann immer noch ein sehr guter Musiker werden.

Nun eine Studie, die zeigt, dass Neuroplastizität nicht endet, sondern auch im höheren Lebensalter wirksam wird. Herr Altenmüller stellt uns ausgiebig das Design der Studie vor. Es besteht aus zwei Gruppen, die jeweils ein Jahr lang eine Gruppe Klavierunterricht bekommt und die andere theoretische Hintergründe von Musik erlernt. Es wird ausgiebig getestet, z. B. das Hörvermögen und auch gescannt und zwar davor in der Mitte und danach.

Die Ergebnisse sind recht eindrucksvoll. Beide Gruppen hören nach Ablauf des Jahres besser. Am besten schneiden Frauen ab, die Klavier geübt haben, sie hören auf dem linken Ohr erheblich besser als zuvor. Die Gehirnscans zeigen, dass die Musikergruppe auch mehr Gehirnmasse in verschiedenen Bereichen des Gehirns zugelegt hat. Also: Musik lernen lohnt sich auch im Alter noch und die Gehirne von Musiker*innen sind im Schnitt fünf Jahre jünger als die ihrer nicht-musizierenden Altersgenoss*innen.

Musikerdystonie

Unter Musikerdystonie versteht man eine Verschlechterung der feinmotorischen Kontrolle lang geübter Bewegungen beim Instrumentalspiel. Ca. 1-2% aller Musiker sind davon betroffen. Wir sehen verschiedene Beispiele von einem Gitarristen, dessen einer Finger ihm nicht mehr gehorcht und einen Hornisten, dem das Anblasen nicht mehr gut gelingt.

Die Dystonie tritt im mittleren bis höheren Lebensalter auf, seltener in jungen Jahren. Die Risikofaktoren sind in der Grafik aufgelistet. Die Musikmedizin versucht natürlich den Betroffenen zu helfen. Dazu werden u.a. Aufnahmen im Kernspin gemacht, während der Musiker sein Instrument spielt. Die Vorstellung war, dass damit eine Art Feedback-Training möglich wird. Allerdings gelang das nicht. Dystonie ist eine kontextgebundene und aufgabenspezifische Erkrankung und die wenigen Muskelspindeln der Zunge lassen keine Rückmeldungen entstehen – wir merken in aller Regel nicht, was wir gerade mit der Zunge machen.

Ein wesentlicher Risikofaktor stellt eine frühe Traumatisierung dar. Das kann Scheidung der Eltern sein, Vernachlässigung oder unverhältnismäßige Strafen. Die Kinder haben dann keine Möglichkeit, ein stabiles Stressmanagement zu erwerben.

Zum Abschluss berichtet Herr Altenmüller von den vier Apokalyptischen Reitern von Musikererkrankungen. Er bedauert, dass er nicht schon sehr viel früher erkannt hat, wie wesentlich diese Reiter für Krankheitsausbruch und -Verlauf sind. Es sind die Wut auf sich selbst beim Fehlermachen. Die Scham vor den Kolleg*innen, dass sie es nicht merken sollen. Das Schuldgefühl, sich selbst überlastet zu haben und die Angst seinen Beruf aufgeben zu müssen.

Zum Abschluss spielt uns der Dozent noch einmal das Stück „Syrinx“ von Debussy vor und einmal mehr dürfen wir seine Kunstfertigkeit an der Querflöte bewundern.

Hier geht es zum Vortrag,