Die Psychosomatik erkundet Psychotherapie

Das Dodo Theorem behauptet die Gleichwirksamkeit aller Psychotherapien

Bericht vom 28.06.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin, Psychotherapie und Psychoonkologie des Universitätsklinikums Jena. Sein Vortrag trägt den Titel: Die Zukunft der Psychotherapie

Herr Strauß präsentiert zur Auflockerung zwei Zitate von seinem Landsmann Karl Valentin: „Die Zukunft war früher auch besser.“ Und: „Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn es sich um die Zukunft dreht.“ Der möchte damit deutlich machen, dass der forsch formulierte Titel dieses Vortrags nicht  zu wörtlich genommen wird. Nun erfahren wir die Gliederung:

  • Die große Psychotherapiedebatte
  • „Core Knowledge“
  • Verfahrensbezogene Hindernisse
  • Zukunft

Die große Psychotherapiedebatte

Diese Überschrift entspricht einem Buchtitel, der zuerst in englischer Sprache erschienen ist und inzwischen auch auf Deutsch vorliegt. Die folgenden Erkenntnisse sind wesentlich diesem Buch entnommen.

Was wir sicher wissen

  • Psychotherapie ist (relativ) wirksam – relativ bezieht sich v.a. auf die hohen Rückfallquoten
  • Psychotherapie ist in der Praxis ähnlich (relativ) wirksam wie Psychotherapie in randomisierten Doppelblindstudien
  • Veränderungsprozesse dauern unterschiedlich lange
  • Therapeuten unterscheiden sich deutlich in ihrer Effektivität

Was wir ziemlich sicher wissen

  • Kontextuelle Faktoren wie Allianz, Empathie, Erwartungen, Aufklärung über die Störung etc. hängen deutlich mit dem Therapieergebnis zusammen.
  • Grafik blaue Schrift = Kontextuelle Faktoren

Was wie einigermaßen sicher wissen

  • Therapeuten werden mit zunehmenden Erfahrungen nicht besser
  • Strukturierte/fokussierte Behandlungen sind wirksamer
  • Spezifische Techniken haben einen geringen Einfluss

Worüber wir noch spekulieren

Ist die kognitive Verhaltenstherapie besser als andere (ein alter Streitpunkt). Wenn, dann nur bezogen auf „target symptoms“. Ansonsten gibt es keine wesentlichen Unterschiede bzgl. Lebensqualität, Wohlbefinden oder Funktionsniveau. Zu beachten ist der sog. Allegiance Effekt – Forscher bevorzugen „ihre“ Methode in der Beurteilung.

Core Knowledge

Was also macht den Kern des Wissens über Psychotherapie aus? Das ist nicht einfach festzustellen, denn der Diskurs der Therapieschulen ist schwierig. Das liegt zum einen daran, dass Theoretiker der verschiedenen Schulen ihre Konstrukte ungern aufgeben oder relativieren wollen. Zum anderen sind Psychotherapieverfahren auch Institutionen, die sich nur sehr schwerfällig verändern lassen.

Andere Hintergründe dieses Problems sind:

  • Lücken zwischen Forschung und Praxis
  • Unterschiedliche theoretische Ansätze zum Verständnis von Psychotherapie
  • Sprachbarrieren (z.B. zwischen Tiefenpsychologen und Verhaltenstherapeuten)
  • Wandel in der Forschungsmethodologie
  • Die Wirksamkeit vermeintlich neuer Befunde
  • Spielregeln der Wissenschaft

Diesen letzten Aspekt verdeutlicht der Vortragende mit zwei Zitaten über Wissenschaft: 1942 beanspruchte Wissenschaft noch Universalismus, Kommunalität, Disinterestedness und Organisierter Skeptizismus.

1974 liest sich die Liste so: Partikularismus, Solitarismus, Interestedness und Organisierter Dogmatismus.

Letztlich sind auch Wissenschaftler nur Menschen, die sich auch so sehen können: „Eine Karriere wird gemacht, indem Geschichte gemacht wird.“ Womit der Autor seinen Ehrgeiz öffentlich macht.

Warum aber gibt es überhaupt Konflikte in der Psychotherapie und der Psychotherapieforschung. Es sind Konflikte zwischen Vertretern einzelner Verfahren; zwischen Wissenschaft und Praxis; zwischen traditionellen Verfahren und neuen Entwicklungen.

Der Lösungsvorschlag geht dahin, dass es eine Konsenstheorie der Psychotherapie braucht. Dass Identitäten als Psychotherapeut*innen wichtiger sind als Identitäten als Vertreter*innen von Schulen.

Unter der Forschergemeinde gibt es einige Vertreter, die einen solchen Konsens befürworten. Allerdings wird auch beklagt, dass die Datenlage nach wie vor höchst bescheiden ist. Um die komplexen Veränderungsprozesse auch nur annähernd valide erforschen zu können, bräuchte es sehr viel größere Stichproben, als sie im Moment vorhanden sind. Betrachtet man dann Modelle von Veränderungen, findet man verschieden Faktoren, die jeweils für sich und im Zusammenwirken mit den anderen gemessen werden müssten.

Z.B. der Moderator der erfasst für wen und unter welchen Umständen etwas hilfreich ist. Dann der Mechanismus, der erklären kann, wie eine Intervention ihre Wirkung entfaltet sowie den Mediator, der die Veränderungen statistisch und kausal messen und erklären kann. Hypothetische Mediatoren wären z.B.

Wir erfahren nun noch etwas über „Evidenzbasierte Beziehungsfaktoren, Behandlungen und individuelle Patientenmerkmale“ – ein Buch aus einer sehr intensiven Forschungsarbeit der Autoren Norcross und Lambert. Es ist eines der wenigen evidenzbasierten Werke.

Es gibt einen Vorschlag für eine Konsens-Theorie, die für alle Psychotherapieverfahren Gültigkeit haben könnte:

  • Die Unterstützung einer positiven Therapieerwartung und die Motivation, dass Psychotherapie helfen kann
  • Möglichst eine optimale Therapeut-Klient Beziehung etablieren
  • Das Bewusstsein der Patienten für die Faktoren sensibilisieren, die mit Schwierigkeiten verbunden sein können
  • Die Ermunterung, sich für korrigierenden Erfahrungen zu öffnen
  • Die Ermunterung, sich fortlaufend Realitätsprüfungen auszusetzen

Verfahrensbezug als Hindernis

Herr Strauß leitet diesen Teil mit einem Zitat von Sigmund Freud ein. Freud schreibt in „Das Unbehagen in der Kultur“ davon, dass es einen Narzissmus der kleinen Unterschiede gebe. Dieser biete eine bequeme und relativ harmlose Möglichkeit, seine Aggressionsneigung zu befriedigen. Freud sah es als anthropologisch gegeben an, dass diese kleinen missgünstigen Gefechte in jeder Gemeinschaft ausgetragen werden.

So war ein Pionier der PT-Forschung, Klaus Grawe, auch heftiger Kritik ausgesetzt, als er seinem Buch den Untertitel „Von der Konfession zur Profession“ gegeben hatte (Titel: Psychotherapie im Wandel).

Ein amerikanischer (radikaler) Behaviorist (Rachlin) wurde zum Thema der Agoraphobie interviewt. Das Interview wurde dann in die Alltagssprache übertragen (ohne Fachtermini) und Menschen vorgelesen, die daraufhin raten sollten, aus welcher Therapierrichtung der Interviewte wohl stamme. Die meisten tippten darauf, dass es sich um eine psychodynamische Therapierichtung handeln müsse.

Der Verfahrensbezug in der Therapielandschaft ist historische entstanden und nun sehr ausdifferenziert. Jedes Verfahren bietet ein übergeordnetes Rahmenmodell mit besten Identifikationsmöglichkeiten. Es stellt Richtlinien bereit, Fachverbände, verfahrensbezogene Fortbildung und nimmt Einfluss auf die Gesetzgebung.

Versuche, die Verfahrensgrenzen zu überwinden, stoßen häufig auf harschen Widerstand. So z. B. ein Modell psychogener Störungen

Tatsächlich macht die Verfahrensorientierung auch zahlreiche Probleme

  • Hohe (über)Identifikation mit der Therapieschule; hohe Investitionskosten (zeitlich, finanziell), die zu kognitiver Dissonanz führen würden, würde man diesen Einsatz hinterfragen
  • Selbstschützende und therapieformschützende Bewertungen; Täuschungen und Placebo-Effekte, selektive Wahrnehmung und Interpretation von Ergebnissen
  • Orientierung an Gurus und Meinungsführern anstatt wissenschaftlich-kritischer Auseinandersetzung
  • Ingroup-Outgroup Dynamiken
  • Destruktive Prozess innerhalb der Profession, Ferne vom Versorgungsbedarf
  • Tendenziöse und selektive PT-Forschung
  • Behinderung von dynamischer Weiterentwicklung

Psychotherapeut*innen scheinen bemerkenswert blind für die Psychotherapieforschung zu sein. Sie stehen häufig auf dem Standpunkt, dass Forschung instrumentell nutzlos sei, nicht informativ und nicht inspirierend. Dabei ergibt die Forschung, dass Psychotherapeut*innen

Zukunft

Für die Zukunft der Psychotherapie fordert Herr Strauß die systematische Einbeziehung der Patientenperspektive zur Qualitätssicherung psychotherapeutischer Behandlungen hinsichtlich des Therapieverlaufs, der therapeutischen Beziehung und der unerwünschten Wirkungen. Außerdem möge doch bitte mehr Forschung im Praxisalltag stattfinden.

Es gibt inzwischen auch Vorschläge, wie mit Beziehungskrisen in der Therapie umgegangen werden kann. Die Interventionen sind metakommunikativ, thematisieren also die Qualität und den Inhalt der Kommunikation. Der Fokus kann dabei mehr auf dem Patienten, mehr auf dem Therapeuten oder mehr auf dem interpersonalen Feld liegen.

Fokus auf Patientenperspektive: „Was fühlen Sie gerade?“ oder: „Sie wirken etwas gereizt auf mich.“ …

Fokus auf interpersonales Feld: „Was passiert gerade zwischen uns?“ oder: „Wir scheinen eine Art Tanz auszuführen.“ …

Fokus auf Therapeutenperspektive: „Haben Sie eine Idee, was gerade in mir vorgeht?“ oder: „Was könnte mein Beitrag dazu sein, weswegen es hier gerade stockt?“ …

Ein weiteres, sehr lebendiges Forschungsfeld ist die „Nonverbale Synchronisation“. Diese können mit Filmaufnahmen, die dann von einer speziellen Software bearbeitet wird sehr spannende Einblicke ins therapeutische Geschehen vermitteln. Es geht dabei um Sequenzen, die einen hohen Grad an interpersoneller Koordination des nonverbalen Verhaltens zeigen. Z.B. die Spiegelung von Körperhaltungen, gleichzeitige Bewegungen, Imitation von Mimik … Treten diese Phänomene auf, sind sie mit prosozialem Verhalten korreliert.

Die Auswertung ergibt, dass bei erhöhter Synchronie die Patienten insgesamt zufriedener sind, mehr Empathie empfinden, auch die Bindung positiver einschätzen und der Therapieerfolg eher gewährleistet ist.

Unerwünschte Wirkungen

Was natürlich kein Therapeut und keine Therapeutin anstrebt sind negative Wirkungen der Psychotherapie. Trotzdem gibt es dieses Phänomen, dass sich Symptome verschlimmern, sogar die Lebens- und Funktionsbereich in Mitleidenschaft gezogen werden und mitunter sogar zu anhaltend negative Effekten führen kann. Es gibt inzwischen eine Klassifikation unerwünschter Ereignisse.

Herr Strauß wünscht sich, dass die Ergebnisse der PT-Forschung mehr Verwendung in der Praxis finden. So sollte sich z.B. das Psychotherapieangebot mehr an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren.

Er plädiert auch für eine neue Vielfalt der PT-Methoden, die eine individualisierte und personalisierte PT ermöglichen könnte. Psychotherapie könnte modular erlernt werden, mehr auf die Erwartungen fokussieren und mehr auf die Kompetenzen der Therapeut*innen.

Eine wissenschaftlich fundierte Psychotherapie Aus- und Weiterbildung würde:

Eine fundierte Kenntnis der wichtigen therapeutischen Theorien und Ideen vermitteln, vom Setting abhängige und störungsabhängige Zugänge vermitteln; es wäre möglich, die Therapie zu personalisieren und Veränderungsprinzipien zum Einsatz bringen. Außerdem sollten die persönlichen Kompetenzen der Therapeut*innen in den für die Therapie relevanten Bereichen besonders gefördert werden.

Zum Schluss bekommen wir noch eine Schlussfolgerung. Forschung und Praxis schauen von unterschiedlichen Standpunkten auf die Psychotherapie. Da wo ihre Erkenntnisse einander ähnlich werden, könnten womöglich die Kerngewissheiten gefunden werden.

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Die Psychosomatik erkundet Musik

Musiker können erkranknen

Bericht vom 21.06.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Eckart Altenmüller, Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Sein Vortrag trägt den Titel: Wirkungen von Musik auf Körper und Seele: Neurobiologische und musikpsychologische Aspekte

Herr Altenmüller präsentiert zunächst die Gliederung:

  1. Musik ist universell
  2. Musik hören und machen als Prozess der Umwandlung von Unsicherheit
  3. Musik erzeugt Neuroplastizität und unterliegt Metaplastizität
  4. Es ist nie zu spät: auch mit 70 kann man Klavier lernen
  5. Aber manchmal kann zu viel Musik auch schlecht sein: Dystonie
  6. Ausblick mit Musik

Musik ist universell

Zum Punkt eins präsentiert uns Herr Altenmüller zwei Bilder. Das eine ist ein Foto von 2010, das einen San-Jungen mit einer sog. Mundharfe zeigt. Eine Saite, die mit dem Mund gehalten und gespannt wird und mit einer Art Bogen angeschlagen werden kann. Das andere Bild ist von einer Höhlenmalerei ca. 16 000 Jahr v.u.Z. Es zeigt einen Schamanen (mutmaßlich), der ebenfalls dieses Instrument bespielt und dazu tanzt. Musik hat also eine Verbindung zu Spiritualität, Bewegung, Raum und auch die Qualität des sich Versenkens beim Spiel.

Musik verbindet Menschen, denn nur Menschen haben überhaupt die Kapazität, Musik hören zu können (s.u.). Als Beispiel hören wir ein kleines spontanes Straßenkonzert, an dem uns der Vortragende erläutert, dass die Beteiligten nicht nur einen Rhythmus klatschen können, sondern auch noch, die Zukunft vorwegnehmend, den Rhythmus beschleunigen können und so die Musik auch direkt in Bewegung umsetzen.

Nun bekommen wir den Nachbau einer 18000 Jahre alten Knochenflöte zu sehen und zu hören. Die Löcher sind so gebohrt, dass die Tonhöhenskala dieser Flöte uns vertraut ist. Herr Altenmüller spielt kurz den „Bruder Jakob“ an und ein kleines Stück von Brahms. Allerdings müssen wir einschränkend berücksichtigen, dass wir nicht wissen können, ob die damaligen Menschen die Flöte auch so benutzt haben oder nicht vielmehr ganz andere Anblastechniken verwendet haben.

Was ist also Musik? Musik ist das, was eine hinreichend große Anzahl von Hörern als solche ansieht. Oder etwas technischer: Musik sind bewusst gestaltete, zeitlich strukturierte akustische Phänomene a) in sozialen Kontexten, die b) nicht sprachlich sind. Victor Hugo meinte dazu: „Musik drückt das aus, was nicht mit Worten gesagt werden kann, worüber es aber unmöglich ist zu schweigen.“

Das Wunder des Musikhörens

Wie werden Klänge zu Musik? Bevor aus den Schwingungen der Luft Musik entsteht müssen diese erst verarbeitet werden und das geschieht wesentlich im Gehirn. Es bedarf mindestens fünf Umschaltstellen bevor wir ein Hörerlebnis als Musik erkennen. Dabei spielt auch der Sehsinn eine Rolle, z.B. wenn wir sehen, dass der Vortragende zu seiner Querflöte greift, dann bereitet sich das Nervensystem schon auf Flötentöne vor.

Bereits ein einzelner Ton beinhaltet unglaublich viele Facetten und fordert unseren Hörsinn enorm heraus. Sofort ergibt sich auch die Frage: Was kommt als Nächstes? Dann hören wir einige Töne von Debussy. Vor allem die Zuhörer, die dieses Stück nicht kennen, müssen sich nun ziemlich anstrengen, denn es sind ungewohnte Töne. Herr Müller spielt und erläutert uns, was in uns vorgeht und wie sich nach und nach aus der Überforderung und Unsicherheit durch Lernen etwas Bekanntes bildet und wir uns wieder sicher fühlen können.

Neuroplastizität

Nun bekommen wir einige Bilder gezeigt, die demonstrieren, dass die Gehirne von Musikern sich von denen von Nicht-Musikern unterscheiden. Musikergehirne haben in den relevanten Gehirnarealen z. B. sensorische und motorische Regionen oder dem Kleinhirn mehr Nervenzellen als Nicht-Musiker. Das konnte nur bei Männern nachgewiesen werden, weil weibliche Gehirne sich während des Hormonzyklus stärker verändern. Es wurden auch nur klassische Musiker untersucht, weil sich deren Karrieren stark ähneln – früher Beginn, ähnliche Fertigkeiten und Repertoires. Herr Altenmüller umschreibt das damit, dass das Gehirn kristallin gewordene Lebensereignisse zeigt.

Eine weitere Studie aus Spanien zeigt vor allem den Unterschied, den ein früher (4-6 Jahre) und ein späterer (etwa 8 Jahre) Beginn für das Musizieren und das Gehirn bedeutet. Einige Gehirnregionen sind vergrößert, andere verkleinert, was daran liegt, dass diese Regionen so früh optimiert worden sind. Dieses Phänomen wird Metaplastizität genannt. Der frühe Beginn lässt sich niemals mehr aufholen, aber man kann immer noch ein sehr guter Musiker werden.

Nun eine Studie, die zeigt, dass Neuroplastizität nicht endet, sondern auch im höheren Lebensalter wirksam wird. Herr Altenmüller stellt uns ausgiebig das Design der Studie vor. Es besteht aus zwei Gruppen, die jeweils ein Jahr lang eine Gruppe Klavierunterricht bekommt und die andere theoretische Hintergründe von Musik erlernt. Es wird ausgiebig getestet, z. B. das Hörvermögen und auch gescannt und zwar davor in der Mitte und danach.

Die Ergebnisse sind recht eindrucksvoll. Beide Gruppen hören nach Ablauf des Jahres besser. Am besten schneiden Frauen ab, die Klavier geübt haben, sie hören auf dem linken Ohr erheblich besser als zuvor. Die Gehirnscans zeigen, dass die Musikergruppe auch mehr Gehirnmasse in verschiedenen Bereichen des Gehirns zugelegt hat. Also: Musik lernen lohnt sich auch im Alter noch und die Gehirne von Musiker*innen sind im Schnitt fünf Jahre jünger als die ihrer nicht-musizierenden Altersgenoss*innen.

Musikerdystonie

Unter Musikerdystonie versteht man eine Verschlechterung der feinmotorischen Kontrolle lang geübter Bewegungen beim Instrumentalspiel. Ca. 1-2% aller Musiker sind davon betroffen. Wir sehen verschiedene Beispiele von einem Gitarristen, dessen einer Finger ihm nicht mehr gehorcht und einen Hornisten, dem das Anblasen nicht mehr gut gelingt.

Die Dystonie tritt im mittleren bis höheren Lebensalter auf, seltener in jungen Jahren. Die Risikofaktoren sind in der Grafik aufgelistet. Die Musikmedizin versucht natürlich den Betroffenen zu helfen. Dazu werden u.a. Aufnahmen im Kernspin gemacht, während der Musiker sein Instrument spielt. Die Vorstellung war, dass damit eine Art Feedback-Training möglich wird. Allerdings gelang das nicht. Dystonie ist eine kontextgebundene und aufgabenspezifische Erkrankung und die wenigen Muskelspindeln der Zunge lassen keine Rückmeldungen entstehen – wir merken in aller Regel nicht, was wir gerade mit der Zunge machen.

Ein wesentlicher Risikofaktor stellt eine frühe Traumatisierung dar. Das kann Scheidung der Eltern sein, Vernachlässigung oder unverhältnismäßige Strafen. Die Kinder haben dann keine Möglichkeit, ein stabiles Stressmanagement zu erwerben.

Zum Abschluss berichtet Herr Altenmüller von den vier Apokalyptischen Reitern von Musikererkrankungen. Er bedauert, dass er nicht schon sehr viel früher erkannt hat, wie wesentlich diese Reiter für Krankheitsausbruch und -Verlauf sind. Es sind die Wut auf sich selbst beim Fehlermachen. Die Scham vor den Kolleg*innen, dass sie es nicht merken sollen. Das Schuldgefühl, sich selbst überlastet zu haben und die Angst seinen Beruf aufgeben zu müssen.

Zum Abschluss spielt uns der Dozent noch einmal das Stück „Syrinx“ von Debussy vor und einmal mehr dürfen wir seine Kunstfertigkeit an der Querflöte bewundern.

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Die Psychosomatik erkundet Mitgefühl und Meditation

Bericht vom 31.05.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Dr. Corina Aguilar-Raab: „Achtsamkeits-, Mitgefühls- und Mediationsbasierte Interventionen in der Psychotherapie“

Frau Aguilar-Raab forscht an und arbeitet mit den Themen, die sie uns in ihrem Vortrag vorstellen möchte. Zur Einführung bietet sie eine geführte Meditation an.

Auf der Basis dieser Erfahrung möchte sie uns darauf hinweisen, dass die innere Haltung mitentscheidet, wie ich eine Situation bewerte. Insgesamt sei das Feld der Meditationsbasierten Interventionen viel zu groß, um es in der Kürze der Zeit zu erläutern. Sie möchte uns vermitteln, was sich hinter Achtsamkeitsbasierten Interventionen verbirgt und auch etwas zur Wirksamkeit dieser Methoden.

Überblick:

Allgemeine Einführung: Meditationsbasierte Interventionen im klinischen Bereich

Achtsamkeitsbasierte Interventionen

Mitgefühlsbasierte Interventionen

Zusammenfassung, Perspektiven und Diskussion

Allgemeine Einführung

Wir sehen zunächst eine Folie mit der Überschrift: Kontemplative Praktiken im klinischen Kontext. Darunter finden sich die zu hinterfragenden Themen:

Entspannung vs. Kultivierung von sozio-emotionalen (ethischen) Aspekte als übende Verfahren

Körpereinbezug

Säkularität – Zielhorizont

Methode – Zustand

Transdiagnostik

Schulen-übergreifend

Beziehung

Patient*innen

Therapeut*innen

Patient*innen und Therapeut*innen

Psychotherapie: Outcome Prozess

Es geht im klinischen Setting nicht um Wohlbefinden und/oder Entspannung, obwohl sich beide Befindlichkeiten häufig einstellen. Es geht auch nicht darum, irgendwelche spirituellen oder religiösen Ideen anzuhängen, sondern eher darum, innere Qualitäten zu pflegen, seine Persönlichkeitseigenschaften kennenzulernen und evtl. zu überarbeiten. Tatsächlich spielen dabei Werte, also ethische Fragen, eine wichtige Rolle – also ob es mir möglich ist, in Übereinstimmung mit meinen Werten zu leben. Gerade in einer Klinik können die großen Lebensfragen auftauchen, also: Wieso passiert mir das? Warum geht es mir so und anderen nicht? …

Sie erwähnt ihre systemische Perspektive, aus der heraus sie immer nach dem Kontext einer Erfahrung fragt. Es braucht einen Horizont und einen Rahmen für das, was ich tue und für das Ziel, an das ich gelangen will.

Meditation und Psychotherapie

Meditation und Achtsamkeit in der Psychotherapie wirft viele Fragen auf. Was wird da gemacht? Ist es im Prozessverlauf? Welche Methoden kommen zum Einsatz? Auf welchen Zustand möchte ich evtl. hinaus? Was ist nachhaltig? …

Es wurden bereits zahlreiche klinische Studien zur Wirkung von Achtsamkeit an vielen Menschen mit allen möglichen Diagnosen erforscht. Aber eine Grundfrage nämlich: Was wirkt eigentlich für wen, wann, wie genau? Also die Grundfrage von Passung oder Individualisierung ist noch weitgehend unbeantwortet. An dieser Stelle plädiert sie für ein Methoden-übergreifendes Vorgehen.

Nun wirft sie noch einen Blick auf Bindung, Beziehung und therapeutische Allianz und die Frage, was diese Allianz befördern kann. Gerade wenn psychotherapeutische Interventionen und Achtsamkeitselemente verwendet werden, entsteht die Frage, wie beides zusammenwirkt und welche tieferen Prozesse damit einhergehen. Wir befinden uns also in einem hochdynamischen Forschungsfeld, das uns noch viele Erkenntnisse verspricht.

Achtsamkeitsbasierte Interventionen

Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeitslenkung, die möglichst nicht wertend und akzeptierend durchgeführt wird. Dabei verbleibt die Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick. Bei regelmäßigem Üben ergibt sich dann eine verkörperte Erfahrung, die womöglich zu einer Veränderung der inneren Haltung führt, die sich positiv auf die Lebensqualität auswirken kann.

Zu unterscheiden wären zwei Grundformen: Die Fokus Aufmerksamkeit und die Offene Wahrnehmung. Fokus Aufmerksamkeit übt, seinen Geist auf einem gewählten Objekt zu halten. Auch wenn die Aufmerksamkeit wandert, sie immer wieder zum Objekt zurückzubringen. Damit können Klient*innen die Fähigkeit erwerben, z. B. ihren Grübeleien zu entkommen.

Offene Wahrnehmung umschreibt die Fähigkeit der Selbstdistanzierung, also sich gewissermaßen beim Leben und Erleben zuzusehen, ohne sich auf die emotionalen Komponenten des Geschehens einzulassen. Dabei geht es nicht darum, den Geist leer werden zu lassen, sondern die Unterscheidungsfähigkeiten für innere Zustände zu verfeinern.

Achtsamkeit

Frau Aguilar-Raab versteht das als einen erweiterten Bezugsrahmen, der sich auf diese Art entwickeln kann. Dazu bietet sie uns ein Zitat an: „Achtsamkeit ist eines der zentralen Dinge, die uns helfen, unseren Werten treu zu bleiben und entsprechend zu handeln, während der Umstand, „uns selbst zu vergessen“, häufig die Ursache dafür ist, unser Handeln nicht auf unsere Werte abzustimmen.“ Somit kann Achtsamkeit uns dabei helfen, unseren inneren Kompass wiederzufinden und ihn auch zu nutzen.

Offene Wahrnehmung ist Meta-Denken, also Denken über das Gedachte aus der Beobachterposition. Die Fähigkeit zum Meta-Denken verhilft uns zu Orientierung und Selbstklärung unserer Motive, Ziele und Handlungen sowohl im Selbstumgang als auch im sozialen Kontext.

Wirksamkeit von Achtsamkeit

Es gibt bereits etliche Studien und Veröffentlichungen zur Wirksamkeit von Achtsamkeit – ihre Anzahl ist noch am Wachsen. Es zeigen sich positive Effekte ab, allerdings sind zahlreiche Studien methodisch fragwürdig.

Auch und vor allem können Menschen in helfenden Berufen von Achtsamkeit profitieren, denn sie sind überdurchschnittlich häufig von Burn-out, Depression bis hin zur Suizidalität betroffen. In diese Gruppe zeigte die Pflege von Selbstmitgefühl große Wirkung.

Gruppensettings, die über 10-12 Wochen gehen und noch einen Intensivtag bieten, schneiden dabei am besten ab. Als Quintessenz ergibt der derzeitige Forschungsstand die Wirkmechanismen:

Aufmerksamkeitsregulation

Emotionsregulation

Selbstwahrnehmung (auch Körpergewahrsein)

>Selbst und Co-Regulation

Der Aspekt der Regulation steht also im Zentrum des Achtsamkeitstrainings bzw. deren Praxis. Dabei geht es nicht darum, negative Erfahrungen, Gefühle etc. zu vermeiden, sondern angemessen mit ihnen umgehen zu können.

Mitgefühlsbasierte Interventionen

Zur Einführung in diesen Themenkreis bietet uns die Vortragende einige Begriffsdefinitionen. Der ursprüngliche Begriff „empatheia“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Leidenschaft“. Die phänomenologische Definition umschreibt Empathie mit Einfühlungsvermögen und meint damit eine Antwort auf unmittelbar wahrgenommenen, vorgestellten, erschlossenen Zustand in einem anderen.

Empathie wird in psychodynamischer Sichtweise operationalisiert, d.h. als Grundelement der Persönlichkeit betrachtet, welches mehr oder weniger ausgeprägt sein kann. Dabei umfasst Empathie mehr als nur Gefühle, sie beinhaltet auch Gedanken über den anderen, ein sich in den anderen hineindenken. Es gibt eine Reihe von Konzepten, die sich mit dieser Fähigkeit auseinandersetzen, auch die neuronale Grundlagenforschung ist damit befasst. Frau Aguilar-Raab bringt es mit dem Resonanz Begriff auf den Punkt, also mit jemandem in Resonanz kommen.

Mitleid hingegen ist die übertriebene Identifikation mit dem Schmerzlichen und Leidvollen. Hier verlieren wir den therapeutischen Bezugsrahmen und damit die therapeutische Wirksamkeit.

Es kommt also darauf an, Mitgefühl zu kultivieren. Das definiert sie folgendermaßen: „Sensitivität gegenüber Leiden in uns und in anderen mit dem Wunsch, dieses zu lindern und zu verhindern.“ Mitgefühl hat fünf Komponenten (affektive, kognitive, motivationale und behaviorale).

Erkennen von Leiden

Universalität von Leiden verstehen

Empathie

Distress Toleranz

Motivation/Verhalten zu zeigen, das zur Linderung des Leidens beiträgt, was eben nicht Mitleid ist, das mit leidet ohne Voraussicht und aktiven Veränderungswunsch. Sie plädiert für die Kultivierung einer „inneren Weite“, die uns Toleranz für das Unangenehme bietet. Innere Weite gewährt Freiheitsgrade für das Fühlen, Denken und insbesondere das Handeln. Das ermöglicht es auch mit schweren Verlusten umgehen zu können.

Frau Aguilera-Raab berichtet uns von ihrer Ausbildung zum „Cognitive Based Compassion Training“ und erläutert uns kurz die Stufen dieser Ausbildung.

Erlernen von Achtsamkeit

Zunächst geht es darum, körperliche Sicherheit zu finden, denn diese ist die Voraussetzung schlechthin, wenn ich an einer Veränderung arbeiten möchte. Im zweiten Schritt geht es um die Übung selektiver Aufmerksamkeit, die Fokussierung und die Unterbrechung (Inhibition) von Gedanken. Weiter wird das Meta-Gewahrsein trainiert und damit De-automatisiert und De-Reaktivität gestärkt. Im vierten Schritt geht es um Selbstfürsorge, Selbstverantwortung und Selbstmitgefühl. Im fünften Schritt ist das Thema „Menschliche Gemeinsamkeit“, d.h. eine erweiterte Identifikationsmöglichkeit zu entwickeln. Der sechste Schritt dreht sich dann um Interdependenz, Nähe und Wertschätzung.

Wir bekommen noch weitere Modelle vorgestellt, die Mitgefühl von Mitleid unterscheiden bzw. ein Affekt-Regulations-Modell erklären. Letzteres umfass ein Antriebssystem, eine Fürsorge- und ein Alarmsystem, die mit typischen Gefühlen einhergehen und mehr oder weniger gut aufeinander abgestimmt sind.

Auch hier dürfen ein paar Evidenzen nicht fehlen und es gibt sie tatsächlich auch. Die Compassion-Focused Therapy führt zu mehr Selbstmitgefühl – weniger Grübeleien (Ruminationen), weniger Selbstkritik und vermehrter Resilienz gegenüber Psychopathologien, dank besserer emotionaler Selbstregulation.

Es folgt nun noch eine ausführliche Darstellung eines eigenen Forschungssettings mit Paaren. Die Ergebnisse sind mehrdeutig – es scheint genügend Zeit und Übung zu brauchen, bis die Methode befriedigende Wirkungen zeigt. Weiter, dass Mitgefühl, Mentalisierung und Empathie wichtige Wirkgrößen darstellen.

Sie schließt ihren Vortrag mit einem Zitat, das mutmaßlich von Viktor Frankl stammt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktionen. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit“.

Ein sehr reichhaltiger und eloquent vorgetragener Input. Wer ihn sich ganz ansehen mag, kann das hier tun.

Die Psychosomatik erkundet Narzissmus

Bericht vom 17.05.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Marc Walter, Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste in Aargau: „Sind wir alle narzisstisch? Neue Erkenntnisse aus der Forschung“

Einführung

Wir erfahren zu Beginn, dass es wenig neurologische Forschung zum Thema gibt und wir deshalb auch nichts darüber hören werden. Spannend ist natürlich die Frage, woran ein Narzisst zu erkennen ist. Dieses Thema wird auch in den Medien häufig thematisiert – die Faustregel wäre: Der, der zuerst den anderen einen Narzissten nennt, ist meist eher der Narzisst. Der übertriebene Gebrauch dieser Zuschreibung macht den Begriff aber zunehmend unscharf.

Welche Personen fallen einem als erstes ein? Christiano Ronaldo oder Donald Trump – haben die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung? Nein, denn sie zeigen sich zwar sehr narzisstisch, leiden aber nicht darunter, was für die Diagnose erforderlich wäre. Es gibt also einen Unterschied zwischen der Bezeichnung „Narzisst“ und der „Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“.

Von Erich Fromm ist folgendes Zitat überliefert: „Man kann Narzissmus als ein Erlebniszustand definieren, indem nur die Person selbst, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihr Eigentum und alles was zu ihr gehört als real erlebt wird, während alles was nicht Teil der eigenen Person ist, keine volle Realität besitzt.“

Gliederung:

  1. Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung
  2. Neues zur Diagnose Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen
  3. Die Therapie bei Persönlichkeitsstörungen und narzisstischen Störungen

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Sigmund Freud hat das erste Narzissmus Konzept entwickelt (1914). Dann passierte lange nichts bis Heinz Kohut (1976) und bald darauf Otto Kernberg (1978) ihre Ausarbeitungen zum Thema vorlegten. Damit war auch der Weg frei, um diese Diagnose in das Klassifikationssystem der psychischen Störungen aufzunehmen.

Für Freud war Narzissmus nicht nur schlecht. Er nahm den Begriff aus der Griechischen Mythologie, in der die Geschichte von Narziss erzählt wurde. Der schöne, aber unglückliche junge Mann, der sich in sein Spiegelbild verliebt hatte. Freud gestand diesem Typus zu, dass er unabhängig, aktiv und aggressiv sei. Das ist noch eine ganz andere Perspektive als die Heutige, die den Narzissten eher negativ sieht.

Die aktuelle Einschätzung der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wird im DSM-5 im sog. Cluster B eingetragen. Dabei gilt für den Cluster A, dass er sog. bizarre Erscheinungsbilder zeigt (z.B. Paranoide PS), für B ist die Instabilität typisch (z.B. auch Bordeline) und für C gilt die Ängstlichkeit als zentrales Merkmal (z.B. Zwanghafte PS).

Nicht alle diese Persönlichkeitsstörungen kommen in psychiatrische Kliniken. Die Cluster A Typen leben gerne zurückgezogen am Waldrand und tun niemandem etwas zuleide. Und auch die ängstlichen Typen vom Typ C haben gute Chancen eine soziale Nische zu finden, in der sie weitgehend ungestört leben und sich sogar nützlich machen können. In der Psychiatrie geht es vor allem um den Cluster B, der die Antisoziale, die Borderline, die Histrionische und die Narzisstische Persönlichkeitsstörung umfasst.

Die Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Die Kernmerkmale dieses Bildes machen die Eigenschaften von Großartigkeit, dem Bedürfnis nach Bewunderung und der Mangel an Empathie aus. Gerne werden Fantasien von grenzenlosem Erfolg gepflegt – es geht dabei um Macht, Glanz und Schönheit. Die Überzeugung, ganz besonders und einzigartig zu sein, gehört auch häufig zum Erscheinungsbild, ebenso wie Anspruchsdenken und Arroganz.

Was gibt es Neues?

Neu ist zunächst, dass es eine neue Version des ICD gibt, es trägt die Zahl 11. Der ICD-11 ist seit Januar diesen Jahres gültig, aber es gibt eine fünfjährige Übergangsfrist. Für die Betrachtung der Narzisstischen PS gibt es darin eine neue Perspektive, nämlich dass Narzissmus eine allgemeine Persönlichkeitsdimension ist – in diesem Sinne sind wir tatsächlich alle Narzissten (aber nur ca. 5% haben auch eine Persönlichkeitsstörung). Erst ab einer bestimmten Schwelle wird der Narzissmus pathologisch und wenn diese Schwelle einmal überschritten ist, tendiert der Weg dahin, dass die Störung immer schlimmer wird.

Kommt dann noch Kriminalität hinzu beginnt gewissermaßen der Übergang zur Antisozialen PS, bei der, nach Ansicht des Vortragenden, immer gleichzeitig eine narzisstische Komponente vorhanden ist.

Neu ist auch die Entdeckung, dass es zwei Spielarten des pathologischen Narzissmus gibt. Das ist die gut bekannte „grandiose“ Spielart und neu entdeckt wurde die vulnerable Form. Mit der ersten Ausprägung sind folgende Beschreibungen verbunden: arrogant, aggressiv, psychopathisch, grandios, maligne, dickhäutig, manipulativ, grandiose Fantasien, Anspruchshaltung, Ausbeutung, schamlos, ansprüchlich und dominant.

Für den neuentdeckten vulnerablen Typ gibt es die Beschreibungen: schüchtern, ängstlich, sensitiv, fragil, zurückhaltend, selbstunsicher, das Selbst maskierend, abwertend, misstrauisch, neurotisch, introvertiert.

Bei allen äußerlichen Unterschieden haben doch beide Typen die genau gleichen innerlichen Probleme. Die narzisstischen Eigenschaften der Empathielosigkeit, das ausbeuterische Verhalten und das dringende Bedürfnis nach Bewunderung wird vom einen von vorneherein gezeigt, beim anderen erst mit der Zeit. Der vulnerable Typ ist also schwieriger zu diagnostizieren. Er oder sie kommt meist mit depressiven oder ängstlichen Problemen in die Klinik und erst mit der Zeit zeigt sich dann der fragile Selbstwert und die tiefe Selbstunsicherheit.

Erkennen von Narzissmus

Das Leitsymptom schlechthin zeigt sich, wenn der Betroffene mit einer Kränkung konfrontiert wird. In der klinischen Diagnostik kann es also vorkommen, dass ein Patient mit Narzissmus Verdacht, einfach mal ein wenig länger warten muss, bevor er ins Behandlungszimmer darf. Diese Situation stellt für Betroffene eine akute Krise dar. Die Grandiosität verdeckt ihr sehr zerbrechliches Selbstwertgefühl. Der grandiose Typus empfindet dann Wut und hegt Rachegelüste und der vulnerable Typus schämt sich und empfindet Angst. Mitunter geschieht auch, dass der eine Typus in den anderen umschlägt.

Das zentrale Problem der Persönlichkeitsstörung ist also vor allem der zerbrechliche Selbstwert und sehr viele der typischen Verhaltensweisen dienen dem Selbstwertschutz. Es ist ein verzweifelter Versuch der Selbstregulation.

Narzissmus im ICD-11

Im ICD-11 gibt es den Begriff „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“ nicht mehr. Vielmehr werden Persönlichkeitsstörungen als ineinander übergehende Dimensionen betrachtet, die von leicht über mittel bis schwerwiegend sind. Berücksichtigt werden die soziale Funktionsbeeinträchtigung und aggressives und selbstdestruktives Verhalten.

Diagnostisch werden die „Domänen“ negative Emotionalität, Dissozialität, Zwanghaftigkeit, Enthemmung und Distanziertheit unterschieden. Darin finden sich dann wieder die altbekannten Beschreibungen des narzisstischen Erlebens und Verhaltens.

So wird auch deutlicher, dass von Narzisstischer PS betroffene sehr häufig weitere Erkrankungen haben – z.B. Affektive Störungen, Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitsstörungen.

Gerade bei Suchtpatient*innen finden sich anders herum sehr häufig Persönlichkeitsstörungen.

Die Therapie der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Von einer Narzisstischen PS sind so gut wie immer auch andere Menschen mitbetroffen, insbesondere Partner*innen und Familienmitglieder. Herr Walter berichtet darüber, dass er plant einen Ratgeber zu schreiben, in dem beide Seiten vorkommen.

Die PS kann mit Psychotherapie behandelt werden. Es gibt zahlreiche Werke von Verhaltenstherapeuten und psychodynamischen Therapeuten, die hier hilfreiche Tipps geben können. Von Seiten der VT bieten sich die Dialektisch-behaviorale und die Schematherapie an. Auf Seiten der Tiefenpsychologie die Übertragungsfokussierte Therapie und die Mentalisierungsbasierte Therapie.

Egal, welcher Zugang gewählt wird. Typischerweise hat die Therapie einer PS drei Phasen. In der Eingangsphase geht es darum, zuzuhören, sich auf den Patienten einzulassen, sich ganz zur Verfügung zu stellen. Schon in dieser Phase, noch mehr in der zweiten, geht es aber auch darum, konstruktive Grenzen zu ziehen. Diese Grenzziehungen werden sinnvollerweise am besten gemeinsam erarbeitet und in einer Vereinbarung festgeschrieben.

In der zweiten Phase können kleine Kränkungen, am besten augenzwinkernd, verabreicht werden. Hier ist viel Feinfühligkeit gefragt, eine gute Einschätzung wieviel schon möglich ist und was den Patienten möglicherweise in eine Krise stürzen kann. Krisen sind für Betroffene besonders prekär. Die Suizidrate für dieses Krankheitsbild ist höher, als die der Depression.

Die dritte Phase konfrontiert dann den Patienten mit der Realität. Also heraus aus den Größenfantasien und der Aufbau eines realistischen Selbstbilds, sowie Fähigkeiten zur Selbststeuerung und Kommunikation. Das kann nur gelingen, wenn die Beziehung tatsächlich trägt und das gelingt wiederum nur, wenn ich als Therapeut auch etwas Liebenswertes oder Interessantes beim meinem Klienten finden kann.

Fazit:

Es gibt einen normalen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft

Narzisstische Persönlichkeitsstörungen und antisoziale PS sind narzisstische Störungen und befinden sich auf einem Kontinuum narzisstischer Psychopathologie

Ein vulnerabler narzisstischer Typus ergänzt den grandios narzisstischen Typus

Intensive Beziehungsarbeit und dialektisches Arbeiten (Einfühlen, Begrenzen) sind entscheidend für die Psychotherapie mit narzisstischen Patientinnen und Patienten.

Ein sehr spannender und gehaltvoller Vortrag, der mit leisem Humor angereichert war.

Hier geht es zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet Psychosen

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Tania Lincoln, Universität Hamburg: „Psychotherapie bei Wahnsymptomen. Ist das verrückt?“

Einführung

Frau Lincoln möchte uns die neuesten Entwicklungen für die Psychotherapie von Psychosen vorstellen. Dazu möchte sie uns zunächst aber mit einigen grundlegenden Merkmalen der Psychose vertraut machen und das sind zunächst die Wahnsymptome. Das sind:

„Falsche Überzeugungen, die gewöhnlich mit einer Fehldeutung von Wahrnehmungen oder Erfahrungen einhergeht.“

Als Beispiele wählt sie Beziehungsideen, den Verfolgungswahn und den Größenwahn.
Beziehungswahn bedeutet, dass die Betroffenen Dinge auch sich beziehen, z. B. Zeitungsmeldungen oder auch das Getuschel der Nachbarn. Damit eng verwandt ist der Verfolgungswahn, der die Überzeugung beinhaltet, dass andere mit bösen Absichten hinter einem her seien. Größenwahn beschreibt Vorstellungen, die beinhalten, dass man z. B. Jesus, Napoleon o. ä. sei.
Wahnvorstellungen sind sehr typisch für Psychosen. In 80 % aller Erkrankungen kommen sie vor.

Stand der Dinge

Diesen Abschnitt leitet Frau Lincoln mit dem Brief einer Mutter ein. Darin beklagt die Mutter, dass ihre Tochter seit fünf Jahren stationär untergebracht ist und dass in dieser Zeit kaum eine Psychotherapie stattgefunden habe. Die Begründung dafür lautet, dass eine Psychotherapie erst nach dem Abklingen der Positivsymptome sinnvoll sei.
Diese Ansicht vertreten derzeit noch viele in der Psychiatrie tätige Menschen. Als Beleg dafür weist uns die Referentin einen Wochenplan vor, der für psychiatrische Patienten gerade eine halbe Stunde Gespräch, das nicht unbedingt psychotherapeutisch sein muss, einplant.
Ähnlich schlecht sieht es in der ambulanten Versorgung aus. Zu erwarten wäre ein Anteil von 9 % in den Praxen, tatsächlich macht der Anteil von Betroffenen gerade einmal 2,6 % aus. Sie schließt daraus, dass die Psychotherapie von Psychosen noch keine gängige Praxis im deutschen Versorgungssystem sei. Das führt sie zur Frage, warum das so ist.

Grundannahmen über Wahn

Dazu bekommen wir ein Zitat von Karl Jaspers:

„Bei Symptomen wie Wahn handelt es sich um <<gänzlich fremde erlebniswelten>>. Es ist unmöglich, einen Wahn in seiner Genese zu verstehen.“

Diese Sichtweise herrschte lange vor und kann erklären, warum es kaum Versuche gab, einen psychotherapeutischen Zugang zum Wahnerleben zu erlangen. Wahnerleben scheint außerhalb der allgemeinen psychologischen Theorien zu liegen und damit erscheint es wenig aussichtsreich.

Alltägliche Gedanken

Aber stimmen die Annahmen von Karl Jaspers überhaupt? Ist Wahn tatsächlich gänzlich fremd? Liegen uns paranoide Gedanken tatsächlich so fern? Frau Lincoln lädt und ein, das einmal bei uns selbst zu überprüfen, indem wir uns fragen: Müssen Sie sich davor schützen, von anderen ausgenutzt oder verletzt zu werden? Oder: Entdecken Sie manchmal versteckte Drohungen oder Beleidigungen, in dem, was andere sagen? Ihre Annahme ist, dass vielen Menschen solche Gedanken zumindest ansatzweise vertraut sind. Es gibt dazu auch eine Statistik, die besagt, dass 28,1 % der Bevölkerung Misstrauen kennt, 19 % Beziehungsideen und 9 % Verfolgungsideen.
Gänzlich fremd erscheinen Wahnideen also keinesfalls. Die Thematik lässt sich als Pyramide darstellen. An deren Basis, die viele Menschen umfasst, finden sich Ängste vor Zurückweisung, darüber, weniger Betroffene erfassend, Gedanken über Beziehungsideen, noch höher findet sich ein mildes Bedrohungsgefühl, darüber noch ein moderates Bedrohungsgefühl, das Ausweichmanöver begründet und ganz an der Spitze sind dann die wenigen Menschen, bei denen starke Bedrohungsgefühle bis hin zu Verschwörungstheorien zu finden sind.
Diese Häufigkeit bestärkt die Referentin in der Annahme, dass Wahn nicht so fremd sein kann, wie Jaspers es annahm und weiter, dass Wahn im Spektrum der psychologischen Möglichkeiten liegt und damit auch ein psychotherapeutischer Zugang möglich erscheint.

Kognitive Verhaltenstherapie

Der Grundgedanke der Kognitiven Verhaltenstherapie ist sehr schlicht. Jedes Ereignis führt zu einer Bewertung, die wiederum zu einer Reaktion führt. Wenn ich z. B. mitbekomme, wie meine Nachbarn miteinander tuscheln, könnte ich auf die Bewertung kommen, dass sie über mich tuscheln und das würde mich dann vielleicht dazu bringen, mich in meine Wohnung zurückzuziehen.
Dieser Ansatz hat sich für die Behandlung etlicher Depressionen sehr bewährt. Durch die psychotherapeutische Bearbeitung der Bewertungen kann die Psychotherapie erfolgreich sein. Was lag also näher, als dieses Modell auch auf Wahnsymptome anzuwenden.
Es hat sich dann herausgestellt, dass es doch nicht ganz so einfach ist. In der Behandlung psychotischer Patienten braucht es sehr viel mehr Vorarbeit, bevor man die „kognitive Umstrukturierung“ beginnen kann. Dieser Ansatz wird seit den 90er Jahren verfolgt und wird seither verfeinert. Damals war es quasi eine Sensation und heute gilt er schon als alter Hut, so Frau Lincoln.
Inzwischen gibt es Leitlinien und Manuale zur Behandlung z. B. von Schizophrenie. Deren Wirksamkeit wird natürlich ebenfalls erforscht und diese Forschung ergab, dass die VT kurz- und langfristige Effekte auf die Symptomatik hat. Allerdings schüttet Frau Lincoln gleich ein wenig Wasser in den Wein, denn Follow-Up Studien konnten die ohnehin schwachen Effektstärken nicht immer finden und der Effekt auf das Wahnerleben, war ohnehin sehr gering.

Wahn und Lebensverhältnisse

Das spornt die Vortragende an, nach besseren und wirkungsvolleren Möglichkeiten zu suchen um Psychosen zu behandeln. Also zurück zum zweiten Teil von Jaspers‘ Aussage, dass Wahn unmöglich zu verstehen sei.
Basierend auf der Erfahrung, dass Wahn prinzipiell veränderbar ist, liegt der Gedanke nahe, dass die Lebensverhältnisse eine Rolle bei der Wahnbildung spielen könnten. Wenn man nun noch die psychologischen Mechanismen identifizieren könnte, die von misslichen Lebensumständen zu Wahnvorstellungen führen, dann könnten daraus neue therapeutische Strategie entstehen.
Bekannt ist ebenfalls schon, dass psychotische Episoden häufig getriggert werden. Es gibt also soziale Stressoren, die den Ausbruch einer Wahnepisode begünstigen können.
Ebenfalls gut bekannt sind Risikofaktoren, die eine Erkrankung wahrscheinlicher werden lassen. Zu den Klassikern dieser Faktoren zählen Gen-Defekte und Gehirnschädigungen. Aber diese reichen bei weitem nicht aus, alle Wahnerkrankungen zu erklären, also müssen die sozialen Risikofaktoren unbedingt mitbedacht werden.
Eine Unvollständige Liste sozialer Risikofaktoren umfasst: Traumata, Migration, Mobbing, Diskriminierung, Minderheitenstatus, Geringes Einkommen, Aufwachsen in einer Großstadt … Betrachtet man diese Liste wird deutlich, dass die Betroffenen tatsächlich eine Menge negatives Feedback von ihrer sozialen Umwelt erhalten, also reale Erfahrungen von Zurückweisung bis Feindseligkeit vorhanden sind.

Zusätzliche Faktoren

Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass sich genetische und soziale Risikofaktoren addieren, also unabhängig voneinander wirksam werden können. Hinzu kommen auch noch biografische Vulnerabilitäten, wie z. B. Kindheitstraumen. Diese begünstigen eine psychotische Entwicklung, aber es sind dann immer die aktuellen Stressoren, die zu einem Ausbrauch führen.
Es liegt auf der Hand, dass soziale Stressoren nicht so einfach psychotherapeutisch zum Verschwinden gebracht werden können und dasselbe gilt für die Alltags-Stressoren.
Hier taucht dann die Frage auf, wie denn diese Zusammenhänge vermittelt werden. Wie machen Risikofaktoren jemanden anfällig? Was passiert auf dem Pfad zur Psychose? Wie also hängen Risikofaktoren, Vulnerabilität, Mediatoren mit aktuellen Stressoren und Wahnsymptomen zusammen?

Mechanismen der Wahnentstehung

Zunächst betrachtet Frau Lincoln auf welchen Wegen sich die Vulnerabilität bemerkbar macht bzw. übermittelt. Dazu möchte sie die affektiven, kognitiven und physiologischen Pfade etwas näher untersuchen.
Zu dieser Fragestellung hat sich auch selbst geforscht. Ein zentrales Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen aus Risikogruppen sehr ausgeprägt mit Angst reagieren, wenn sie unter Stress geraten. Diese Angst und die damit einhergehende vegetative Erregung sind als Vorläufer Symptome für Psychosen gut bekannt.
Damit ergeben sich neue Hinweise für die spezifische Vulnerabilität, nämlich dass Betroffene häufig Probleme mit der Emotions- und Stressregulation haben, was wiederum ein Hinweis auf belastende Kindheitserfahrungen ist.
Auch der physiologische Weg wurde schon erforscht und das zentrale Ergebnis besagt, dass Betroffen eine geringere Herzratenvariabilität aufweisen. Diese zeigt, wie schnell und vielseitig die Herztätigkeit auf verschiedenen Situationen reagiert. Eine geringe Variabilität findet sich sehr ausgeprägt bei Patienten mit Psychosen.

Emotionsregulation

Schaut man genauer auf die Strategien der Emotionsregulation, findet man bei Betroffenen sehr häufig dysfunktionale Strategien. Sie versuchen, die Gefühle zu unterdrücken oder kommen ins Grübeln und neigen zu Selbstbeschuldigungen. Gesunde Vergleichspersonen nutzen dagegen Ablenkung, Neubewertung oder Akzeptanz um wieder zur Ruhe zu kommen.

Das Gesamtbild

Wir sehen nun das ausgearbeitete Diagramm der Psychose Entstehung. Auf der Basis von genetischen Dispositionen, frühen Hirnschädigungen und sozialen Risikofaktoren stehen nun gestörte Emotions- und Stressregulation, die sich als Übergebrauch ungünstiger Strategien zur Emotionsregulation, sowie als gestörte psychophysiologische Selbstregulation zeigen. Diese begünstigen die Wahnsymptomatik sobald ein aktueller sozialer Stressor auftritt. Damit wären potenzielle therapeutische Ansatzpunkte klarer.

Therapeutische Erfahrungen

Frau Lincoln berichtet uns von einigen Therapie Studien, die auf der Grundlage dieses Modells durchgeführt wurden. Zum einen ging es um Achtsamkeit im Umgang mit Triggern und Sorgen in einem Kurzzeittherapie-Setting. Dies hat sich als gering hilfreich erwiesen.
Der Versuch, mithilfe von Bio-Feedback auf physiologischem Weg Einfluss zu nehmen, war nicht wesentlich erfolgreicher.

Noch mehr Faktoren

Bisher ging die Referentin noch nicht auf den kognitiven Pfad der Wahnentstehung ein, was sie nun nachholt. Kognitiv erfolgen die Bewertungen eines Ereignisses und die Bewertungsschemata entwickeln Menschen z. T. früh im Leben, meist durch die Eltern vermittelt. Es geht um die Art und Weise, sich selbst, die anderen und die Welt zu erleben und zu bewerten.
Hier zeigt die Forschung, dass Betroffene die Welt eher als gefährliche und unberechenbar erleben, sich selbst eher als schwach und wertlos und andere Menschen als stark. Gut erforscht wurde z. B. der negative Effekt von Stress auf den Selbstwert.
Damit wäre ein weiterer therapeutischer Zugang eröffnet – die Arbeit am Selbstwert. Die bisherigen Ergebnisse fallen allerdings auch hier bescheiden aus.
Also bezieht Frau Lincoln nun auch noch das Phänomen der Dopamin Dysregulation ein, denn es ist bekannt, dass dies sehr spezifisch für psychotische Erkrankungen ist. Dopamin Überschuss kann zu verzerrten Wahrnehmungen führen, was einer psychotischen Verarbeitung natürlich zuspielt.
Betroffene nehmen also einen eigentlich harmlosen Reiz bedrohlich wahr, die Angst nimmt relativ unreguliert zu und verunsichert zusätzlich. Nun sucht der Betroffene eine Erklärung für sein Erleben und die wahnhafte Erklärung kann ihm nun ein Gefühl der Erleichterung verschaffen.

Die Rolle des Denkstils

Diese ganze Dynamik wird gestützt und getragen von der Neigung der Betroffenen, schnelle Entscheidungen zu treffen. Diese Art des „schnellen Denkens“ ist gut bekannt bei psychotisch Erkrankten.
Das bringt nun eine neue therapeutische Möglichkeit ins Spiel – die Arbeit mit dem Denkstil. Im Ergebnis scheint es möglich zu sein, den Denkstil tatsächlich zu verlangsamen.

Rückzug und Vermeidungsverhalten

Ein weiteres Merkmal der Erkrankung ist, dass Betroffene sich ungern auf Augenkontakt einlassen. Weiter versuchen sie ihre Ängste mit Vorsorgemaßnahmen einzudämmen z. B. die Tür doppelt abzuschließen o. ä. Dieses Verhalten erleichtert kurzfristig führt aber langfristig immer tiefer in die Ängste.
Hier gab es psychotherapeutische Versuche in virtuellen Umwelten, die durchaus Effekte erzielt haben.

Neue Konzepte

Im Ergebnis gibt es nun eine ganze Reihe von Komponenten, die sich auch alle therapeutisch adressieren lassen, aber jede für sich nur geringe Effektstärke zeigt. Daraus ergibt sich der Gedanke: Könnte man nicht höhere Effektstärken erzielen, wenn alle Komponenten angesprochen würden? Und genau dieser Versuch wurde nun im „Feeling Safe Programm“ verwirklicht.
Es zielt auf Emotionsregulation und Verminderung von Sorgen, sowie auf eine Veränderung des Denkstils sowie das Schlafverhalten und den Umgang mit Stimmen. Das ganze Programm ist modular aufgebaut und kann an die spezifischen Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden.
Das Programm erzielt tatsächlich relativ hohe Effektstärken und ist inzwischen sehr anerkannt. Wir sehen noch den Werbeclip dazu.
Frau Lincoln schließt, wie sie angefangen hat mit Karl Jaspers. Diesen hat sie mit ihrer Präsentation widerlegt. Symptome von Wahn sind ein Erleben, das tatsächlich verstehbar ist.

Hier geht es zum Vortrag