Körperpsychotherapie ist ein Verfahren, das auf eine lange Geschichte (~ 90 Jahre) zurückblicken kann. Aus den Wurzeln der Psychoanalyse wuchsen die ersten Triebe, die sich heutzutage mit vielen weiteren Wurzeln vereinigt hat und zu einem komplexen Gebilde geworden ist. Der Reichtum ihrer Theorien und Methoden ist beträchtlich. In Deutschland ist Körperpsychotherapie leider kein „Main-Stream Verfahren“ geworden, auch wenn zahlreiche Kolleg*innen diesen Zugang zur Psychotherapie verwenden. Ich möchte in einer kleinen Serie einige Grundkonzepte der Körperpsychotherapie erläutern, in der Hoffnung, dass es dabei hilft, das Verfahren etwas populärer und auch weniger geheimnisvoll werden zu lassen. Hier also über die Rolle der Erdung für das Leben.
Erdung
„Real ist das, womit man fertig werden muss, was nicht allein deshalb verschwindet, weil es nicht den eigenen Vorurteilen entspricht.“ Charles Taylor
Der Begriff der Erdung hat einen weiten Bedeutungsspielraum. Ganz grob umschreibt er den Realitätsbezug, gewissermaßen die Fähigkeit, auf dem Boden der Tatsachen stehen zu können. Realitäten und Tatsachen finden sich allerdings in vielerlei Kontexten. Es kann mitunter verwirrend erscheinen, dass derselbe Begriff in verschiedenen Kontexten auftaucht.
Erdung als Umgang mit physikalischen Welt
Erdung in der physikalischen Welt bezieht sich auf die Materialität der Dinge und die Schwerkraft. Die Qualität des Umgangs mit diesen Realitäten kann sehr verschieden sein. Wie angemessen oder unangemessen ein Mensch mit den Tatsachen umgeht, gibt Auskunft über die Qualität seiner Erdung. Jemand kann sich übermäßig gegen die Schwerkraft stemmen oder sich von ihr niederdrücken lassen. Der eine mag es gerne bodenständig, der andere ist eher ein Luftikus. Es gibt also so etwas wie ein Spektrum, das von Unter- zur Übererdung reicht. Eine angemessene Erdung wäre den Umständen angepasst, indem sie dann Kraft aufwenden kann, wenn sie nötig ist und lockerlassen kann, wenn es möglich ist.
Erdung als Umgang mit der sozialen Welt
Erdung in der sozialen Welt bezieht sich auf Regeln und Übereinkünfte, die in einer Kultur gegeben sind. Die Anerkennung der jeweiligen Gesetze, die Höflichkeitsformeln und die Verfahrensordnungen für bestimmte Verrichtungen.
Auch hier lassen sich Einstellungen finden, die sich entlang eines Spektrums von Überanpassung zu Unteranpassung aufspannen. Manche Menschen sind ausgeprägt darauf bedacht, keine Regeln zu brechen. Andere hingegen suchen ständig nach Möglichkeiten, die Regeln zu umgehen. Auch hier wäre die Mittelposition ein ausgewogener Umgang zwischen Eigen- und Fremdinteressen.
Erdung in der Partnerschaft
Erdung in der Partnerschaft bezieht sich auf die Fähigkeit, bedeutungsvolle Liebesbeziehungen eingehen und aufrechterhalten zu können. Menschen sind als Beziehungswesen auf emotional bedeutsame Beziehungen angewiesen. Auch hier gibt es ein Spektrum, das von krampfhaftem Anklammern bis zur unverbindlichen Spielereien reicht. Eine angemessene Erdung würde sowohl in konflikthaften wie harmonischen Momenten über einen guten Boden in der Beziehung verfügen.
Erdung in der Entwicklung
Menschen entwickeln sich zwangsläufig in Umgebungen. Sie erleben sich in verschiedenen Bezügen zu dem, was sie vorfinden. Zu ihrem Erleben gehören auch ihre Aktivitäten, die unterschiedlich erfolgreich sein können. Aus den Ergebnissen ihrer Erlebnisse formen sich die persönlichen Erfahrungen, die zu den Erwartungen an die Zukunft werden. Gewöhnlich wird das Anpassung genannt.
Zusammenfassend kann mal also sagen, dass Anpassungen einen großen Verdienst für jeden Menschen haben, egal, ob das später über- oder untergeerdet genannt werden kann. Vom Fötus über das Baby- und Kleinkindstadium entwickeln Menschen die Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, in ihren vorgefundenen Umgebungen das Beste aus sich zu machen, was ihnen möglich war.
Erdung im Uterus
Der Körper differenziert sich in der Umgebung der Gebärmutter zu seiner menschlichen Form aus. In der Schwerelosigkeit der flüssigen Umgebung erfährt sich ein Mensch umfasst und getragen. Die Qualität dieser Erfahrung kann sehr unterschiedlich sein. Das Spektrum reicht von himmlisch bis höllisch und entsprechend wird sich der Körper im ersten Fall an sanfte, leichte und spielerische Arten anpassen können, im Zweiten auf eher angespannte, harte und kämpferische Arten. Deshalb werden uterine Assoziationen angestoßen, wenn Menschen sich in neue Gruppen begeben, sich in engen Räumen wiederfinden oder auch wenn sie sich abends ins Bett legen.
Erdung in der Bindungsbeziehung
Die frühe Lebenszeit bis zum etwa zweiten Lebensjahr ist geprägt von der primären Bezugsperson des Babys. Die Erfahrungen dieser Zeit prägen sich dem sog. Bindungssystem ein. Die Qualität der Beziehung, deren Vorhersehbarkeit, Zuverlässigkeit und Angemessenheit prägen sich dem Körpergedächtnis tief ein. Darüber hinaus entwickelt das Baby auch seinen Bezug zur Schwerkraft. Zunächst im Liegen und später über mehrere Stationen zum Stehen und Gehen. In dieser Zeit wird viel Grundvertrauen sowohl in Beziehungen als auch zur physikalischen Welt erworben.
Erdung im Vorschulalter
Mit der Fähigkeit zu stehen und zu gehen, beginnt die Entwicklung der vertikalen Erdung. Seinen Standpunkt finden und beginnen, etwas zu verstehen, gehen damit einher. Die Erfahrungen des Kindes, wie mit seiner wachsenden Autonomie umgegangen wird, formen den Körper mit. Braucht es große Anstrengungen, um sich durchzusetzen, gibt es öfters mal eins aufs Dach, wird das Kind ermutigt und gelobt oder ignoriert? Alle Erfahrungen wirken auf die Körperverwendungen.
Erdung in der Schulzeit
In der Schule machen Kinder vielfältige Erfahrungen mit den Mitschülern, aber auch mit den Regeln und Anforderungen der Kultur. Die Qualität des Unterrichts und die Dynamik im Klassenverband sind das Feld der Erlebnisse. Zwischen Klassenstar und Außenseiter, zwischen Streber und ‚Versager‘ wird ein Kind seinen Platz finden müssen. Die Rolle und der Erfolg in der Schule schlagen sich auch auf die Körperhaltung nieder.
Erdung in der Pubertät
Die Pubertät bringt die Dynamik der Sexualität ins Leben. Wie ist die Einstellung des Elternhauses und der Kultur zu Sexualität? Das Spektrum liegt hier zwischen überhitzt und unterkühlt. Die Sexualorgane liegen nah am Zentrum des Körpers und sind eng mit dem vegetativen Nervensystem assoziiert. An diesem Zeitpunkt wirken starke Kräfte daran mit, ob Sexualität genussvoll und bezogen gelebt werden kann oder ob sie sich in irgendeine Form von Verzerrung zurückziehen muss.
Erdung im Körper
In einer Umgebung wird gehandelt, sei es die Umgebung der Eltern, des Kindergartens oder der Schule, deshalb vollzieht sich Erdung vorwiegend muskulär. Die Balance zwischen Muskeltonus und Handlungsimpuls zeigt die Qualität der Erdung. Stimmen Tonus und Impuls überein, findet sich eine leichte und stimmige Handlungsausführung. Bei zu niedrigem Tonus finden wir häufig erfolglose Handlungen und wenig Zuversicht, während bei einem erhöhtem Tonus die Tendenz zu großer Anstrengung und Verbissenheit geht. Der Tonus kann sich je nach Kontext auch schnell verändern. Es mag Bereiche geben, in denen Tonus und Impuls harmonisch funktionieren und in anderen klappt es nicht so gut.
Erdung und Therapie
Die therapeutische Arbeit mit dem Muskeltonus und den Willensimpulsen zielt immer wieder dahin, den Willen und die Bereitschaft (Tonus) in Harmonie zu bringen. Bei disharmonischen Verhältnissen liegen in aller Regel Konflikte vor, die eine Lösung benötigen, bevor sich wieder Harmonie einstellen kann. Die therapeutischen Interventionen reichen von Behandlungen über Interaktionen bis zu kathartischem Erleben. Dabei spielt die Integration des Erlebens im Gespräch eine wichtige Rolle. Von den Disharmonien zu den Konflikten, von der Bearbeitung der Konflikte zu einer Neuregulation und damit zu einer erfolgreicheren Realitätsbewältigung.
Weitere Grundaspekte der Körperpsychotherapie werden Zentrierung und Anschauen genannt.