Wenn sich die Erdung mit der materiellen Realität befasst, geht es bei der Zentrierung um den Umgang mit Energie. Nun ist Energie das, was man nicht sehen, hören, riechen oder tasten kann, denn alleine an der Arbeit, die sie verrichtet, wird sie sinnlich erfahrbar und nur so gewinnt sie ihre Wirksamkeit.
Was ist Energie?
Die Körperpsychotherapie verwendet den Begriff der Energie als Metapher für verschiedene Phänomene und dabei geht es zunächst um die Energie, die uns am Leben erhält. Dabei haben viele KPTler*innen nicht so sehr die biochemischen Energiepakete (ATP) im Sinn als vielmehr eine Art Lebensenergie, wie sie von indischen (Prana), chinesischen (Qi), polynesischen (Mana) oder auch europäischen (Od, Élan vital, Orgon) Systemen vorgeschlagen wird. Diesen Modellen ist gemeinsam, dass sie vorwissenschaftlich sind, d. h., sie gewinnen ihre Prinzipien nicht durch Experimente, sondern durch Naturbeobachtungen und Kategorisierung nach einer schon bestehenden Ordnung.
Die einzige Ausnahme darin ist das von Wilhelm Reich eingeführte „Orgon“. Allerdings sind seine experimentellen Befunde zu dessen Erforschung höchst umstritten.
Ein zeitgenössisches und wissenschaftlich besser fundiertes Konzept wäre der „Vitalitätsaffekt“, der beschreibt, wie lebhaft und vital sich ein Mensch benimmt und fühlt. Beschrieben wird dasselbe Phänomen, aber eben in unterschiedlichen Sprachformen und Erkenntnissystemen.
Aspekte von Energie
Das indische Modell liefert einen weiteren Aspekt von Energie – die sogenannte „feinstoffliche Energie“. Sie ist kosmischen Ursprungs und die Energiezentren („Chakren“ ~ Räder) des Körpers verdichten sie zum vitalen Körper. Wie gesagt, ein vorwissenschaftliches Modell, das aber dazu in der Lage ist, einige Zusammenhänge im lebendigen Körper recht gut darzustellen.
Dann wird Energie noch als „emotionale Ladung“ aufgefasst und damit wird beschrieben, wie intensiv ein Gefühl erlebt bzw. ausgedrückt wird.
Eine weitere Verwendung findet die Energie als Metapher für die Stimmung oder die Atmosphäre in einem Raum oder in einer Begegnung.
Ich werde vor allem die beiden ersten Aspekte der Energie etwas näher betrachten.
Die Biologische Energiefunktion
Der schon erwähnte Wilhelm Reich hatte das Forschungsziel, der „Libido“ Energie eine biologische Grundlage zu geben. Die Libido Theorie stammt von Sigmund Freud, der in der Libido die Antriebsenergie für den „psychischen Apparat“ sah. Bereits im Projekt der biologischen Fundierung liegt eine psychosomatische Einheitstheorie zugrunde. Psychisches Erleben sollte auf der Grundlage der biologischen Existenz verständlich gemacht werden.
Reich betrachtete die Pulsation von Zellen und entwickelte ein Modell, wie diese Pulsation funktionierte. Das Ergebnis ist die berühmte Spannungs-Ladung Formel: mechanische Spannung – bioelektrische Ladung – bioelektrische Entladung – mechanische Entspannung. Jede Phase dieses Prozesses ist von psychischen Erfahrungen begleitet. Die menschliche Urerfahrung dieser vier Phasen ist die sexuelle Erfahrung.
Ein Mensch ist natürlich erheblich komplexer gebaut als eine einzelne Zelle. Trotzdem lässt sich in der menschlichen Anatomie eine Art Energiefunktion finden. Ganz grundlegend ist, dass das vegetative Nervensystem mit seinen beiden Polen der Entspannung und Ruhe und der Anspannung und Aktivität.
Reich stellte fest, dass alle seine Patienten an einer eingeschränkten Energiefunktion litten, die sich als Störung der sexuellen Funktion und als Neurose äußerten. Er erforschte die anatomischen Möglichkeiten, wie das bewerkstelligt wurde. Dabei fand er, dass insbesondere der Muskeltonus die Energiefunktion beeinflussen konnte. Seine Patienten steckten in „Muskelpanzern“. Er ersann Übungen und Behandlungen, die diese Muskelpanzer quasi aufbrachen und erzielte damit das Ergebnis, dass die Patienten einen kathartischen Gefühlsausbruch erlebten und danach von ihren Symptomen geheilt waren.
Zentrierung als Selbstaktualisierung
Das Da-Sein in der Welt bringt Bewegung und Aktion mit sich. Jede Aktion braucht Energie für ihre Ausführung. Wie viel Energie wird für eine Aktion aufgewendet? Eher zu viel? Oder steht zu wenig Energie zur Verfügung? Diese Fragen lassen sich beantworten, wenn man die Anstrengung betrachtet, die jemand aufbringt und empfindet, wenn er eine Aktion angeht und ausführt.
Es lassen sich Aktionen des Selbstbezugs finden, solche, die eine Beziehung betreffen, sowie Aktionen im sozialen Raum. Im Selbstbezug geht es um ganz basale Verrichtungen wie atmen, essen, ruhen etc. In der Beziehung geht es um Intensitäten in der Begegnung und um Gefühle. Im sozialen Raum sind eher Leistungsaktivitäten z. B. im Beruf das Thema.
Diagnostisch können eine Unterladung oder eine Überladung eingeschätzt werden. Die Ladung steht dabei immer in Bezug zu einer Über- oder Unterspannung. Es ergeben sich als vier Varianten: Überladen und überspannt (der Zustand kurz vor dem Burn-out, hyperfokussiert); Überladen und Unterspannt (Agitiert und hilflos, zerstreut); Unterladen und überspannt (grübelnd und zögernd); Unterladen und Unterspannt (phlegmatisch bis depressiv).
Zentrierung in der Entwicklung
Auch das Verhältnis von Spannung und Ladung erwirbt ein Mensch biografisch in der Meisterung seiner Umgebungen. Eltern, Kultur, wirtschaftliche und soziale Umstände bestimmen diese Umgebungen. Anpassungen haben einen großen Verdienst für jeden Menschen, egal, ob das später über- oder untergeladen/gespannt genannt werden kann. Vom Fötus über das Baby- und Kleinkindstadium entwickeln Menschen die Fähigkeiten, die es ihnen erlauben, in ihrer vorgefundenen Umgebung das Beste aus dem zu machen, was möglich ist.
Zentrierung vor der Geburt
Die Energiefunktion in der Gebärmutter bildet sich erst heraus. Die Nabelschnur versorgt das heranwachsende Kind und der ganze Organismus ist mit seinem Aufbau beschäftigt. Entscheidende Erfahrungen liegen hier in der Reichhaltigkeit oder Dürftigkeit der Nahrung. Ein Mangel der Mutter wirkt sich auch auf das werdende Kind aus, ebenso eine emotionale Überforderung der Mutter z. B. durch Gewalterfahrung. Ein heranwachsender Mensch kann sich an Mangel anpassen, z. B. durch das Herunterfahren des Energieumsatzes. Emotionale Über- oder Unterladungen können sich auf die Spannungseinstellungen des Körpers auswirken. Beim Erwachsenen kann die Toleranz für hohe bzw. niedrige Energielevel ein Relikt aus dieser Zeit sein.
Zentrierung in der Bindungsbeziehung
In der Bindungszeit (bis etwa zweites Lebensjahr) erfahren Kinder den Wechsel von hohen und niedrigen Ladung/Spannungsverhältnissen in Beziehung. Beide können mit positiven Gefühlen und in Resonanz zur Bindungsperson erfahren werden oder eben eher dissonant mit negativen Gefühlen. Hier kommen auch schon Selbstregulationen ins Spiel, wie die Forderungen des Kindes nach spannender Unterhaltung oder das Bedürfnis nach Ruhe aufgenommen werden oder nicht.
Zentrierung im Vorschulalter
In dieser Zeit entwickelt sich das Bewusstsein der Autonomie des Kindes sehr stark. Voller Elan geht es seine Projekte an, sammelt Erfahrungen, verzeichnet Erfolge und erleidet Niederlagen. Die Erfahrungen mit den Grenzen, die es dabei von den Eltern und der Welt erfährt, tragen wesentlich zu seinem Selbstbild bei. Das Kind, das sich ständig zügeln und bremsen soll, wird weniger Chancen darauf haben, zuversichtlich seiner Energie zu vertrauen. Das Kind, das ständig angestachelt und getrieben wird, kommt in Gefahr, sich zu überschätzen und Grenzen zu ignorieren.
Zentrierung in der Schulzeit
Die Schulsituation bietet einen neuen Erfahrungsraum für das Erleben und den Umgang mit seiner Energie. Langweilige Schulstunden ertragen, lostoben zum Pausenzeichen, spielen in der Pause oder in der Freizeit sind die Gelegenheiten von niedriger und hoher Energieerfahrung.
Die Suche nach Rang und Rolle in der Klasse ist häufig von starken Gefühlen begleitet. Das Kind lernt mit Leistungsansprüchen umzugehen und mit seinen Beurteilungen fertig zu werden. Gemeinsame Aktivitäten wie Fußball spielen, bieten intensive Erfahrungen von Triumph und Niederlage.
Die großen Themen dieser Zeit sind Anerkennung und Zugehörigkeit. Beide Aspekte sind sehr wichtig für das Selbstwertsystem und ihre Bedrohung sorgt für intensive Gefühle.
Zentrierung in der Pubertät
Sexualität ist das wohl intensivste Erleben von Energie im Körper. Die Entdeckung dieser kribbelnden, ziehenden und intensiven Empfindungen, deren Einordnung in das Selbstbild und die geteilte Erfahrung mit einem Partner sind eindrückliche Erfahrungen.
Die Toleranz des Jugendlichen für die Intensität dieser Empfindungen beeinflusst wohl auch den Weg, den die sexuelle Orientierung nehmen wird.
Das Zutrauen, sich dem Gipfel der Lust hinzugeben, die Kontrolle loslassen zu können, wird von vielen Einflüssen mitbestimmt. Z. B. können Rituale, Fetische, Regeln eingeführt werden, um dem Kontrollverlust entgegenzuwirken. Oder die Entwicklung geht dahin, dass die Sexualität als fließendes gemeinsames Erlebnis genossen werden kann.
Zentrierung im Körper
Die Atmung spielt auf der Körperebene die Hauptrolle für die Zentrierung, denn mithilfe der Atmung lässt sich der Energielevel des Körpers am leichtesten beeinflussen. Weniger Atmung führt zu geringerer Intensität. Die Muskulatur, die an der Atmung teilhat, kann in einen gewohnheitsmäßigen Hyper- oder Hypotonus geraten und so eine generalisierte Atemkontrolle gewährleisten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die Atmung zu beeinflussen, denn sie ist sowohl vegetativ als auch willkürlich mit Nerven versorgt. Die Atmung ist gewissermaßen die Verbindung von Kopf und Bauch, von rationalen Willensentscheidungen und intuitiven Wünschen und Impulsen. Diese Balance trägt wesentlich zur Lebensqualität bei. Überwiegt eine Seite zu stark, kommen entweder das Ansehen und der Erfolg in Gefahr oder der Genuss und die Lebensfreude.
Zentrierung und Therapie
Die therapeutische Arbeit mit der Zentrierung hat entsprechend viele Bezüge zur Atemfunktion. Wie frei, wie beherrscht ist sie, wie harmoniert sie mit den Wünschen und Begierden, mit den Gefühlen und den Handlungen, welche Gebote und Verbote nehmen Einfluss auf sie? Das therapeutische Ziel geht dahin, die Atemfunktion zu harmonisieren, Atem, Absicht und Handlung in Einklang zu bringen. Ein Ziel könnte so formuliert werden, dass der Klient wieder zu den Möglichkeiten kommt, sich selbst zu aktualisieren und seine Absichten, Wünsche und Bedürfnisse erfolgreich in der Welt zu verwirklichen.