
Bindungsverhalten ist uns Menschen angeboren. Es ist eine evolutionäre Entwicklung zum Schutz des jungen Lebens. Menschen sind die Lebewesen mit der längsten Kindheitsphase und damit besonders auf die Bindung angewiesen. Die körperliche Unreife bei der Geburt macht sogar ein weiteres Jahr der Reifung außerhalb der Gebärmutter nötig. In dieser Zeit reift dann nicht nur der biologische Körper heran, sondern auch das psychische und geistige Erleben der Welt beginnt sich zu entfalten. Diese sehr frühen Lebenserfahrungen werden zu einem zentralen Muster von Selbst- und Weltwahrnehmungen und das noch ganz ohne Worte. Auf diesen Grunderfahrungen entwickeln sich im Laufe der Zeit die Erwartungen an sich selbst, an andere und an das Leben überhaupt.
Es gibt inzwischen eine lange, umfangreiche und differenzierte Forschungstradition zum Bindungsprozess. Das Bindungsverhalten kann in verschiedenen Lebensaltern erfasst werden – in der frühen und späteren Kindheit, in der Adoleszenz und bei Erwachsenen. Aus den ersten Bindungserfahrungen leiten sich Anpassungsleistungen ab, die zeigen, wie kompetent schon Babys mit dem Bindungsangebot ihrer Eltern umgehen können und wie sich diese Anpassungen im Verlauf des Älterwerdens entwickeln.
Bindungsverhalten wird durch unbekannte oder gefährliche Situationen ausgelöst. Die Bindungsperson bietet dem Kind Schutz und Geborgenheit oder auch Trost und Halt bei unerfreulichen Erfahrungen. Dieser sichere Hafen kann dann zum Ausgangspunkt für Entdeckungstouren werden und so nach und nach das Welt- und Selbstwissen organisch wachsen lassen.
Die Bindungserfahrungen werden spätere Beziehungen in der einen oder anderen Form einfärben. Je nach Erfahrung erscheinen Beziehungen und die eigene Rolle darin dann sehr unterschiedlich. Die Teilhabe an der Beziehung kennt die erprobten und verinnerlichten Möglichkeiten sich mitzuteilen und den anderen zu verstehen, Trost zu bekommen oder zu spenden, Wertschätzung anzunehmen und zu vermitteln u.v.m. Wir wenden einfach unsere erworbenen Regeln an, deren Gültigkeit nicht hinterfragbar erscheint, weil sie sich so selbstverständlich und richtig anfühlen.
Arten von Bindung
Im Allgemeinen werden vier Arten von Bindung unterschieden. Eine sichere Bindung, eine unsicher vermeidende, eine unsicher ambivalente und eine desorganisierte. Die Beschreibung „desorganisiert“ zeigt an, dass die drei anderen Versionen als organisiert verstanden werden. Das bedeutet, dass sie als vorhersehbarer eingeschätzt werden – sowohl im Erwerb als auch im Vollzug. Kinder, die diese Formen von Bindungsmuster entwickelt haben, konnten sich auf ein erwartbares Elternverhalten einstellen. Das sichere Muster auf vorhersehbar feinfühlige Behandlung, das unsicher vermeidende auf vorhersehbar nicht feinfühlige Behandlung und das unsicher ambivalente auf vorhersehbar unvorhersehbare Behandlung. Das desorganisierte Muster wird mit traumatischen Erfahrungen und psychisch kranken Eltern in Verbindung gebracht. Im „Dynamischen Reifungsmodell von Bindung und Anpassung“ (DMM) wird das desorganisierte Muster als passende Anpassung an extremste Umstände betrachtet – die Organisation ist gewissermaßen etwas komplexer.
Die jeweilige Art und Ausprägung des Bindungsmusters sind sehr individuell ausgeformt. Die meisten Verhaltensweisen passen eher in die eine oder die andere Kategorie, aber eine gewisse Flexibilität ist in neuen Begegnungen durchaus gegeben. Unsichere Bindungsmuster können als komplizierte und anspruchsvolle Anpassungsleistungen betrachtet werden. Die Kinder finden eine Lösung für den Umgang mit den Eltern, die sie nun einmal haben.
Unsichere Bindungserfahrungen sind tendenziell anstrengend. Der sichere Hafen, bietet Ruhe, Erholung und Regeneration. Ein fehlender sicherer Hafen macht es schwieriger zur Ruhe zu kommen, sich sicher und geborgen zu fühlen. Die Wohltaten von stimmiger, inniger Zweisamkeit und vertrauter Hingabe sind nur schwer oder gar nicht zu erreichen. Dies kann auf die Dauer zu Spannungen und Missstimmungen führen, die dann wiederum nur schwer wieder losgelassen werden können.
Bindung und Befindlichkeit
Auch den Umgang mit Missstimmungen, Trauer, Furcht und Ärger lernen wir in der Bindungsbeziehung kennen. Wir lernen bestenfalls, dass unsere Gefühle auf Anlässen beruhen, dass sie in einem Zusammenhang mit Geschehnissen stehen – Verlusten, Bedrohungen oder Schmerz. Wir machen dann auch die Erfahrung, dass die Gefühle auftauchen, sich ausdrücken und wieder vergehen können. Auch dafür braucht es eine genügend gute und sichere Bindungsbeziehung. In unsicheren Bindungsformen bleiben Gefühle tendenziell isoliert, geheimnisvoll und womöglich bedrohlich – eine Gefahr für das Selbst und für die Beziehung.
Daraus können sich problematische Strategien im Umgang mit alltäglichen Konflikten ergeben. Meine Gefühle sind mir unerklärlich und ich versuche sie möglichst nicht wahrzunehmen. Oder auch, dass die Gefühle so intensiv werden, dass ihr Ausdruck gar nicht mehr kontrolliert werden kann. Damit laufen die Betroffenen aber Gefahr, dass sie neue Konflikte mit ihren Mitmenschen heraufbeschwören und damit auch wieder Missstimmungen erzeugen.
Bindung und Psychotherapie
Beim heutigen Forschungsstand ist es offensichtlich, dass Bindungsmuster und Traumata sehr häufig eine wesentliche Rolle im psychischen Krankheitsgeschehen spielen. Die Widerstandsfähigkeit, die eine sichere Bindungserfahrung vermittelt, ermöglicht einen souveränen Umgang mit allen Widrigkeiten, die ein Leben mit sich bringen kann. Unsichere Bindungsstrategien machen es anspruchsvoller, sich im Leben zu orientieren und Zufriedenheit zu finden.
Eine Psychotherapie ist ein Beziehungsgeschehen, das relativ schnell eine Bedeutsamkeit für die Klient*innen gewinnt. Damit wird zuverlässig auch das Bindungsmuster aktiviert, was für die Therapie sehr hilfreich sein kann. Wir haben unsere Muster in Beziehungen erworben und Beziehungen sind der Weg und das Mittel schlechthin, das Muster zu verändern. Natürlich sind schwierige Bindungserfahrungen gleichzeitig ein Hindernis für die Aufnahme der therapeutischen Beziehung – sich wieder diesem Risiko auszusetzen braucht Mut und mag dem einen oder der anderen Betroffenen wie Tollkühnheit erscheinen. Aber die Forschung sagt auch, dass es nie zu spät ist, gute Beziehungserfahrungen zu machen und damit sein Leben erfüllter zu gestalten.