Die Psychosomatik betrachtet die digitalen Medien

Digitale Medien und psychische Gesundheit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 04.07.18 Von Prof. Vera King:                            „Wenn ich morgens aufstehe, mache ich zuallererst mein Handy an – Adoleszenz in digitalen Welten“

Einführung

Frau King forscht und lehrt in den Erziehungswissenschaften und der Soziologie mit einem Psychoanalytischen Hintergrund. Sie geht der Frage nach, ob und falls ja, die Digitalisierung einen Einfluss auf die Adoleszenz nimmt. Unter Adoleszenz versteht sie einfach die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsenem. Das ist eine Zeit, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden. Auf der Basis der kindlichen Entwicklung öffnet sich hier noch einmal ein Fenster zur Identitätsfindung. Gesucht werden neue Weltbilder, neue Arten von Beziehung, Anerkennung und eben eine neue Identität. Diese muss mit den körperlichen Veränderungen, der Entwicklung der Sexualität und den neuen Medien umgehen können. Sie ist in der Regel begleitet von Allmachts- und Größenfantasien, experimentiert mit Grenzen und Grenzüberschreitungen, stöbert in einem Möglichkeitsraum, aus dem sich gewissermaßen eine Wiedergeburt vollziehen kann. Dies alles findet vor dem Hintergrund von allgegenwärtigen Algorithmen statt, die steuern, was die Adoleszenten zu sehen bekommen, und was nicht.

Psyche und Kultur in Zeiten der Digitalisierung

Die Digitalisierung stellt eine vielfältige Herausforderung das. Es geht dabei um das soziale Miteinander, die psychische Verarbeitung, die Symbolisierung, für Beziehungen, weiter für das Verständnis von An- und Abwesenheit und das Verständnis von Anfang und Ende. Die Auswirkungen dieser Herausforderungen wurden in verschiedenen Studien erfasst. Frau King hebt hervor, dass dabei insbesondere die Scham in einer neuen Form aufgetaucht ist.

Neue Relationen von offline und online Welten

Schon der Titel des Vortrags benennt, dass der Zugang zur digitalen Welt häufig schon mit dem Aufwachen genutzt wird. Die Zeitspannen, die Adoleszente in der online Welt verbringen, umfassen häufig mehr als vier Stunden täglich. Diese Aufenthalte entfalten eine Eigendynamik. „Was geht?“ im Freundeskreis, wer hat gepostet oder geliked? Diese Dynamik wird durchaus kritisch wahrgenommen, aber es scheint keine Möglichkeit zu geben, dagegen anzukommen. Die digitale Welt beansprucht mehr und mehr Relevanz vor der analogen Realität und das Phänomen, dass mitten im Gespräch ein Teilnehmer sich „kurz“ mit seinem Smartphone beschäftigen muss, ist inzwischen gut bekannt.

Adoleszente Selbsterschaffung in Social Media

Der umfassende Weltzugang durch die digitalen Medien benötigt ein Bild, das der Welt präsentiert werden kann und diese Selbstbilder lassen sich frei entwerfen. Sie erlauben es, sich von der eigenen Realität und von sozialen Grenzen zu entfernen. Gleichzeitig erlauben sie es auch, sich von der Welt der Erwachsenen zu verabschieden, zumindest, sich von ihr zu distanzieren. Das Smartphone gewinnt den Status eines „digitalen Objekts“ – wird also gewissermaßen zu einem Teil der Psyche, die die Selbstwahrnehmung ebenso verändert wie die sozialen Interaktionen. Die gesteigerte Unmittelbarkeit digitaler Kommunikationen führt ebenfalls zu psychischen Veränderungen.

Psychisches Erleben digitaler Medien, Außen- und Innenwelten

Die Aufmerksamkeit, die digitale Medien fordern, ist enorm und Aufmerksamkeit verschiebt sich mehr und mehr von der analogen Welt zur digitalen. Die Adoleszenten sind mitunter leiblich anwesend und mit ihren Gedanken doch in der digitalen Welt. Die anschmiegsame Technik verführt zu einer Mensch-Maschinen Interaktion, wobei die Interaktion von Selbst und Anderem in den Hintergrund gerät. Das Smartphone wird auch zu einem neuen Quasi-Körperteil.

Ringen um Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit zu bekommen, spielt eine wichtige Rolle für das psychische Erleben und Aufmerksamkeit im gigantischen Meer des WWW stellt gewissermaßen eine eigene Währung dar. Aber wie ist Aufmerksamkeit bei dieser Konkurrenz zu gewinnen? Mit welchem Bild, welcher Nachricht erreiche ich User, damit sie mir ihre Aufmerksamkeit schenken? Digitale Plattformen haben raffinierte Funktionen entwickelt, um die User bei der Stange zu halten. Wer Aufmerksamkeitspunkte gesammelt hat, möchte die auf gar keinen Fall wieder verlieren, auch wenn die Aufmerksamkeit von wildfremden Menschen kommt.

Permanente Arbeit am Bild – digitale Selbstdarstellung

Eine wichtige Rolle spielt das Selfie. Es spendet einerseits Selbstvergewisserung – das bin ich! Gleichzeitig wird dieses Selfie von anderen gesehen und bewertet. Das Bild, das ins Netz gestellt wird soll mich gut aussehen lassen. Aber sehe ich gut genug aus? Nein sicher nicht, also muss das Bild gefotoshopt werden. Es ist vielen Adoleszenten bewusst, dass sie ihr Aussehen fälschen und auch, dass der Beifall, den sie für ein gefälschtes Selfie erhalten, einen faden Beigeschmack hinterlässt. „Es ist harte Arbeit, viele Follower zu bekommen.“ So eine befragte Jugendliche. Auch offline ist die Aufmerksamkeit noch in der digitalen Welt – sie plant, entwirft und sorgt sich um jeden Internet Auftritt.

Geteilte Aufmerksamkeit

Die Überwertigkeit des Digitalen vor dem leiblichen Miteinander führt zu neuen Beziehungsformen.

Vervielfältigte und fragmentierte Kommunikation unter Jugendlichen

Aus einer einfachen leiblichen Präsenz wird eine mediale Omnipräsenz, denn kaum ein Gespräch findet ohne Unterbrechung statt. Häufiger finden sich zwei oder mehr Jugendliche zusammen, und kommunizieren mit dem Smartphone miteinander.

Vater oder Mutter am Smartphone …

Dies kann auch eine Rolle in der Eltern-Kind Beziehung spielen. Die Eltern, die neben der Kinderbetreuung auf ihr Smartphone schauen, sich von ihm ablenken lassen, oder es für wichtiger halten, als die Äußerungen des Kindes. Das Kind kommt womöglich in eine Konkurrenzsituation mit dem Smartphone der Eltern.
„Der Glanz im Auge der Mutter oder des Vaters beim Blick auf das Smartphone (anstatt auf das Kind)“
Das Kind wird sich die Aufmerksamkeit im Netz suchen, denn dort bekommt es genau diese.

Fazit

Digitale Welten bieten neue Chancen und stellen vor neue Herausforderungen. Die alte Frage nach Schein und Sein wird neu gestellt und mit neuen Mitteln beantwortet.
Die Scham, in Anwesenheit anderer das Smartphone zu nutzen, schwindet. Aber neue Schamquellen tauchen auf. Die mögliche Beschämung im Netz, nicht up to date zu sein, nicht in den Netzwerken präsent zu sein und auch die Scham, das echte, eigene Gesicht zu zeigen.
Aus der ursprünglichen Triade von Mutter, Vater, Kind entwickeln sich Triaden, die ein Smartphone enthalten. Mutter, Kind, Smartphone.
Es entsteht eine neue Dynamik der Aufmerksamkeitsökonomie. Wenn ich von A keine mehr bekomme, wende ich mich einfach B zu.