Die Psychosomatik erkundet „Träume“

Träume und ihre Botschaften

„Träumen Mit Körper, Seele und Geist“ Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Verena Kast, Prof. Dr. phil., Psychologin, Universität Zürich, CH

Zu Gast ist heute Verena Kast, die jungianische Analytikerin und Autorin vieler Werke über Träume. Träume sind auch heute ihr Thema – Träume mit Körper, Seele und Geist.

Einleitung

Wir erfahren zu Beginn, dass ein siebzigjähriger Mensch bereits sieben Jahre seines Lebens geträumt hat. Dabei sind nicht einmal die Tagträume eingerechnet. Dabei stehen heute die Tagträume im Mittelpunkt der Traumforschung. Ihr Fazit: Träume sind wichtig, sie müssen etwas bedeuten und das war schon bei Freud und Jung so und so ist es heute noch.
Träume geben den Träumer*innen Anregungen, „wollen“ womöglich sogar anregen. Wenn ich meine Träume verstehen will, dann ist es wichtig, sie bei mir zu tragen, mit ihnen und über sie zu meditieren, mit ihnen zu imaginieren, um ihre Anregungen zu entschlüsseln.
Nach C.G. Jung sind Träume Zielvorstellungen aus dem Unbewussten und sie spielen in der Psychotherapie eine wichtige Rolle, z.B. der Initialtraum, der häufig kurz nach Beginn einer Psychotherapie geträumt wird. Er kann viele Informationen über die Themen des Patienten enthalten, aber auch, wie der Patient die Beziehung zum Therapeuten erlebt, denn: „Träume werden zwischen Menschen geträumt.“ So C.G. Jung.

Wozu sind Träume gut?

Frau Kast stellt uns die Struktur ihres Vortrags mit Hilfe der Schlussfolie vor. Wozu also sind Träume überhaupt gut? Sie regulieren Emotionen, regen zu Konfliktlösungen an, machen Verdrängtes sichtbar und sie erinnern und planen. Darüber hinaus bieten sie einen erweiterten Imaginationsraum, in dem Kreativität entwickelt und neue Möglichkeiten entdeckt werden können.
Ein Traum ist erst ein Traum, wenn wir erwachen und ebenso ist ein Tagtraum erst dann ein Tagtraum, wenn wir uns wieder bewusst werden. Das bedeutet, dass Träume den ganzen Menschen erfassen und dass Träume mit allen Sinnen erlebt werden.
Wir erfahren, dass es auch heutzutage noch eine intensive Traumforschung gibt, und lernen nach und nach neuere und neueste Befunde der Traumforschung kennen. Z. B. dass es eine „Traumbank“ gibt, die vom Traumforscher William Domhoff betrieben wird. Auf den Konten dieser Bank liegen über 100.000 Träume für Forscher*innen zur Verfügung. Herr Domhoff vertritt die These, dass Träumen eine intensivierte Form von wachem, spontanen Denken ist. Dazu zählt er auch Gedankenwandern und v.a. Tagträumen.
Um zum nächsten Punkt überzuleiten, schildert uns Frau Kast ihre Motive, bzw. ihr Interesse an Träumen. Sie ist fasziniert von der Kreativität der Träume, von den Verbindungen der Träume zur Persönlichkeit der Träumenden und auch über die Hinweise zu psychischen Krankheiten, die Träume liefern können.

Selbstgenerierte Gedanken

Die aktuelle Traumforschung versteht unter Träumen „selbstgenerierte Gedanken“ – das sind quasi Gedanken, die sich selbst denken, also nicht willentlich angestoßen oder gefasst werden, sondern sich unabhängig von der aktuellen Situation von selbst entwickeln. Diese Art des Denkens ist weit verbreitet, das legen zumindest aktuelle Forschungsergebnisse nahe. Dazu wurden viele Proband*innen immer wieder nach ihren aktuellen Gedanken befragt. Die Inhalte der Gedanken drehten sich um Erinnerungen, Pläne, Tagträume, Fantasien, soziale Interaktionen oder Ruminieren (Ruminieren bezeichnet das gedankliche Kreisen um eine Selbstzuschreibung, z.B. Ich komme immer zu kurz).
Diese Art der Geistestätigkeit kann also vom Unbewussten angestoßen, aber auch absichtlich ergriffen werden. Es ist möglich, sich vorzunehmen, nun einen schönen, angenehmen Tagtraum zu beginnen.
Eine weitere Erkenntnis der aktuellen Forschung besagt, dass Nacht- und Tagtraum in einem gemeinsamen Kontinuum liegen. Es ist beiden gemeinsam, dass die Aufmerksamkeit für die Umwelt vermindert ist, was im Schlaf natürlich umfangreicher gegeben ist. Beides sind Prozesse eines selbstgenerierten Denkens, das sich andauernd unter der Schwelle des Bewusstseins abspielt. Diese selbstgenerierten Gedanken sind emotional, können beschwingend oder störend sein und sie ringen um die Aufmerksamkeit des Bewusstseins.
Nicht nur an dieser Stelle weist Frau Kast darauf hin, dass diese Ergebnisse weitgehend der Modellbildung von C.G. Jung entsprechen.

Spezifisches zum Tagtraum

Auch Tagträume bedienen sich des gesamten Sinnesspektrums. Sie sind visuell, auditorisch, somatosensorisch und mindestens zwei Drittel der generierten Bilder sind stark emotional, bzw. zeigen etwas darüber, was den Träumer emotional beschäftigt.
Es ist nicht ganz einfach zu unterscheiden, an welchen Stellen die Träume absichtlich geträumt werden oder ob sie sich unwillkürlich einstellen. Gerade für die imaginierten sozialen Interaktionen scheint es eine Mischung von beidem zu sein und ebenso bei Erinnerungen oder Zukunftsplanungen. Es zeigt sich jedoch, dass der affektive Zustand eines Menschen von der affektiven Qualität seiner Tagträume beeinflusst ist.
Eine weitere Domäne der Tagträume ist die Imagination von Gedanken und Absichten anderer Menschen. Diese Beschäftigung ähnelt sehr dem, was in der Psychologie die „Theory of Mind“ genannt wird.
Ein sehr wertvoller Aspekt stellt die Vorfreude auf ein zukünftiges Ereignis dar. Diese sei eine kraftvolle Freude und Frau Kasts Empfehlung lautet, sie zu genießen, denn selbst wenn das Ereignis nicht so toll wie erwartet ausfällt, so hat man wenigstens die Vorfreude genossen.
Bezogen auf den Körper sind Träume und Tagträume auch verkörperte Simulationen, die sich auf die reale Welt beziehen. In diesem Modus können Lösungen erprobt werden und auch neue Lösungswege gefunden werden.

Komplex und Traum

C.G. Jung hat viel zum Thema der Komplexe geforscht und festgestellt, dass Komplexe Träume verursachen und Träume Komplexe in einen Kontext setzen und sie auf diese Art verarbeiten. Als weiteren Aspekt fand er heraus, dass Träume die bewusste, komplexbelastete Haltung kompensieren können. Dazu werden in den Träumen die Komplexe personifiziert und das geht leichter, wenn kein hemmendes Bewusstsein das erschwert.
Komplexe haben auch viel mit Affekten zu tun. Affekte verursachen Komplexe und Komplexe beeinflussen Affekte. Jung hat das insbesondere mit seinen Assoziationsexperimenten erforscht. Stark emotionsgeladene Begriffe, wie sie bei Komplexen auftreten, verändern die Reaktionszeit der Assoziation oder sie führen zu Ausweichverhalten. Die bewussten Absichten der Getesteten weichen unbeabsichtigten Fehlern.
Zur Entstehung des Komplexes mutmaßte Jung, dass er aus dem Zusammenstoß eine Anpassungsforderung und der Unmöglichkeit des Subjekts, dieser Anforderung zu genügen, entspringt. Auch dieses Modell ähnelt sehr den aktuellen Vorstellungen über konflikthafte Beziehungserfahrungen, die sehr emotional und wiederholt erlebt wurden. In diesen Erfahrungen geht es um zentrale Bedürfnisse, die frustriert wurden. Sie werden in einer Szene verdichtet, in der Regel verdrängt und häufig entwickeln die Betroffenen dann eine kompensierende Haltung – z.B. kann der frustrierte Wunsch nach Anerkennung mit dem Gefühl des Schams, durch eine perfektionistische Haltung kompensiert werden.
Zur Verdeutlichung dieser Zusammenhänge berichtet uns Frau Kast von einem Fallbeispiel, das tatsächlich sehr anschaulich zeigt, wie aus einem Traum und den dazugehörigen Assoziationen und Imaginationen wichtige Einsichten für das Leben der Träumerin entstehen können.

Neue Traumforschung

Wir erfahren nun noch einige Ergebnisse der aktuellen Traumforschung. So berichten einige Befragte von Träumen, in denen sie häufig Ängste erleben. Überraschenderweise sind diese Menschen aber im Wachzustand besser imstande, mit ihren Ängsten umzugehen – sie üben gewissermaßen im Traum, was sie mit ihren Ängsten aktiv tun können.

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die im Wachzustand negative Gedanken unterdrücken. Sie leiden häufig verstärkt unter Schlafproblemen, verspüren mehr Ängste, neigen zu Depressionen und haben Stress. Ihnen könnte es helfen, sich mit ihren Träumen zu beschäftigen, gewissermaßen ihren Ängsten ins Gesicht zu sehen und dadurch Wege zu finden, wie sie ihre Probleme bewältigen können.

Vorläufiges Fazit

Frau Kast fasst zusammen: Träume und Tagträume stellen Erfahrungen, Konflikte, bzw. Probleme in einen erweiterten Kontext. Sie generieren Fragen aus einer emotionalen Perspektive. Sie können mit Imaginationen ausgeweitet und in eine Erzählstruktur überführt werden. Diese Betrachtung führt auch zu methodischen Konsequenzen. Die Träumer*innen sollen ihre Träume selbst erzählen, sie sich bildhaft vorstellen und dabei alle Kanäle der Wahrnehmung nutzen, sich trauen, den Traum auch emotional zu erzählen. Die Zuhörerin geht mit, so gut sie kann, lässt sich auf die Erzählung, die Bilder und Sensationen ein. Sie kann ihre eigenen Imaginationen spielerisch einbringen und so versuchen eine Brücke zwischen den Träumen und den Alltagsherausforderungen zu schlagen.
Um das zu illustrieren, berichtet Frau Kast noch von der Arbeit an einem Alptraum. Sehr eindrücklich schildert sie uns, wie sie sich auf die Schreckensbilder dieses Traums einlässt, mitfühlt und den Schrecken mit der Patientin teilt. Verschiedene Fragen zum Traum führen nach und nach zu wichtigen Einsichten, die dann auch zu einer konkreten Strategie für den Umgang mit den Ängsten der Träumerin führt.
Ein sehr informativer Vortrag, den Sie hier selbst hören können.

Die Psychosomatik erkundet „Psychiatrie und Subjektivität“

Wer bin ich in der Psychiatrie

„Psychiatrie und Subjektivität – Erfahrungen von Betroffenen“ Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Karina Korecky, Mag. Soziologie und Politikwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Diese ersten drei Vorlesungen drehen sich alle um das Thema des psychisch kranken Subjekts. Zunächst wurde der Begriff des Subjekts problematisiert und aufgezeigt, dass Subjektivität eine soziale Konstruktion ist. Im zweiten Teil ging es darum, den problematischen Begriff der „Psychischen Krankheit“ zu erkunden und in diesem Vortrag versucht die Vortragende, etwas aus den Erzählungen von Psychiatrieerfahrenen zu lernen.

Einleitung

Frau Korecky stellt ihr Forschungsparadigma vor. Es sucht in den Narrativen von Betroffenen danach, wie der Begriff „Krankheit“ verwendet wird. Sie gibt uns zunächst einen kurzen historischen Abriss der „Subjektivität“. Im Wesentlichen spielt dabei die Kantische Philosophie die zentrale Rolle – seither taucht der Begriff vermehrt in philosophischen Werken auf. Eng damit verbunden sind Begriffe wie „Selbstbezug“, „Selbstwahrnehmung“ oder auch „Selbstreflexion“. Ihre Frage geht nun dahin, wie sich (teils beschädigte) Subjekte mit der Bezeichnung „psychisch krank“ auseinandersetzen.
Dazu hat sie 36 Interviews ausgewertet, die sie teils selbst geführt, teils nachbearbeitet hat. Sie wollte die Fragen klären, wie der gesellschaftliche Status von (ehemalig) psychisch Kranken aussieht; welche Anforderungen die Arzt–Patient Beziehung hat; und wie die Betroffenen zu ihren Medikamenten stehen. Die Eröffnungsfrage aller Interviews lautete: „Wie kam es, dass Sie mit der Psychiatrie in Verbindung gekommen sind?“

Folgen der Psychiatriekritik

Sie stellt zunächst fest, dass nahezu alle Interviewten den Begriff der „Krankheit“ vermeiden und eher selten auf psychiatrische Fachtermini zurückgreifen. Überraschend erscheint allerdings, dass sich Psychiater*innen ebenfalls sehr zurückhalten, wenn es um das Wörtchen „Krankheit“ geht.
Die Vortragende führt das auf die Bewegung der „Psychiatrie-Kritik“ in der 60er und 70er Jahren zurück. Es ging dabei u.a. um das essentialistische Verständnis von psychischer Krankheit unter Verwendung eines verdeckt normativen Menschenbilds. Diese kleine Psychiatrierevolution hatte vielfältige Auswirkungen auf das Verständnis und die Behandlung von psychischen Krankheiten. Ein Effekt war die Einführung der „axialen Diagnostik“ im DSM III. Sie sollte vermeintlich atheoretisch sein und so die Kritik entkräften.
Die Folge davon war, dass aus psychischer Krankheit eine Vielzahl von Krankheiten wurden. Darüber hinaus ging auch die Trennschärfe zum Begriff der „Gesundheit“ verloren – was ist noch eine Variation, eine Eigenheit ein Tick und ab wann ist eine Krankheit zu diagnostizieren? Es fand eine „Normalisierung der Psychiatrie und eine Psychiatrisierung der Normalität“ statt.

Kategorien

Bei einer ersten Durchsicht der Interviews ergaben sich drei Gruppen von Erfahrungen. Da ist zunächst die Erleichterung, die eine Diagnose bieten kann. Das ist nur eine Krankheit, die ist behandelbar, sie kann vorbeigehen. In einer zweiten Gruppe war es schwierig, die Diagnose im sozialen Umfeld zu vermitteln. Die dritte Gruppe empfindet die Diagnose als Urteil, das schockiert zur Kenntnis genommen wird.
Es folgen einige Interviewauszüge aus diesen drei Gruppen, die Frau Korecky gründlich analysiert und interpretiert. Darin kommen so viel Feinsinn und Akribie zum Tragen, dass ich das hier kaum nachvollziehen kann. Ihre Herkunft aus der Soziologie gibt ihren Analysen eine große und teilweise verblüffende Tiefenschärfe. Z.B. die zeitgenössische paradoxe Kommunikation in psychiatrischen Anstalten, in denen die per Definition „kranken“ Menschen aufgefordert werden, sich normal zu verhalten.

Ergebnisse

Krankheit/Krankwerden ist Entlastung, wenn:
– Krankheit einen inneren Konflikt meint, kein psychisches biologisches, soziales oder funktionales Defizit
– Von der Feststellung von Krankheit keine (oder keine substanzielle) finanzielle (sozialstaatliche) Zuwendung abhängt
Krankheit/Kranksein ist Belastung, wenn:
– Krankheit am Beginn der Psychiatrie-Karriere steht, bevor man sich selbst zum eigenen innerpsychischen Geschehen ins Verhältnis setzen konnte
– Krankheit einen Mangel bezeichnet, daher Abwertung darstellt (Schuld)
– Krankheit sozialbürokratischen Status begründet und temporäre Abhängigkeit von gemeindepsychiatrischen Einrichtungen besteht, mit der Anforderung sie auch wieder zu verlassen
Krankheit/Kranksein ist eine unmögliche Position, wenn:
– Ein inhaltlicher und sozialer Referenzrahmen für alternative Deutungen existiert
– Die anfordernde Perspektive, zu der man sich verhalten muss, „gesund krank leben“ lautet
– Das behandelnde, sozialverwaltende oder private Umfeld flexible Positionierungen erfordert
Frau Korecky bezieht sich zum Abschluss auf den Soziologen Alain Ehrenberg, der sich viel mit psychischer Krankheit befasst hat. Nach ihm gibt es die Perspektive des Defizits auf die Krankheit. Dieses Defizit soll dann repariert werden. Die andere Perspektive wäre der Konflikt, der dann durchgearbeitet und reorganisiert werden soll. Sie möchte eine dritte Perspektive anbieten, die auch Menschen erfasst, die sich weder am Krankheits- noch am Gesundheitspol einfinden können. Hier entstünde die Möglichkeit, das Leiden in eine Herausforderung zu verwandeln.

Schluss

Der Blickwinkel anderer Disziplinen auf Psychiatrie und Psychotherapie bringt neue Aspekte ins Spiel, die unser Verständnis für unsere Arbeit und unser Selbstverständnis bereichern können. Gerade die französische Soziologie mit Alain Ehrenberg oder auch Michel Foucault bietet hier scharfsinnige Analysewerkzeuge, die uns davor bewahren können, allzu selbstzufrieden zu werden.
Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet „Psychische Krankheit“

Was ist eine psychische Krankheit?

Kontroversen um den Begriff >Psychische Krankheit< Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Andreas Heinz, Prof. Dr. med. Dr. phil., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Berlin

Einleitung

Zu Beginn erfahren wir etwas über die Kontroverse um den Begriff der >Psychischen Krankheit<, denn es ist für die Medizin nicht einfach, mit diesem Phänomen umzugehen. Das liegt zum einen daran, dass Mediziner sich von Hause aus eher um ein bestimmtes Krankheitsbild kümmern und nicht um so etwas, wie einen Begriff für eine ganze Klasse von Krankheiten. Herr Heinz schickt auch voraus, dass seine Betrachtungen natürlich kritisiert werden können, dass er nur eine von vielen möglichen Positionen bezieht.

Zum Begriff der Gesundheit

Gesundheit wird in der Definition der WHO als umfassendes Wohlbefinden verstanden. Herr Heinz ist der Ansicht, dass Gesundheit, auch psychische Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit verstanden werden kann. Sein Beispiel sind Wächter in einem KZ, von denen einer depressiv wird und der andere nicht. Welcher von beiden ist nun krank? Also bietet uns der Vortragende eine positive Definition an: Psychisch gesund ist, wer handlungsfähig ist, Selbstvertrauen hat und zur Empathie fähig ist.
Aber natürlich gibt es auch andere Ansätze, um Krankheit von Gesundheit unterscheiden zu können. Da wäre zunächst das >sozial angepasste Verhalten<, wobei einem schnell die Politik von totalitären Staaten einfällt. Dort wird den Dissident*innen gerne ihre geistige Gesundheit abgesprochen und werden dann unter diesem Vorwand einsperrt. Es wird auch versucht, über >organische Normabweichung< eine Unterscheidung zu treffen. Das stößt allerdings auf das Problem, dass Menschen höchst variabel in ihren Erscheinungsformen sind. Davon können uns auch die neuesten bildgebenden Verfahren nicht erlösen Ein weiterer Ansatz wäre es, >statistische Normabweichungen< heranzuziehen. Dabei stößt man dann auf den Begriff des „Normalen“, der bei genauerer Betrachtung ziemlich schwierig wird. Am Beispiel „Karies“ wird leicht deutlich, dass sie in dem Sinn normal ist, dass viele Menschen davon betroffen sind, die Karies aber eindeutig eine Zahnkrankheit darstellt. Herr Heinz schlägt vor, die funktionellen Auswirkungen als Maßstab zu nehmen und nicht das, was ‘normalerweise‘ sein sollte.

Krankheit

Nun betrachtet Herr Heinz das Verständnis von Krankheit und stellt uns zunächst ein lebensweltliches Verständnis von ihr vor. Darin geht es um Leiden und Beeinträchtigung, oder gar ein Übel, das ein Leiden ohne aufrechterhaltende äußere Ursachen darstellt. Darin sind wesentliche Funktionen behindert, das Sterberisiko mag erhöht sein und die Lebensfreude wurde verloren.Diese Betrachtung hat den Mangel, dass sie normativ lebensweltliche Begriffe mit wissenschaftlich-medizinischen Termini vermischt, also letztlich unklar bleibt.

Dann könnte Krankheit auch als wesentliche Funktionsstörung eines Organs betrachtet werden. Das wäre eine Störung, die das Überleben und die Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigte. Auch dafür gälte eine Abweichung von einer statistischen Norm.
Hier kritisiert Herr Heinz die Biologisierung von Normen mit dem Verweis auf die Homosexualität, die nach dieser Definition eine Krankheit darstellen würde. Hinzu kommt, dass es schwerlich eine Einigungsmöglichkeit darüber geben wird, welche Funktionen denn tatsächlich wesentlich sind.

Psychiatrie

Herr Heinz ist Psychiater, der angehende Psychiater ausbildet. Er vermittelt ihnen einen sog. „vereinfachten psychopathologischen Befund“ zum Ausschluss psychiatrischer Erkrankungen.

Wenn die Patient*innen wach und orientiert sind und dazu noch über ihre Auffassungsgabe verfügen, lässt sich ein hirnorganisches Syndrom ausschließen.

Wenn die Patient*innen dazu noch konzentrations- und merkfähig sind und auch auf ihr Gedächtnis zugreifen können, kann ein „Chronisches Hirnorganisches Syndrom“ (z.B. Demenz) ausgeschlossen werden.

Nun prüft Herr Heinz die Denkabläufe auf ihre formale Kohärenz, ihre Inhalte auf Anzeichen von Wahnerleben, ihre Verbindung zum Ich und das Vorliegen von Halluzinationen.
Bei einem negativen Befund kann nun auch die „Schizophrene Episode“ ausgeschlossen werden.

Zuletzt wird noch nach der Stimmung, dem Antrieb und dem Schlaf gefragt. Hier besagt der negative Befund, dass auch keine affektive Störung vorliegt.

Woher kommt aber dieses Vorgehen, diese Einteilung der psychischen Erkrankungen? Sie sind gewissermaßen ein Klassiker der Psychiatrie und beziehen sich auf eben die „Exogenen Psychosen“ und „Endogenen Psychosen“ zu denen nun auch „Variationen“ hinzukommen. Krankheiten, die sich in diesem Raster wiederfinden sind klinisch relevante Krankheiten.

Eine andere Sichtweise

Zum Abschluss dieses Abschnitts bietet uns Herr Heinz ein Diagramm an, das drei Kreise zeigt, die sich teilweise überlappen. Die Kreise symbolisieren die Krankheit, als medizinisch relevante Funktionsstörung verstanden, das subjektive Leiden und die Beeinträchtigung sozialer Teilhabe. Das Diagramm vermittelt, dass es eben nicht so einfach ist, eine Krankheit an nur einem Befund festzumachen, bzw. sie nur in einem Kontext zu betrachten. Als anschauliches Beispiel hören wir die Geschichte des psychotischen Patienten, der seinem Arzt sagt, dass er auf keinen Fall die Stimmen in seinem Kopf wegmachen soll. Sie geben ihm immer gute Tipps beim Aktienkauf.

Sozialer Kontext

Menschen und ihre Krankheiten sind immer in sozialen Kontexten eingebunden, von denen einige historisch-kultureller Natur und andere aktueller Natur sind. Herr Heinz führt uns auf eine Reise, die bis ins 19te Jahrhundert und weiter zurückführt. In dieser Zeit war die Evolutionstheorie eine große Inspiration. Sie wurde als höherstrebende Entwicklung gedeutet, in der es auch zu Degenerationen kommen kann. Natürlich werden degenerative Prozesse durch einen „ausschweifenden“ Lebensstil begründet, der Neurosen und Alkoholismus, dann geistige Störungen und Suizidneigung bis hin zu Schwachsinn und Missbildungen (bei den Nachkommen) führen kann.
Diese Theorie wurde dann auch noch rassistisch aufgeladen, bzw. mit biblisch religiösen Vorstellungen vermischt. Davon zeugt noch der Begriff des „Kaukasiers“, mit dem wir uns mitunter selbst bezeichnen.
Die Höherentwicklung wurde dann auch auf die Psyche des Menschen angewendet. Das nahm die Form an, dass die Rationalität, bzw. die Vernunft eben höher stehe als die Emotionalität. Dass degenerative Prozesse dazu führen können, dass die höheren Funktionen die niedrigeren nicht mehr hemmen können und so zu Positivsymptomen führen.
Herr Heinz weist uns darauf hin, dass dieses Verständnis auch heute noch am Wirken ist, wenn z.B. festgestellt wird, dass der Präfrontale Cortex die Amygdala nicht steuern kann.
Mit einem letzten Ausflug in die Kolonialzeit und das dritte Reich zeigt uns der Vortragende auf, was für fatale Folgen, diese Theorien auf sog. minderwertige Menschen gehabt hat.

Aktuelle Forschungen

Neuere Forschungen suchen auch im sozialen Umfeld nach Einflüssen auf psychische Krankheiten. Wir bekommen eine Auswahl präsentiert, die belegen kann, dass Einkommensungleichheit, Einkommen überhaupt, Arbeitslosigkeit, Armut, Diskriminierung, Isolation und Quarantäne psychische Erkrankungen wahrscheinlicher machen.
Auch in den Psychiatrien wird geforscht und hier ist das Ergebnis, dass offenen Türen in den Stationen für deutlich weniger Gewalt, Medikamente und Konflikte sorgen.
Zuguterletzt noch ein Ergebnis aus der Resilienzforschung, das besagt, dass Selbstwirksamkeit und Extraversion offenbar sehr hilfreich im Umgang mit schwierigen Situationen sind.
Herr Heinz teil noch mit, dass er an „Trialogen“ teilnimmt, sie sogar selbst initiiert. Dabei geht es darum, dass die Professionellen mit den Angehörigen und den Betroffenen gemeinsam darüber beraten, was gut und hilfreich sein kann.
Ein knapper und lehrreicher Vortrag, den Sie sich hier ansehen können

Die Psychosomatik erkundet Empathie und Achtsamkeit

Empathie und Achtsamkeit

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Philipp Kanske, Prof. Dr. rer. nat., Klinische Psychologie und Behaviorale Neurowissenschaft, TU Dresden

Einführung

Empathie und Achtsamkeit sind die Themen der Stunde in der Psychotherapie und der Neuro-Psychotherapie. Der Untertitel des Vortrags lautet: „Psychopathologie und Training des sozialen Gehirns“. Er stimmt uns auf den Schwerpunkt der Forschung von Herrn Kanske ein.
Warum beschäftigt sich die Forschung mit diesen Themen? Weil die kognitiven Prozesse in sozialen Interaktionen höchst komplex sind. „Wie können wir einander überhaupt verstehen?“ Wäre eine weitere Frage, und eine Teilantwort darauf lautet: „Theory of Mind (ToM)“. Dieser Begriff umschreibt die Fähigkeit, dass Menschen, etwa ab dem vierten Lebensjahr, imstande sind, sich vorzustellen, dass andere Menschen einen eigenen Gesichtspunkt, eigene Gedanken, Absichten und Wünsche haben, wie man selbst. Diese Fähigkeit wird gerne auch als „soziales Gehirn“ bezeichnet.

Soziale Integration

Soziale Integration ist eine zentrale Quelle von Resilienz, denn ohne sie drohen Einsamkeit, der Verlust sozialer Unterstützung und das Risiko zu sterben erhöht sich messbar. So ist der Verlust von sozialer Teilhabe für das Leben riskanter, als z. B. zu rauchen. Und, vielleicht überraschend, es sind die kleinen Begegnungen des Alltags, wie der Nachbar mit dem Hund, die Briefträgerin, die Verkäufer*innen, die einen grüßen und denen man zulächelt, die einen noch stärken positiven Einfluss haben, als die familiären Kontakte.
Das Institut von Herrn Kanske hat dazu in der aktuellen Corona Situation geforscht. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen waren deutlich mehr von den Folgen des Lockdowns betroffen, als Menschen ohne Vorerkrankung. Der Stress, der von sozialer Isolation induziert wird, wirkt sich dabei auch subjektiv aus. Die empfundene soziale Isolation, die nicht mit der tatsächlichen Anzahl der Kontakte übereinstimmen muss, wirkt pathogen. Sie kann sogar dazu führen, dass Menschen sich empathisch unverbunden erleben.

Empathie

Was wir unter „Empathie“ verstehen, hat eine große Bandbreite. Es geht um solche Aspekte wie: Einfühlungsvermögen, soziale Motivation, Perspektivwechsel (ToM), Sozialverhalten, Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Personenerkennung, Bindung, Gesichtswahrnehmung. Herr Kanske hat daraus das Einfühlungsvermögen, das Mitgefühl und den Perspektivwechsel ausgewählt, um sie näher zu erforschen.
Was er herausbekommen möchte, ist, wie sich soziale Kognition und Emotion, bestehend aus Empathie und Mitgefühl (positive Gefühle) sowie der ToM im weiteren auf das Sozialverhalten auswirken.

Neuronale Befunde

Für solche Forschungen wird heute gerne ein „Scanner“ in Anspruch genommen, denn nur so können Hinweise darauf gefunden werden, welche neuronalen Strukturen die Grundlagen für Mitgefühl darstellen. Die Proband*innen liegen also in der Röhre und sehen einen kleinen Film. Darin berichtet ein Mensch von einem Vorfall – einmal eher neutral und das andere Mal eher emotional. Danach werden die Proband*innen befragt. Zunächst zu ihrer Stimmung, danach, ob sie Mitgefühl empfinden und dann noch, ob sie die Perspektive der Erzähler*in nachvollziehen können.
Da solche Forschungen schon seit längerer Zeit betrieben werden, war das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. Die Gehirnstruktur, die bei Stimmungen eine zentrale Rolle spielt, ist die „Insula“. Interessanterweise korreliert die Aktivität der Insel allerdings nicht unbedingt mit der subjektiven Wahrnehmung. Sie kann hohe Aktivität aufweisen, ohne dass der Betreffende eine große Stimmungsänderung wahrnehmen kann.
Das positive Mitgefühl (compassion) braucht das „Striatum“ für sein Erscheinen. Es hat bekanntermaßen mit Fürsorgeverhalten zu tun, ebenso mit Belohnung und lernen. Das positive Mitgefühl unterscheidet sich also auch auf neuronaler Ebene von der Gestimmtheit.
Bei der Untersuchung zu Fragen der ToM stellte sich heraus, dass hier insbesondere der tempoparietale Übergang eine wichtige Rolle spielt. Diese Region scheint eine Art „Generalfaktor der sozialen Intelligenz“ zu sein.

Zusammenhänge

Haben nun Stimmung, Mitgefühl und ToM etwas miteinander zu tun? Bedeutet gutes Einfühlungsvermögen auch gutes Eindenkvermögen? Nein! Es zeigen sich keine Korrelationen zwischen diesen beiden Vermögen. Aber um das noch genauer zu überprüfen, hat das Institut von Herrn Kanske eine große Metaanalyse zur sozialen Neuroforschung durchgeführt.
Das Ergebnis zeigt, dass es eine ganze Reihe von Testaufgaben für die Erforschung der Empathie, als auch der Erforschung der ToM gibt. Es gibt aber auch noch einen Zwischenbereich, der sich nicht so eindeutig zuordnen lässt. In diesem Bereich zeigen sich Verbindungen von Gehirnstrukturen, die sonst eher selten miteinander interagieren. Hier findet sich auch am ehesten eine negative Korrelation zwischen Mitgefühl und ToM, wenn ich nämlich mit dem einen beschäftigt bin, rückt das andere eher in den Hintergrund. Gerade komplexe Aufgabenstellung werden auch komplex verarbeitet. Hier steht die Forschung noch ziemlich am Anfang.
Die Hoffnung besteht, dass auf diese Art auch psychische Störungen besser verstanden werden können, denn bei vielen psychischen Störungen sind es genau die Fähigkeiten der ToM und der Empatie, die beeinträchtigt sind.

Soziales Verhalten

Um einen Einblick in den Zusammenhang von Empathie und Sozialverhalten zu bekommen, wurde dem experimentellen Setting eine weitere Frage hinzugefügt, nämlich: Ob die Proband*in bereit wäre, der Person in dem Film zu helfen. Und ja, der Wille zu helfen war zunächst eindeutig stärker, wenn die Geschichte emotional erzählt wurde. Die ToM hatte allerdings kaum einen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft.
Ein weiterer Test war ein „Spendenspiel“. Es ging darum von geschenkten fünfzig Euro etwas an eine gemeinnützige Organisation zu spenden. Viele Spenden wurden gesammelt und die Befragung danach versuchte herauszufinden, ob empathische Gründe oder Perspektivgründe für das Spenden eine Rolle gespielt haben. Diese Experimente wurden dann auch für Vorhersagen geprüft, und tatsächlich kann man mit einem vorhergehenden Scan der Affektivität zu gut 60 % vorhersagen, ob der Proband spenden wird.
Nun kommt noch ein kleiner Exkurs. Im Rahmen der obengenannten Experimente wurde eine kleine Variation vorgenommen. Die Proband*innen bekamen neutrale oder emotionale Musik eingespielt. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass emotionale Musik das Mitgefühl verstärkt, was aber nicht der Fall war, wenn die Geschichte neutral erzählt wurde. Auf die ToM hatte die Musik keinen Einfluss.

Achtsamkeit & Co

Herr Kanske hat auch im Team von Tanja Singer mitgearbeitet, die die Effekte von Achtsamkeit erforscht hat und weiter erforscht. Worum geht es? Es gibt drei Arten von Trainingsmodulen, das sind: Präsenz, Affektivität und Perspektive. Präsenz umfasst die Aufmerksamkeit, innere Achtsamkeit, auf den Atem und den Körper zu spüren. Affekt umfasst Mitgefühl, prosoziale Motivation, Akzeptanz von Gefühlen. Das wurde mit Freundlichkeits- und Mitgefühlsmeditationen geübt und in einer Partnerübung als Erzählung über alltägliche Schwierigkeiten und Dankbarkeit. Das Perspektivmodul umfasst die Metakognition (denken über Gedanken), eigene und andere Perspektiven zu erfassen. Als Übung dafür ist die Meditation der Beobachtung der eigenen Gedanken geeignet und das Modell der „Inneren Familie“. Darin kommen verschiedene „Familienmitglieder“ zu Wort, wenn es um irgendein Thema geht. Ein Proband erzählt einem anderen eine Wortmeldung und dieser darf erraten, um welches Familienmitglied es sich handelt.

Training

Insgesamt dauert so ein Training länger als ein Jahr. Nach einem Retreat zur Einstimmung werden die Gruppen geteilt. Beide Gruppen beginnen mit Präsenzübungen, aber dann macht eine Gruppe mit Affektivität weiter und die andere mit Perspektive, die andere Gruppe in umgekehrter Reihenfolge. Dazu gab es noch eine Kontrollgruppe, die gar nichts trainiert hat.
Bei der Nachuntersuchung wurde umfangreich ermittelt, welche Veränderungen sich ergeben haben. Als Ergebnis zeigte sich, dass Mitgefühl vor allem nach dem Affektmodul angestiegen ist, und dass sich die Fähigkeit der ToM vor allem nach dem Perspektivmodul gesteigert hat. Aber es gab nicht nur diese relativ weichen Ergebnisse, sogar in der Gehirnstruktur wurden Veränderungen festgestellt. Die „Corticale Dicke“ also die Zellen der Hirnrinde haben sich vermehrt und zwar entsprechend den Bereichen, von denen wir schon weiter oben gehört haben – also z.B. die Insel, wenn es um Empathie geht.

Selbstberichtetes Sozialverhalten

Natürlich wurden die Proband*innen auch mit Spielen getestet. Sie zeigten vermehrt Altruismus, Großzügigkeit, Vertrauen und Hilfsbereitschaft. Reziprozität stieg allerdings nur durch das Affektmodul an. Wurden allerdings die Selbstbeschreibung mit den tatsächlichen prosozialen Verhalten verglichen zeigten sich Abweichungen. Die Menschen handelten nicht so nobel, wie sie selbst von sich glaubten.

Psychosozialer Stress

Stress wird gerne mit dem „Trierer Stresstest“ gemessen, der aus einer unerfreulichen Prüfungssituation besteht. Es zeigte sich, dass das reine Präsenztraining keinen Effekt auf den Stresslevel hat. Aber das gesamte Training war durchaus in der Lage, den Stress zu lindern.

Subklinische Veränderungen

Alle Proband*innen waren psychische gesunde Menschen. Aber auch solche Menschen zeigen in Tests subklinische Anzeichen wie z. B. Depressivität, Ängstlichkeit, Narzissmus, Einsamkeit etc. Die Frage war nun, ob sich hier nach dem Training eine Veränderung eingestellt hat. Das lies sich spezifisch nicht ermitteln, aber über die Summe der festgestellten Veränderungen konnte man immerhin aussagen, dass ein Training absolviert worden war.
Bei noch genauerer Auswertung wollten die Forscher*innen anhand der Testveränderungen vorhersagen, ob der Betreffende z.B. ein Affekt- oder ein Präsenzmodul absolviert hat und hier ergab sich ein positives Ergebnis. So ergaben sich spezielle Cluster, die zeigten für welche Bereiche, welches Modul am hilfreichsten ist. So hilft Affekt Training z.B. für Kardiovaskuläre Problem oder auch Ängstlichkeit; Perspektivtraining ist u.a. hilfreich für die Stresswahrnehmung, und Präsenz Training hilft bei Unsicherheit.

Fazit

Herr Kanske fasst zusammen: Empathie, Mitgefühl und ToM sind unterschiedliche Aspekte der sozialen Kognition und Emotion. Es ist möglich, diese Fähigkeiten gezielt „anzusteuern“ und einzuüben. Betroffene können so von ihren neuen Fähigkeiten profitieren, dass sie über ein verändertes Sozialverhalten neue soziale Situationen mitkreieren, die wiederum die erworbenen Veränderungen weiter unterstützen.
Den ganzen Vortrag kann man sich hier anhören.

Die Psychosomatik erkundet Dissoziationen

Wenn ein Mensch dissoziiert

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg.
Vortrag von: Brigitte Bosse, Dr. med., Leiterin des Trauma Instituts, Main: „Dissoziation als Überlebensstrategie“

Einführung

Frau Bosse gibt uns eine kurze Einführung zur „Dissoziativen Identitätsstörung“. Diese war früher auch unter dem Namen der „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ bekannt. Um uns einen Eindruck zu geben, zeigt sie einige Szenen aus einem Dokumentarfilm. Darin sehen wir eine Frau, die in sich sieben Persönlichkeiten vereinigt, die nacheinander interviewt werden. Die Personen haben unterschiedliche Lebensalter, unterschiedliche Geschlechter, verschiedene Hobbys und Aufgaben im „System“. Dieses System kann man sich wie ein Haus vorstellen, in dem eben mehrere Personen wohnen.
Dann stellt sie uns die Struktur des Vortrags vor. Sie möchte zunächst den Begriff der Dissoziation erläutern, danach die Pioniere des Themas Pierre Janet und Sigmund Freud vorstellen, dann die Frage beantworten, was ein Trauma ist. Weiter möchte sie uns etwas über Wahrnehmung und Gedächtnis mitteilen, etwas über „Strukturelle Dissoziation“, die „Dissoziative Identitätsstörung“, und dann noch über die Dissoziative Identitätsstörung infolge von ritualisierter Gewalt.

Von der Autobahntrance zur Dissoziation

Alltägliche Dissoziation

Wir erfahren, dass Dissoziationen ganz alltäglich vorkommen können. Die Fahrt auf der Autobahn z.B., die Kilometer rauschen vorbei und die Gedanken sind auf eigenen Pfaden unterwegs. Als Phänomen auch gut aus Vorlesungen/Vorträgen bekannt, wenn der Input zum sanften Hintergrundgemurmel wird und die Fantasie sich in ihren Gefilden ergeht. Aber es gibt auch die ganz einfachen Tagträume, und so etwas wie „kreativen Flow“ – die selbstvergessene Hingabe an eine Aufgabe. Den berühmten „zerstreuten Professor“ zählt Frau Bosse ebenfalls dazu.

Pathologische Dissoziation

Eine zumindest pathologische Note bekommt die Dissoziation, wenn sie als Symptom auftritt, bzw. als solches gesehen wird. Sie könnte allerdings auch als Defizit betrachtet werden, ebenso als Abwehrmechanismus, als Prozess und/oder als Struktur. Wie auch immer Betroffene und ihre ärztlichen Helfer die Dissoziation verstehen, scheint es eine Faustregel zu geben: „It’s a bad habit.“ Eine schlechte Angewohnheit also, die, wenn sie öfter genutzt wird, sich verstärkt zeigen wird.

Janet und Freud – Dissoziation oder Verdrängung?

Nun erfahren wir etwas über die Pioniere dieser Erkrankung in den Personen von Pierre Janet und Jean Martin Charcot, die in Paris den Geheimnissen der „Hysterie“ auf die Spur kommen wollten. Sigmund Freud studierte dort und als er nach Wien zurückkam meinte er, die Ursache der Hysterie erkannt zu haben, nämlich sexuelle, inzestuöse Gewalterfahrung. Aufgrund lauter Proteste gegen diese Auffassung nahm Freud sie zurück und formulierte stattdessen den Ödipuskomplex und die fantasierte erotische Begegnung. Die Psychoanalyse hat sich dann jahrzehntelang nicht mehr um reale Traumata gekümmert.
Aber bereits Janet hatte erkannt, dass die Dissoziation „Schutz vor dem Unaushaltbaren“ bietet. Für Freud wurde daraus später die „Verdrängung“. Diese beiden Begriffe entsprechen sich allerdings keineswegs, denn die Dissoziation betrifft Körpererinnerungen aus einer vorsprachlichen Zeit. Verdrängt werden kann aber nur, was schon sprachlich gedacht worden ist.
Janet hat auch schon die therapeutischen Prinzipien für den Umgang mit der Krankheit entwickelt, die noch heute gelten. Es geht darum die Patient*innen zu stabilisieren, dann zur Trauma Exposition überzugehen und schließlich die Erfahrungen zu integrieren.

Was ist ein Trauma?

Die Frage nach der Trauma Definition beantwortet Frau Bosse zunächst etwas flapsig damit, dass etwas geschieht, was ich im Kopf nicht aushalte. Genauer betrachtet erschüttert das Trauma grundlegende Konzepte der eigenen Sicherheit, der Weltsicht und des Selbsterlebens. Traumatische Erfahrungen sind „Widerfahrnisse“, wie Philipp Reemtsma so passend formuliert hat.
Subjektiv wird das Überleben dadurch gesichert, dass das Geschehen desintegriert wird, indem so getan wird, als würde es mich nicht betreffen. Die Dissoziation schützt vor den überwältigenden Ereignissen und weiter werden durch das Trauma  „Encodierungsprozesse“ gestört, also das Gedächtnis beeinflusst.
Ttraumatische Erfahrungen geschehen immer unerwartet. Sie führen zu einem neurobiologischen Chaos im Körper, denn Botenstoffe und Hormone werden in teilweise toxischen Dosierungen ausgeschüttet.

Traumafolgen

Wir sehen ein Diagramm mit einem sechswöchigen Zeitverlauf ab dem Trauma Ereignis. Während des Ereignisses werden die Geschehnisse fast überwach erlebt, aber die Gefühle werden nicht wahrgenommen, ebenso wenig Schmerzen oder körperliche Grenzen. Emotional können eine Übererregung oder eine Erstarrung erfahren werden.
In den sechs Wochen danach kommt es zu Episoden des Wiedererlebens, unwillkürliche Erinnerungen, aber auch Selbstvorwürfe und Albträume sind nicht selten. Es entwickelt sich häufig ein Vermeidungsverhalten, indem bestimmte Orte oder auch Erinnerungen gemieden werden. Mitunter kann die Sprechfähigkeit beeinträchtigt sein und Gefühle von Entfremdung, Interessenlosigkeit oder emotionale Leere sind weitere mögliche Symptome. Sehr häufig finden sich auch Anzeichen von Übererregung, Wachsamkeit, Anspannung, Schlafstörungen, verstärktes Redebedürfnis, Misstrauen und Konzentrationsschwäche sind die Anzeichen dafür.
Nach den sechs Wochen schaffen es etwa zwei Drittel der Betroffen in ihr altes Leben zurückzufinden. Ein Drittel entwickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD). Im Falle von vorsätzlicher Gewalterfahrung wie Folter oder sexualisierte Gewalt ist dieser Anteil allerdings höher. Die Befindlichkeit der Traumafolgestörung ist sehr unangenehm, denn– Selbstvorwürfe, Gefühle von Schuld und Scham, sowie Interessenverlust und ein Gefühl von Distanziertheit stellen sich ein.

Wahrnehmung und Gedächtnis

Den nächsten Abschnitt leitet die Vortragende mit drei kurzen Sätzen ein: „Man sieht nur, was man weiß!“ „Undenkbares kann ich nicht denken.“ „Man darf nicht alles glauben, was man denkt.“
Um den ersten Satz zu erläutern, zeigt uns Frau Bosse das Bild „Bauernhochzeit“ von Pieter Bruegel. Sie weist uns auf den vorderen rechten Bildabschnitt hin, wo sie vor einiger Zeit entdeckt hat, dass dort eine anatomische Unmöglichkeit abgebildet ist (zählen Sie einmal die Füße, die unter dem Brett mit den Tellern zu sehen sind).
Für den zweiten Satz gibt sie uns das Beispiel der sog. „Tellerlippen“ bei Frauen in bestimmten Kulturen. Bevor sie Bilder davon gesehen hat, konnte sie sich das einfach nicht vorstellen.
Sie erläutert kurz die Entstehung von Wahrnehmungen im Gehirn. Aus den Sinneseindrücken – sehen, hören, riechen, schmecken und tasten werden Eindrücke geformt. Das geschieht vorwiegend assoziativ, denn die meisten Nervenverbindungen im Gehirn (ca. 90 %) sind „intern“, also nicht mit einem Sinnesorgan verbunden. In dieser „Selbstreferenzialität“ entstehen Sinn, Bedeutung und Wirklichkeit des Bewusstseins.

Arten von Gedächtnis

Nun erfahren wir etwas über zwei Aspekte des Gedächtnisses. Zunächst das sog. implizite Gedächtnis. Dafür ist vor allem die Amygdala (Mandelkern) im Gehirn zuständig. Sie wird auch als „Schaltstelle für das Überleben“ bezeichnet, denn die Amygdala vergisst nie (!) wo Gefahr droht, wo gutes Futter zu finden ist, oder der beste Sexualpartner zu finden ist. Und sie gibt den Sinneseindrücken erst eine emotionale Bedeutung.
In extremen Situationen speichert der Mandelkern die affektiven Zustände nur als Bilder oder somatische Sensationen. Dort liegen sie nun zeitlos, immer gegenwärtig, ohne Kontext, in Fragmenten und nicht versprachlicht vor.
Der Hippocampus (Seepferdchen) ist für das explizite Gedächtnis zuständig, er ist gewissermaßen sein „Archivar“. Er ist sprachlich, episodisch und biografisch. Hier haben die Erinnerungen einen Platz in Zeit, Raum und Kontext.
Dieses Hintergrundwissen hilft uns den traumatischen Prozess besser zu verstehen. Die Sinneseindrücke die während des Traumas erlebt wurden, finden keinen Weg ins episodische Gedächtnis. Es sind gewissermaßen Inseln des Grauens in einer ansonsten geordneten Welt.
Gerade die intensive traumatische Erfahrung führt zu einer maximalen Erregung des ganzen Körpersystems, die Nähe zu Kampf, Flucht und Totstellen ist gut bekannt. Aber in der Situation herrscht Ohnmacht. Die Erregung kann nirgendwo hin und genau das verhindert, dass aus den Geschehnissen irgendetwas gelernt werden kann.

Strukturelle Dissoziation


Nun erfahren wir etwas über die klinische Einteilung von Strukturellen Dissoziationen. Unterschieden wird sie in drei Ausprägungsstufen:

Primäre strukturelle Dissoziation

Als Beispiel sehen wir das Bild eines Papageis. Erst bei genauerer Betrachtung können wir erkennen, dass hier ein geschminkter Mensch zu sehen ist. Damit will uns Frau Bosse nahebringen, dass zur ersten Form „eine anscheinend normale Außenperson (ANP)“ gehört. Dazu kommt „ein emotionaler Anteil (EP)“ und dies ist die Konstellation der PTBS. Denn die Verdoppelung des Bildinhalts (Papagei + Frau) entspricht dem Erlebensmodus von Betroffenen, die zwei Inhalte nicht miteinander verknüpfen können. Oder anders ausgedrückt – der/die Betroffene wirkt nach außen völlig normal, erlebt sich aber innerlich als hoch erregt.

Sekundäre strukturell Dissoziation

Dazu gibt es drei Unterformen:
die Komplexe Traumabelastungsstörung (k-PTSD)
die Emotional instabile Persönlichkeit (BPS)
und die Dissociative Disease non otherwise specified (DDNOS)
Auf dieser zweiten Stufe bekommen wir ein weiteres Bild des Künstlers Johannes Stötter präsentiert. Jetzt ist es ein Chamäleon, das aus zwei bemalten Menschen geformt wird. Die Struktur sieht jetzt so aus, dass zu einer normalen Außenperson mehrere emotionale Anteile feststellbar sind.

Dissoziative Identitätsstörung (DID)

Zur Veranschaulichung der dritten Stufe sehen wir ein Bild, das zunächst wie ein Löwenzahn aussieht. Aber auch hier sind es wieder nur geschminkte Menschen, die diese Illusion erzeugen. Entsprechend handelt es sich bei dieser Ausprägung um mehrere anscheinend normale Außenpersonen und mehrere emotionale Anteile.
Zur Entstehung der Dissoziativen Identitätsstörung ist inzwischen einiges bekannt. Wer vor dem fünften Lebensjahr schwere Gewalt erfahren hat, kann davon betroffen sein (ältere Kinder können diese Störung nicht mehr entwickeln). Es kann sich dabei um extreme sadistische, rituelle Gewalt handeln und dabei wird Todesnähe erlebt. Die Kinder fühlen sich verraten und verkauft und es gibt weit und breit keine gute Bindungsperson. Erschreckenderweise ist die Prävalenz in der deutschen Bevölkerung etwa so hoch wir für Schizophrenie, nämlich 0,5 – 1,5 % (in absoluten Zahlen wären das etwa 800.000 Betroffene).
Über das Leben mit einer DID erfahren wir, dass es vor allem anstrengend ist. Auf sozialer Ebene leben die Betroffenen in zwei Welten, sprechen in zwei Sprachen (verstehen oft nicht die Begriffe der Alltagssprache) oder leiden unter Sprachlosigkeit, erleben Brüche in ihrer Schul- und Berufslaufbahn, haben Schwierigkeiten Vertrauen zu fassen, sind in ihrer Lebensperspektive eingeschränkt (obwohl es auch beruflich sehr erfolgreiche Betroffene gibt) und sie sind unfähig oder leben unter dem Verbot, Hilfe anzunehmen.
Auf somatischer Ebene können Krankheiten sowohl über- als auch unterschätzt werden, denn unterschiedliche Innenpersonen können verschiedene Krankheiten haben, und aufgrund des hohen Stresslevels sind häufig Störungen des Immunsystems feststellbar.

 

Diagnose der DID

Frau Bosse empfiehlt nachdrücklich, die Patient*innen zu fragen. Erleben Sie Zeitverluste, dass Sie manchmal nicht wissen, was Sie die letzten Stunden getan haben? Haben Sie wechselnde Fähigkeiten und/oder Vorlieben?
Weiter ist es möglich nach „negativen Symptomen“ (etwas fehlt) zu suchen. Das können Gedächtnislücken sein, Gefühle von Depersonalisation/Derealisation oder Gefühlstaubheit. Auf der körperlichen Ebene können fehlendes Schmerzempfinden, zeitweiliger Verlust der Sinneswahrnehmung oder motorische Funktionsausfälle sein.
Entsprechend gibt es auch „positive Symptome“ (etwas ist zu viel). Darunter fallen Phänomene wie Stimmen hören (innere Stimmen), plötzlich auftretende Emotionen, sich aufdrängende Erinnerungen, Intrusionen/Flashbacks und auf körperlicher Ebene können Körpererinnerungen auftauchen, mit Empfindungen oder Schmerzen.
Um eine präzise Diagnose stellen zu können, braucht es noch einige Tests, um ganz sicher sein zu können. Das ist jedoch manchmal auch nicht leicht, weil die Betroffenen mit dem Motto leben, ich will es nicht merken und du sollst es auch nicht merken.

Gezielt hervorgerufene Dissoziation

Es ist eine erschreckende Vorstellung, dass Menschen, Kinder mit Gewalt, gezielt konditionieren und programmieren. Es gibt den Bereich der Pädokriminalität (für kriminelle Handlungen zugerichtete Kinder), Kinderfolterdokumentationen, Kinderhandel/Zwangsprostitution und Kindersoldaten. Und damit nicht genug auch noch Satanische Kulte, Sekten oder Faschistoide Gruppen, die systematisch diese Grausamkeiten begehen. Gerade die Betroffenen der letzten Gruppe sind besonders schwer einer Therapie zugänglich, da sie auch ideologisch vergiftet sind.
Zum Abschluss sehen wir noch ein Bild einer hochfunktionalen Betroffenen und hören ein Gedicht eines Betroffenen: Zu sehen und nachzuhören hier. (1:13:50)