„Psychiatrie und Subjektivität – Erfahrungen von Betroffenen“ Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Karina Korecky, Mag. Soziologie und Politikwissenschaft, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Diese ersten drei Vorlesungen drehen sich alle um das Thema des psychisch kranken Subjekts. Zunächst wurde der Begriff des Subjekts problematisiert und aufgezeigt, dass Subjektivität eine soziale Konstruktion ist. Im zweiten Teil ging es darum, den problematischen Begriff der „Psychischen Krankheit“ zu erkunden und in diesem Vortrag versucht die Vortragende, etwas aus den Erzählungen von Psychiatrieerfahrenen zu lernen.
Einleitung
Frau Korecky stellt ihr Forschungsparadigma vor. Es sucht in den Narrativen von Betroffenen danach, wie der Begriff „Krankheit“ verwendet wird. Sie gibt uns zunächst einen kurzen historischen Abriss der „Subjektivität“. Im Wesentlichen spielt dabei die Kantische Philosophie die zentrale Rolle – seither taucht der Begriff vermehrt in philosophischen Werken auf. Eng damit verbunden sind Begriffe wie „Selbstbezug“, „Selbstwahrnehmung“ oder auch „Selbstreflexion“. Ihre Frage geht nun dahin, wie sich (teils beschädigte) Subjekte mit der Bezeichnung „psychisch krank“ auseinandersetzen.
Dazu hat sie 36 Interviews ausgewertet, die sie teils selbst geführt, teils nachbearbeitet hat. Sie wollte die Fragen klären, wie der gesellschaftliche Status von (ehemalig) psychisch Kranken aussieht; welche Anforderungen die Arzt–Patient Beziehung hat; und wie die Betroffenen zu ihren Medikamenten stehen. Die Eröffnungsfrage aller Interviews lautete: „Wie kam es, dass Sie mit der Psychiatrie in Verbindung gekommen sind?“
Folgen der Psychiatriekritik
Sie stellt zunächst fest, dass nahezu alle Interviewten den Begriff der „Krankheit“ vermeiden und eher selten auf psychiatrische Fachtermini zurückgreifen. Überraschend erscheint allerdings, dass sich Psychiater*innen ebenfalls sehr zurückhalten, wenn es um das Wörtchen „Krankheit“ geht.
Die Vortragende führt das auf die Bewegung der „Psychiatrie-Kritik“ in der 60er und 70er Jahren zurück. Es ging dabei u.a. um das essentialistische Verständnis von psychischer Krankheit unter Verwendung eines verdeckt normativen Menschenbilds. Diese kleine Psychiatrierevolution hatte vielfältige Auswirkungen auf das Verständnis und die Behandlung von psychischen Krankheiten. Ein Effekt war die Einführung der „axialen Diagnostik“ im DSM III. Sie sollte vermeintlich atheoretisch sein und so die Kritik entkräften.
Die Folge davon war, dass aus psychischer Krankheit eine Vielzahl von Krankheiten wurden. Darüber hinaus ging auch die Trennschärfe zum Begriff der „Gesundheit“ verloren – was ist noch eine Variation, eine Eigenheit ein Tick und ab wann ist eine Krankheit zu diagnostizieren? Es fand eine „Normalisierung der Psychiatrie und eine Psychiatrisierung der Normalität“ statt.
Kategorien
Bei einer ersten Durchsicht der Interviews ergaben sich drei Gruppen von Erfahrungen. Da ist zunächst die Erleichterung, die eine Diagnose bieten kann. Das ist nur eine Krankheit, die ist behandelbar, sie kann vorbeigehen. In einer zweiten Gruppe war es schwierig, die Diagnose im sozialen Umfeld zu vermitteln. Die dritte Gruppe empfindet die Diagnose als Urteil, das schockiert zur Kenntnis genommen wird.
Es folgen einige Interviewauszüge aus diesen drei Gruppen, die Frau Korecky gründlich analysiert und interpretiert. Darin kommen so viel Feinsinn und Akribie zum Tragen, dass ich das hier kaum nachvollziehen kann. Ihre Herkunft aus der Soziologie gibt ihren Analysen eine große und teilweise verblüffende Tiefenschärfe. Z.B. die zeitgenössische paradoxe Kommunikation in psychiatrischen Anstalten, in denen die per Definition „kranken“ Menschen aufgefordert werden, sich normal zu verhalten.
Ergebnisse
Krankheit/Krankwerden ist Entlastung, wenn:
– Krankheit einen inneren Konflikt meint, kein psychisches biologisches, soziales oder funktionales Defizit
– Von der Feststellung von Krankheit keine (oder keine substanzielle) finanzielle (sozialstaatliche) Zuwendung abhängt
Krankheit/Kranksein ist Belastung, wenn:
– Krankheit am Beginn der Psychiatrie-Karriere steht, bevor man sich selbst zum eigenen innerpsychischen Geschehen ins Verhältnis setzen konnte
– Krankheit einen Mangel bezeichnet, daher Abwertung darstellt (Schuld)
– Krankheit sozialbürokratischen Status begründet und temporäre Abhängigkeit von gemeindepsychiatrischen Einrichtungen besteht, mit der Anforderung sie auch wieder zu verlassen
Krankheit/Kranksein ist eine unmögliche Position, wenn:
– Ein inhaltlicher und sozialer Referenzrahmen für alternative Deutungen existiert
– Die anfordernde Perspektive, zu der man sich verhalten muss, „gesund krank leben“ lautet
– Das behandelnde, sozialverwaltende oder private Umfeld flexible Positionierungen erfordert
Frau Korecky bezieht sich zum Abschluss auf den Soziologen Alain Ehrenberg, der sich viel mit psychischer Krankheit befasst hat. Nach ihm gibt es die Perspektive des Defizits auf die Krankheit. Dieses Defizit soll dann repariert werden. Die andere Perspektive wäre der Konflikt, der dann durchgearbeitet und reorganisiert werden soll. Sie möchte eine dritte Perspektive anbieten, die auch Menschen erfasst, die sich weder am Krankheits- noch am Gesundheitspol einfinden können. Hier entstünde die Möglichkeit, das Leiden in eine Herausforderung zu verwandeln.
Schluss
Der Blickwinkel anderer Disziplinen auf Psychiatrie und Psychotherapie bringt neue Aspekte ins Spiel, die unser Verständnis für unsere Arbeit und unser Selbstverständnis bereichern können. Gerade die französische Soziologie mit Alain Ehrenberg oder auch Michel Foucault bietet hier scharfsinnige Analysewerkzeuge, die uns davor bewahren können, allzu selbstzufrieden zu werden.
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