Die Psychosomatik erkundet die aktuelle Sexualität

Sexualität und Mode

Bericht vom Psychosomatischen Dienstagskolloquium vom 29.01.19 Dr. phil. Sophinette Becker: „Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung – Was bleibt?

Zur Einführung ins Thema schildert uns Frau Becker zwei Begebenheiten. Ein Mädchen, vier Jahre alt, zieht das Oberteil ihres Badeanzugs immer wieder herunter. Daran erinnert, dass sie doch ein Mädchen sei, erwidert sie: „Ich habe mich doch noch gar nicht entschieden.“ Und bei einem Workshop werden Frauen und Männer befragt, was sie am anderen Geschlecht attraktiv finden. Die überraschende Antwort von beiden Geschlechtern: „Der Mann sollte ein klein wenig überlegen sein.“ Zwei Beispiele, die zeigen, dass Geschlechterbilder sich einerseits auflösen und andererseits noch recht traditionell sind.

Geschichte

Kulturhistorisch lassen sich die „alten“ Geschlechterklischees auf das 19te Jahrhundert zurückverfolgen. Dort hatte sich die Rollenteilung zwischen Mann und Frau zugespitzt. Männer (die mit Penis), und Frauen (die mit Brüsten und Vagina) wurden zu Idealtypen stilisiert und zwar die Männer als Soldaten, und die Frauen als Mütter. Die Androgynität, zuvor eine Möglichkeit, wurde nun medizinisch behandelt, sprich operiert.
Die sexuelle Orientierung, also nach welchem Geschlecht sich das Begehren sehnt, war nur unklar von der Geschlechtsidentität, also als welches Geschlecht ein Mensch sich empfindet, differenziert. Homosexualität und Transsexualität sind auch heute noch in traditionelleren Gesellschaften kaum unterschieden. Dort herrschen noch Vorstellungen, wie sie auch in Europa lange verbreitet waren. Sexualität dient der Fortpflanzung, ist weitgehend biologisch determiniert, gesund und normal ist Heterosexualität, Frauen sind Männern unterlegen und untergeordnet.
In Europa war es zunächst Sigmund Freud, der einige dieser Vorstellungen hinterfragte und z.B. feststellte, dass Sexualität von der Fortpflanzungsfunktion verschieden ist. Und erst mit der sog. „Sexuellen Revolution“ der 68er Bewegung wurden dann auch Geschlechtsidentitäten hinterfragt. Transsexualität oder Intersexualität wurde zum Thema.

Gegenwart

Heutzutage wird von „Sexualitäten“ und „Identitäten“ gesprochen. Der Plural zeigt an, dass das binäre System überwunden scheint. Auf manchen Internetplattformen kann man aus bis zu sechzig verschiedenen Geschlechtsidentitäten wählen. Das führt fast zwangsläufig zu Unklarheiten und zu vielen neuen, kleinen Identitäten. Frau Becker ist sich aber sicher, dass die Erscheinung als Mann/Frau nach wie vor relevant ist, wenn auch auf einer präreflexiven Ebene, also unbewusst.
Insgesamt aber lässt sich eine Durchmischung von Identitäten beobachten, z.B. eine Homosexualisierung der Heterosexualität oder eine Heterosexualisierung der Homosexualität und auch Bisexualisierung v.a. bei Männern. Nicht einmal mehr die Selbstbefriedigungsfantasien von Jugendlichen können heute noch klare Auskunft über die sexuelle Orientierung geben. Die Bisexualität scheint auf dem Vormarsch zu sein. Das ist allerdings nicht unbedingt schlecht. Hatten Männer früher vor allem Angst vor Autonomieverlust und Frauen Angst vor Bindungsverlust, haben sie heute mehr Möglichkeiten, Sexualität angstfreier zu erleben und ebenso ihre sexuelle Orientierung zu verändern.

Ausblick

Wo stehen wir heute, wohin geht der Trend? Frauen tragen heutzutage selbstverständlich auch Hosen und Anzüge, während man Männer in Röcken und Kleidern eher selten sieht. Es bleiben soziale Ungerechtigkeiten v.a. im Berufsleben. Männer suchen nach neuen Rollenbildern, denn das überkommene männliche Selbstverständnis wird fast nur noch in Pornofilmen verwirklicht. Für Frauen stellt sich die Herausforderung anders. Sie sollen weiblich, beruflich erfolgreich, schlank, effizient etc. sein. Solche Herausforderungen sind kaum ohne Essstörung zu meistern.
Weiter gibt es einen Trend zu Re-Biologisierung der Geschlechter. Die Unterschiede liegen dabei nicht mehr in den Geschlechtsorganen sondern z. B. in den Genen oder den Gehirnen (siehe Artikel von letzter Woche). Weiter ist heute klarer, dass „Geschlecht“ immer auch ein psychisches Konstrukt ist, das einerseits auf dem Geschlecht des Körpers beruht und andererseits von sozialen Einflüssen bestimmt wird. Geschlecht und Begehren entwickeln sich in gegenseitigem Einfluss. Frau Becker erinnert uns daran, dass die Verbindungen von Geschlechtsidentität und Sexueller Orientierung nach wie vor unklar sind.

Dimensionen von Geschlechtsidentität

Sie präsentiert uns eine Folie über die Dimensionen der Entwicklung der Geschlechtsidentität

  • Identifikationen mit Mutter und Vater sowie Ent-Identifikationen von beiden

  • Objektwahrnehmung, libidinöse und aggressive Strebungen, passive und aktive Bedürfnisse gegenüber Mutter und Vater und ihre Konnotationen als weiblich/männlich

  • Körperfantasien, inkl. Bisexueller Omnipotenz

  • Verbaler und nonverbaler Umgang der Eltern mit dem geschlechtlichen Körper des Kindes

  • Wahrnehmung und Interpretation des Geschlechtsunterschieds zwischen den Eltern und in der Beziehung der Eltern

  • Geschlechtsspezifisch aufgeladene unbewusste Botschaften und Zuschreibungen beider Eltern gegenüber dem Kind und seinen Eigenschaften, Bedürfnissen und Verhaltensweisen

  • Der transgenerationale Familienroman

Zum Ende hin betrachtet Frau Becker noch, wie die Psychoanalyse mit diesen Entwicklungen umgeht. Die PA muss ihrer Ansicht nach v.a. ihre Konzepte der Psychosexuellen Entwicklung hinterfragen und aktualisieren. Sie bleibt aber eine Anhängerin von komplizierten Fragen, deren Prämissen ebenfalls hinterfragt werden müssen. Bei allen nachvollziehbaren Wünschen nach mehr Klarheit, ist Verwirrung aber nicht nur schlecht. Im Gegenteil – sie führt zu neuen Fragen, die Antworten finden können, die weniger essentialistisch als früher sein können.

Die Psychosomatik enttarnt „Neuromythen“

Neuroforschung und Bildgebung

Bericht vom Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ vom 22.01.19  von Felix Hasler: „Neuromythologie“

Willkommen im Neurozeitalter

Herr Hasler beginnt seinen Vortrag mit der Behauptung, dass wir uns nicht mehr nur im „Neurozeitalter“ befinden, sondern zu „Neuroessenzialisten“ geworden sind. Begriffe wie: „Cerebral subjects“, „Homo cerebralis“ oder „Neurochemical selves“ stehen dafür ein. Buchtitel mit dem „Brain“, bzw. „Gehirn“ im Titel überfluten den Buchmarkt und erläutern uns das „Weibliche Gehirn“, den „Gehirn Sex“, das „Gehirn basierte Lernen“ u.v.m.
Alle diese Veröffentlichungen spielen mit der Vorstellung, dass durch Abbildungen der Biomasse im Schädel, das Verhalten des Schädelbesitzers vorhergesagt werden könnte. Tatsächlich gibt es inzwischen Lehrstühle für „Neuro-Psychoanalyse“ und „Neuro-Forensik“. Hinter den Veröffentlichungen und Aktivitäten steht die Autorität strenger Wissenschaftlichkeit, das Versprechen durch Neurowissenschaft das Wesen des Menschen ergründen zu können.
Als Beispiel zitiert Herr Hasler aus einem Buch über Neuro-Didaktik. Die Passagen enthüllen nichts Neues über das Lehren und Lernen, als schon z.B. Johann Pestalozzi wusste. Aber das schadet dem Neuroenthusiasmus nicht weiter. Die Vorsilbe „Neuro-“ lässt sich vor jegliche Wissenschaftsdisziplin stellen und suggeriert dann Wissenschaft auf dem neuesten Stand der Technik.

Das neue Zeitalter ist schön bunt

Die Vorzeigetechnik der Neurowissenschaft sind die bildgebenden Verfahren (fMRE, PET, MRT). Sie garantieren die wunderbar bunten Bilder, die suggerieren, dass der Betrachter dem Gehirn beim Denke zusehen kann. Das ist allerdings eine Illusion. Die Bilder entstehen durch statistische Rechenverfahren, die bestimmten Veränderungen, z.B. der Durchblutung, einen Zahlen-, bzw. Farbwert zuordnen. Der Wissenschaftler muss sich an zahlreichen Stellen dafür entscheiden, welchen Rechenweg er einschlägt, aber jeder Rechenweg führt zu einem anderen Bild. Daher rührt auch der Effekt, dass sich kaum eine bildgebende Studie replizieren lassen kann. Dies gilt insbesondere wenn höhere kognitive Funktionen wie moralische Entscheidungen oder Kunstgenuss erforscht werden sollen.
Als Beispiel präsentiert uns Herr Hasler eine Studie zur „romantischen Liebe“. Aus der Versuchsanordnung mit Bildern des geliebten Menschen und dazwischen gestreute neutrale Bildern entstehen dann Abbildungen, die insbesondere den ACC (Anteriorer Cingulärer Cortex) hell erleuchtet darstellen. Allerdings leuchtet der auch bei amerikanischen Wählern von Hillary Clinton, beim Genuss eines Schoko-Milchshakes oder wenn Vegetarier Bilder von Tierquälerei sehen usw. usf.

Geschichte und öffentliche Darstellung

Nun geht Herr Hasler ein wenig auf die Geschichte und die öffentliche Wahrnehmung des „Neuro-Imaging“ ein. Um die Jahrtausendwende waren zahlreiche Forscher geradezu euphorisch, was die Möglichkeiten der neuen Verfahren anging. Zahlreiche Zeitschriften präsentierten Bilder aus verschiedenen Studien, die angeblich belegen sollten, wie die Gehirne bei Schizophrenie oder Depression im PET aussehen.
Führende Wissenschaftler schwärmten kurz nach der Jahrhundertwende von den neuen Möglichkeiten. Aber nach nur zehn Jahren war die Euphorie verflogen. Weder wurde ein neues Verständnis von Krankheitsentstehung und –Verlauf gewonnen, noch wurden neue Medikamente entdeckt.
Dennoch hatte dieser Hype Auswirkungen auf die Psychiatrie selbst. Seither dominiert ein blinder Materialismus, für den eine Depression nur noch eine Transmitterstörung darstellt. Alle diagnostischen und therapeutischen Zugänge sollen über neuronale, bzw. genetische Faktoren validiert werden. Ungeheure Geldmittel wurden (und werden) für dieses Ziel aufgewendet. Der wahre Preis dafür ist aber die Vernachlässigung von Beziehungen (siehe Beitrag von letzter Woche).
In einer Zeitschrift mit dem Namen „Molecular Psychiatry“ finden sich dann solche wunderbaren Befunde wie: „mTORC1-abhängige Translation von Collapsin antwortet auf das Mediator Protein-2, das unterstützt neuronale Adaptionen, die exzessiven Alkoholkonsum unterstützen.“ „Molecular Psychiatry“ war jahrelang die meistgelesene Fachzeitschrift (!).

Die Rolle der Pharmahersteller

Nun kommt Herr Hasler noch auf die Rolle der Pharmaindustrie zu sprechen. Bemerkenswerterweise übertrifft in den USA die Zahl der Psychopharmaka Nutzer inzwischen die der Raucher. Die Pharmaindustrie hat ein Interesse an bildgebenden Verfahren, da sie eben suggerieren, dass da ein „Defekt“ vorhanden sei, der mit Pharmazeutika beseitigt werden können. Eine Art Analogie z.B. zu Diabetes.
Gleichzeitig stellt die Pharmaindustrie die Produktion zahlreicher Medikamente ein und ebenso die Forschung für neue Produkte. Tatsächlich sind alle (!) geläufigen Psychopharmaka Zufallsfunde. Ihre Wirkung ist alles andere als krankheitsspezifisch. Die heute vermittelte Spezifität wurde allein dadurch erreicht, dass Krankheiten neue Benennungen erhalten haben. „Wenn man kein Medikament für eine Krankheit findet, kann man ja eine Krankheit für ein Medikament erfinden.“

Weitere Probleme des Neuroimaging

Herr Hasler nähert sich dem Ende seines Vortrags und präsentiert eine Meta-Analyse von Meta-Analysen zu Unipolarer Depression. Diese kommt zum Befund, dass keinerlei (!) replizierbare Effekte in den Studien zu finden sind. Zwischen somatischer Erkrankung und psychiatrischen Diagnosen scheint ein qualitativer Abgrund zu liegen. Die Psychiatrie steht so vor der Frage, ob sie ihre (willkürlichen) Diagnosen aufgeben will oder das Gehirn. Offenbar hat sie sich zum Ersteren entschlossen und beginnt gigantische Listen/Tabellen zu erstellen, in denen alle möglichen Transmitter, synaptische Aktivitäten, Hormone etc. aufgezählt sind.

Was ist normal?

Einige weitere Probleme der Psychodiagnostik liegen in den Schlussfolgerungen, die aus der Tierforschung auf den Menschen übertragen werden. Ebenso die biologische Variabilität von Lebewesen, denn in jeder untersuchten Gruppe finden sich Abweichungen von einer Norm. Wie üblich gibt es nur „Glockenkurven“, bei denen bestimmte Bereiche als pathologisch definiert werden. Wie weit das gehen kann demonstriert uns Herr Hasler mit Röntgenaufnahmen eines Kindes, dem eine Hirnhälfte entfernt werden musste, das aber keinerlei Auffälligkeiten zeigt (Neuroplastizität). Eine weitere Aufnahme ist ein Zufallsbefund. Sie zeigt den Schädel eines Angestellten, dessen Schädel tatsächlich so gut wie leer ist. Auch er zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Noch ein weiteres Problem besteht darin, dass mit jeder neuen Entdeckung/Darstellung die Komplexität des Geschehens noch größer wird.
Aber unverdrossen verfolgen führende Psychiater weiterhin den Weg der materialistischen Diagnose und Therapie. Weiterhin werden Unsummen für solche Projekte mobilisiert (z.B. das Human Brain Project).

Ausblick

Herr Hasler stellt fest: Ein Gehirn kann nicht depressiv sein, es sind Menschen die an einer Depression leiden. Die akademische Psychiatrie hat ein Eigenleben entwickelt, das sie von den Patienten mehr und mehr entfernt. Er fordert ein Zurück zu den sozialen Modellen von Pathogenese und Therapie.
Die Zukunft der Psychiatrie sieht er als digital und nicht neurologisch – es geht um Telepsychiatrie, Apps, Videokonferenzen. Die Patient-Therapeut-Beziehung muss sich wieder ändern. Es braucht mobile Kriseninterventionsteams, statt stationären Behandlungen, Dialog-basierte Programme und einen neuen Pragmatismus: Was hilft wirklich in der Praxis?

Die Psychosomatik entdeckt das echte Gespräch

Gespräche können heilen

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 15.01.19  von: Giovanni Maio Prof. Dr. med. M.A., Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg:          „Das echte Gespräch als Grundlage allen Heilens“

In einem völlig überfüllten Audi Max beginnt Herr Maio seinen Vortrag mit der Feststellung, dass das Gespräch die Grundlage allen medizinischen Handelns ist. Das Gespräch sei natürlich nicht alles, aber ohne Gespräch sei eben alles nichts. Warum ist das so? Was macht das Gespräch so wichtig? Es steht im Zentrum aller hilfsbedürftigen Menschen, die sich an Vertreter der Medizin – Ärzte, Schwestern, Pfleger etc. – wenden. Ein Gespräch ist keine Diskussion, kein Gerede, keine Unterhaltung. Aber was macht ein Gespräch zu einem Gespräch? Worauf kommt es an. Herr Maio möchte dies in fünf Punkten erläutern.

Was ist ein Gespräch?

1. Ein Gespräch ist Verständigung

Der Wunsch verstanden zu werden trifft auf die Bereitschaft, verstehen zu wollen. Verstehen wollen ist die Haltung, den Anspruch des anderen zu vernehmen. Der Andere erfährt Anerkennung als Anderer, der noch unbekannt ist. Durch Ansprechbarkeit öffnet sich der Raum des Gesprächs für Unvorhersehbares, Überraschungen können auftreten, denn ein echtes Gespräch ist die Produktion von etwas Neuem.

2. Ein Gespräch ist Antwort geben

Es ist eine Antwort für den Anderen, es gibt keinen festen Plan dafür. Gespräche sind eine „responsive Arbeit“. So gesehen sind medizinische Berufe antwortende Berufe. Sie antworten auf den Appell, den der Kranke alleine durch seinen Zustand äußert. Die Antwort ist eine Verantwortung. Es besteht ein inneres Verlangen dem Patienten gerecht zu werden – aufgerufen zu sein. Es ist fatal, wenn dafür keine Zeit vorhanden ist. Das Gespräch selbst ist die Antwort für den Patienten – nicht seine Frage, sondern der Fragende selbst.

3. Ein Gespräch ist ein Ereignis

Ein Gespräch kennt keinen festen Ablauf, es ist ein lebendiges Ereignis. Gespräch sind ungewiss und unvorhersehbar, denn was darin geschieht ist gewissermaßen ein dialogisches Ausgeliefert-Sein. Die Interaktion zwischen zwei Menschen erzeugt eine Eigendynamik, deren Eigenleben einen eigengesetzlichen Verlauf nimmt. Die Begegnung öffnet einen Raum, in dem der „Geist des Gesprächs“ sich entfalten kann. Es ist ein unerzwingbares Ereignis, das von Seiten der Helfer mit behutsamen Entgegenkommen begünstigt werden kann.

4. Ein Gespräch ist Wechselseitigkeit

In einem Gespräch herrscht die Freiheit des Wortes. Es gibt darin keine Abhängigkeiten sondern es beruht auf Gegenseitigkeit. Keiner kann das letzte Wort haben. Im Gespräch ergeben sich nicht objektivierbare Befunde. Diese sind zwar ebenfalls wichtig und fordern auch Anerkennung, aber erst das bedeutsame Gespräch vervollständigt die Situation. Denn in ihm erfahren wir etwas vom Lebensweg und der Geschichte des Kranken, etwas von seiner Situation und von seinen Erwartungen. Dazu braucht es die Begegnung auf Augenhöhe. Auch der Mediziner kann von jedem Patienten noch etwas lernen, wenn er bereit ist, sich ansprechen zu lassen. Das Zustandekommen eines Gespräch ist wie das „gemeinsame Anstimmen eines Lieds“.

5. Ein Gespräch ist ein Erlebnis

In einem echten Gespräch werden nicht Fakten rekapituliert. Es ist eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt. Die Beteiligten nehmen etwas davon mit, bewahren etwas auf. Der Prozess der Teilhabe schafft persönliche Beteiligung und Bindung.

Was bedeutet ein Gespräch?

Wie sieht es nun mit der Bedeutung des Gesprächs aus? Auch dazu präsentiert uns Herr Maio fünf Punkte.

1. Das Gespräch hält die menschliche Vielschichtigkeit offen

Die objektiven Befunde eines Kranken betreffen nur eine Schicht. Der Mensch ist aber eine Person, die Ambivalenzen und Brüche kennt, widersprüchlich denkt und handelt und immer im Fluss ist. Tatsachen. Befunde und Diagnosen werden  einer Person niemals gerecht. Für eine Person bedarf es einer „Restauration der Besonderheit“.

2. Das Gespräch entfaltet eine verpflichtende Kraft

Im echten Gespräch nehmen sich die Sprechenden beim Wort. Gesagt ist gesagt und damit wird etwas versprochen. Die Personen stehen zu ihren Worten. Anders als im Klinikalltag, der die unpersönliche Ansprache kennt, übernehmen Gesprächsteilnehmer Verantwortung für das Gesagte. Dies kann Ängste lösen, und das Gefühl von getragen-sein begünstigen. Eine solche Begegnung ist kein Vertrag, denn sie ist persönlich und unvorhersehbar. Ein Gespräch kann nicht in einen Algorithmus verwandelt werden, denn es findet immer neu im Hier und Jetzt statt. So können zwei Patienten mit demselben Befund in völlig verschiedenen Situationen sein. Nur in der Gesprächssituation kann sich der Patient als Individuum gewürdigt finden.

3. Das Gespräch ist ein Gemeinschaftserleben

Es ist ein gemeinsames Produkt. In der „zwischenleiblichen“ Begegnung entsteht eine Gemeinsamkeit durch die Suche nach Verständigung, so dass Verständnis und Gemeinsamkeit miteinander entstehen. Füreinander und Miteinander erleben die Partner „Stimmigkeit“ und Resonanz. Dies kann zu Erneuerung führen.

4. Das Gespräch stiftet Eigengesetzlichkeit

Tatsachen werden im Gespräch verwandelt, sie erhalten eine neue Gestalt und werden aus anderen Perspektiven wahrgenommen. Vage Gefühle und Stimmungen verdichten sich darin. Durch die Auswahl aus allen Möglichkeiten, was gesagt werden könnte, entsteht etwas Neues, so wird es möglich, sich selbst anders zu betrachten.

5. Das Gespräch ermöglicht Transformation

Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis begünstigt Verwandlungen. Es fördert die Selbstachtung, lässt einen die eigene Wichtigkeit erleben. Wie auf einem Podest erfährt der Patient eine Aufwertung durch Zuwendung. So kann ein Gespräch erleichtern, entlasten und reinigen. Es kann versöhnen, indem es den Konflikt in der Sprache aufbewahrt. Ein solches Gespräch kann Übereinstimmungen erzeugen und Gegensätze versöhnen. Es kann dabei helfen, die Fremdheit des Krank-Seins zu überwinden und es kann eine „Brücke über den reißenden Strom der Andersheit“ bauen. Ein echtes Gespräch führt zu Zuversicht und Zutrauen.

Fazit

Zum Abschluss stellt Herr Maio noch die Frage, was das nun für die Medizin bedeutet.
Er beklagt die Bürokratisierung und den Effizienzwahn, der die Medizin befallen hat. Auch dass die notwendige Zeit für Gespräche als dysfunktional angesehen wird kann ihm nicht gefallen. Gespräche lassen sich nicht einplanen. Sie brauchen ihre Eigenzeit, die ihnen mehr und mehr verwehrt wird. Die zunehmende reine Zweckrationalität in der Medizin, macht Gespräche, bei allem technischen Fortschritt, eher schlechter. Gespräche sind nicht im eigentlichen Sinn Handlungen oder Aktionen. Solche verhindern eher, dass ein Gespräch geführt werden kann. Gespräche finden in einer ausgezeichneten Zeit des Nicht-Handelns statt. Die Betriebsamkeit ist außer Kraft gesetzt. Das Gespräch schwebt über dem Pragmatischen – es ist beruhigend, hält die Zeit an, bietet Sammlung, Ruhe und Muse. Das erfordert Geduld und Respekt, die Loslösung von der Ich-Perspektive und eine unaufdringliche Demut. Gespräche sind ein Wert an sich, der in der Medizin wieder aufgewertet werden müsste.

Die Psychosomatik entdeckt den Clown

Der Clown in Kultur und Psyche

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 10.01.19
„Sind wir alle Clowns?“ von Richard Weihe Prof. Dr. habil., Accademia Teatro Dimitri, Verscio/CH, mit Wilson Raúl Vargas Torres, Berlin/Tromsø

Schon in der Anmoderation taucht die Frage auf, was denn der Clown mit dem Thema der Vortragsreihe zu tun haben könnte. Bekannt ist natürlich, dass Humor heilsam wirkt – die Klinik Clowns legen davon Zeugnis ab – aber wir mussten warten, was uns Herr Weihe darüber sagen möchte.

Kulturgeschichte des Clowns

Der Vortrag beginnt mit einer kleinen Kulturgeschichte des Clowns. Vom Wortstamm her bedeutet „Clown“ so viel wie ein dümmlicher, bäurischer, ungeschickter Mensch, der keine Manieren kennt. Erst mit Shakespeare bekam der Clown eine Rolle. Auf der Bühne war er für Witze und Humor, Komik und Narretei zuständig. Damit wurde der Unterschied vom „natürlichen Clown“ zum „künstlichen Clown“ etabliert.
Erst um ca. 1800 tauchte der heutzutage bekannte Clown zum ersten Mal auf. Er entstand aus der Harlekin Figur der Commedia del Arte. Es dauerte noch einmal fast hundert Jahre bist der erste „Dumme August“ aus Versehen (man könnte sagen aus Schusseligkeit) erfunden wurde. Die letzte Neuerung stellt der „Grusel Clown“ dar – 1980 war der Clown „Pennywise“ im Film „Es“ zu sehen und zu fürchten.
Zu den klassischen Bezeichnungen „Weißer Clown“ mit Kegelhut und immer besserwisserisch, dem „Roten Clown“ mit roter Nase und großen Schuhen, benennt Herr Weihe nun auch noch den „Schwarzen Clown“, eben jene Horror Clowns, die nun in der Kultur herumgeistern.
Der Weiße Clown steht für das Rationale des Menschen, für das was man tun soll und was sich gehört. Der Rote Clown, so Herr Weihe, steht für die eher chaotische Triebseite und für den professionellen Umgang mit Scheitern.

Die Kunst des Clowns

Wie funktioniert die Clownerie? Wie schaffen es Clowns, ihren Auftrag – die Zuschauer zum Lachen zu bringen – zu erfüllen? Zunächst einmal geht es um „die kleinste Maske der Welt“ – die rote Nase. Sie schafft ein Spannungsverhältnis zwischen der Figur des Clowns und dem Menschen, der diese Rolle spielt. Jederzeit wissen die Zuschauer, dass sich hinter der Maske ein Mensch verbirgt. Diese doppelte Identität ist die Grundlage für die Gegensätze, die ein Clown auf die Bühne bringt.

Herr Weihe hat sieben verschiedene Clownsspiele identifiziert, die uns seine Ex-Schüler Wilson Torres demonstriert.
1. Körperspiel – der tollpatschige Clown, der stolpert und stürzt erfordert vom Menschen hinter der Maske akrobatisches Können.
2. Sprechspiel – der stammelnde, um Worte ringende Clown erfordert eine große Sprach- und Stimmbeherrschung des Spielers
3. Generationsspiel – das kindlich, alberne Gehabe des Clowns wird von einem erwachsenen Menschen dargeboten
4. Ausbruchsspiel – die ganze Palette dramatischer Gefühlsausbrüche wird willkürlich und technisch vom Spieler produziert
5. Invasionsspiel – das Überschreiten persönlicher Grenzen – Verwuscheln von Haaren etwa – wird von einem zivilisierten Spieler ausgeführt
6. Genderspiel – die Verwandlung des Geschlechts wird durch Kleidung und Gestik spielerisch dargestellt
7. Sittlichkeitsspiel – der Clown verstößt immer wieder gegen die Vorstellungen von Anstand und Sitte, obwohl er sie genau kennt und als Bürger auch einhält.

Viele Clowns erstreben die Verschmelzung von Rolle und Person, möchten den Clown und den Menschen dahinter verschmelzen. Der Schweizer Clown Dimitri hat es sogar geschafft, seinen Künstlernamen (der auch sein Vorname war) zu seinem Nachnamen ändern zu lassen.

Was hat der Clown mit mir zu tun?

Dann führt uns Herr Weihe eine Röntgenaufnahme vor, die einen Menschen mit kegelförmigem Hinterkopf (Weißer Clown), einer kugelrunden Nase (Roter Clown) und kräftigen Kieferknochen (Schwarzer Clown) zeigt. Der Clown ist kein Homo Sapiens sondern eher eine Homo Inscitus (unverständig). Aus dieser Sicht fragt der Vortragende noch einmal: „Sind wir alle Clowns?“ Und bejaht dies, unter der Voraussetzung, dass wir erkennen, dass wir es alle einmal waren. Und: „Nicht der Clown ist der Doofe, sondern der Mensch.“

Damit kommt Herr Weihe zum Schluss seines Vortrags. Er verwendet dazu die „kinetische Signatur“ des Clowns, das Stolpern. Menschen stolpern und sie stolpern unter anderem deshalb, weil sie in zwei Arten von Tempo unterwegs sind. Das Tempo des technischen Fortschritts, der Fortschritt der Menschheit (Weißer Clown), das für den Einzelnen oft zu schnell wird. Er hat die zu großen Schuhe des Roten Clowns an den Füßen und kommt nicht mit. Er stolpert und holt sich dabei die blutig, rote Nase.

Fazit

Zu den Schlussfolgerungen, was diese Einsichten mit „Körper – Seele – Geist“ zu tun haben schweigt sich Herr Weihe aus. Ich kann hier also nur meine eigenen Gedanken anbieten.
Der Clown ist ein Spiegel des Menschen, insofern er uns das zeigen kann, was wir an uns nicht mögen, unser Scheitern, unser Unverständnis und unsere Begrenztheit.
Der Clown bietet uns an dieser Stelle eine Versöhnung mit diesen ungeliebten Eigenschaften an. Die Möglichkeit, über uns selbst zu lachen (ein Merkmal übrigens, das für Victor Frankl den Menschen überhaupt erst ausmacht).
Der Clown ist eine „Landkarte“ des Inneren des Menschen. Die Über-Ich Figur des Weißen Clowns versucht mit Strenge die Es-Figur des schusseligen Roten Clowns zum richtigen Verhalten zu erziehen, und scheitert regelmäßig damit. Für mich eine Aufforderung, nicht allzu streng mit sich selbst zu sein, sich das Recht zu nehmen, Regeln selbst zu überprüfen und Spaß und Neugier nicht zu kurz kommen zu lassen. (Denn bei zu viel Frust bekommt womöglich der Schwarze Clown seinen Auftritt).
Der Clown weist uns auf die Widersprüchlichkeiten des Lebens hin, und dass diese Widersprüche sich auch immer wieder miteinander versöhnen, und ineinander übergehen können. Albernheit kann in Ernst umschlagen, Schnelligkeit in Langsamkeit, Grenzen sind variabel u.v.m. Widersprüche sind also keine Gegensätze, die sich ausschließen sondern zwei Pole, die einander ergänzen und erst gemeinsam ein stimmiges Bild ergeben.