Die Psychosomatik erkundet das Weinen

Weinen und Trauer

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Cord Benecke, Prof. Dr. phil. Dipl. Psych., Institut für Psychologie, Universität Kassel: „Über das Weinen“

Herr Benecke teilt uns mit, dass wir zunächst etwas über das Weinen an sich erfahren, dann über das Weinen in der Psychotherapie und zum Abschluss möchte er uns aktuelle Forschungen zum Thema vorstellen.

Das Weinen

Der Mensch ist das einzige bekannte Lebewesen, das emotionale Tränen weint. Kinder und Frauen weinen, so lautet der kulturelle Stereotyp, aber tatsächlich weinen auch mal harte Kerle oder sogar hohe Würdenträger. Erstaunlicherweise gibt es zu diesem Thema sehr wenig Forschung. Allenfalls bekannt ist, dass sich die chemische Zusammensetzung von emotionalen Tränen, von solchen unterscheidet, die z.B. beim Gähnen austreten.
Die bisherige Forschung unterscheidet die physiologische Funktion der Tränen, z.B. als Ausscheidungsfunktion, weiter wird nach der intrapsychischen Funktion geforscht und nach der interpersonellen, bzw. kommunikativen Funktion.

Intrapsychische Funktion des Weinens

Hier wird hauptsächliche die kathartische (reinigende) Kraft der Tränen betrachtet, denn  Weinen entlastet, wenn die Klient*innen „es endlich rauslassen können“. Eine direkte Besserung ist allerdings eher selten zu sehen, eher so etwas wie ein Umschalten in eine allmähliche Entspannung.
Dann gibt es ein Phänomen, das Herr Benecke „Löt-Funktion“ nennt. Es geht dabei darum, dass der Weinende auf diese Art mit dem Verlorenen in Kontakt treten kann. Auf diese Art erlebt er noch einmal Schmerz, Trauer, Angst oder Verzweiflung und ist in der Lage, den Schmerz im Erleben auszuhalten.

Kommunikative Funktion des Weinens

Der/die Weinende zeigt sich durch das Weinen schwach und hilfsbedürftig. Er/sie signalisiert ein Bedürfnis nach Hilfe und Weinen wirkt auch als eine Art Aggressionsbremse für den anderen.
Die typischen Reaktionen der anderen bestehen in tröstender und unterstützender Zuwendung. Diese Interaktion fördert und festigt dann auch Bindungen. Wenn aber Eindruck entsteht, dass der/die Weinende manipulieren möchte, löst das Aggressionen aus.

Weinen in der Psychotherapie

Nun beginnt der Vortragenden seine reichhaltige Studiensammlung zu präsentieren. Zunächst sehen wir Daten aus diagnostischen Interviews (OPD). Obwohl dies noch keine therapeutischen Stunden waren, haben darin doch ein Drittel der Befragten spontan geweint. Dabei ergaben sich keine Unterschiede in den Diagnosegruppen (Konflikte, Struktur) oder der Symptombelastung.

Spannend waren eher die Nicht-Weinenden, denn sie erleben sich tendenziell in Beziehungen verschlossener und weniger bezogen. Weiter erleben sie häufiger aggressive Gefühle wie Wut, Ekel oder Reizbarkeit. Sie zeigen auch insgesamt häufiger eine aggressive Gesichtsmimik, die ebenfalls diese Gefühle widerspiegeln oder ein häufiges Lächeln mit Kontrollelementen, also ein falsches Lächeln, das nicht ansteckt.
Diese Befunde interpretiert Herr Benecke so, dass Wut eine Art „Generalmedikament“ gegen Gefühle darstellt.

Eine weitere Studie kommt zu den Ergebnissen, dass Weinen negativ mit dem allgemeinen Funktionsniveau (Struktur) korreliert ist, aber positiv mit emotional-instabiler Symptomatik. Damit assoziiert ist die Erfahrung sexualisierter Gewalt in der Kindheit. Außerdem haben Patient*innen, die in der Stunde geweint haben, den Eindruck, dass die Sitzung schwierig war, dennoch sehen sie keine Auswirkungen auf die therapeutische Allianz.
Noch eine Studie hat ermittelt, dass die Bedeutung des Weinens ganz unterschiedlich gesehen wird:

  • eine bedeutsame, therapeutische Veränderung
  • als Moment echter Verletzlichkeit
  • Erkenntnis von etwas Neuem
  • ein Ausdruck, der mit Worten nicht zu bewerkstelligen ist
  • bessere Verständigung mit dem Therapeuten
  • hoffnungsvoller Hinweis für den Erfolg der Therapie
  • Hinweis darauf, dass die therapeutische Beziehung stärker geworden ist

Weinende Therapeut*innen in der Therapie

Wie erleben Patient*innen weinende Therapeut*innen?

Die meisten Befragten bewerten eine solche Erfahrung positiv. Allerdings kann es vorkommen, dass ein Grund dafür vermutet wird, der eher Ärger auslöst. Deshalb ist es wichtig, dass der/die Therapeut*in sein/ihr Weinen auch thematisiert.

Unterschiedliche Formen des Weinens

Verschiedene Forscher*innen haben sich mit unterschiedlichen Ansätzen daran versucht, eine Typologie des Weinens zu erstellen. So gibt es einen Ansatz, das Weinen anhand des Bindungstyps einordnet, der sich als nicht sonderlich hilfreich erwiesen hat.
Eine andere Herangehensweise wurde durch die Beobachtung des Verhaltens von unheilbar krebskranken Menschen erprobt. Dort wurde wütend intensives Weinen, ruhiges gefasstes Weinen und innerliches Weinen gefunden. Diese Befunde erinnern an die Trauerphasen, wie sie von Verena Kast beschrieben worden sind.
Nun stellt uns Herr Benecke seine eigenen Forschungen vor. Wir bekommen ein Diagramm zu sehen, auf dem die Formen des Weinens eingezeichnet sind. Es sind: Protest, Überforderung, Trauer und positives Berührt-sein. Gerade der letzte Anlass entschwindet häufig der Aufmerksamkeit.

Jede Form kann nun noch einen bestimmten Modus annehmen, nämlich: Überflutend oder unterdrückend, dazwischen wäre so etwas wie ein neutraler Modus.

Für jede Form des Weinens bekommen wir nun Tabellen präsentiert, die die Merkmale und Interaktiven Funktionen auflisten.

Protestweinen

Merkmale:

  • Klient*innen wirken leidend, klagend, trotzig
  • sie fühlen sich unangemessen behandelt und emotional verletzt
  • häufig spielt Wut eine Rolle; ebenso häufig geht es um Schuld und Verantwortung
  • die Gegebenheiten werden nicht akzeptiert und sogar bekämpft

Interaktive Funktion:

  • ist stark ausgeprägt
  • sie hat einen adressierenden, nach außen gerichteten Charakter
  • die Person wirkt fordernd
  • sie erweckt den Eindruck, sich vom Gegenüber Bestätigung, Mitleid oder Verständnis zu erhoffen

Überforderungsweinen

Merkmale:

  • Klient*innen wirken unsicher, verzweifelt, hilflos, ängstlich
  • es geht häufig um Beziehungsthemen, die mit Angst oder Verzweiflung einhergehen
  • es geht um Themen, die eine generelle Überforderung, Kontrollverlust oder Unzufriedenheit mit den Lebensumständen zu tun haben
  • mitunter realisiert die Person etwas

Interaktive Funktion:

  • diese wird als schwächer eingeschätzt
  • die Klient*innen wirken rat- bzw. hilflos
  • die nahegelegte Reaktion besteht aus kümmern, helfen oder Ratschläge geben

Trauerweinen

Merkmale:

  • meist Verlusterfahrung – eine Person, eigene Fähigkeiten, vergangene Zeiten
  • Klient*innen wirken emotional berührt, sind dabei aber ruhig und gefasst
  • es herrscht weitgehende Akzeptanz der Gegebenheit, kein Ankämpfen mehr

Interaktive Funktion:

  • dieses Verhalten ist kaum nach außen gerichtet
  • die Person wirkt, als sei sie bei sich

Positives Weinen

Merkmale:

  • Lächeln bei leichtem Tränenfluss
  • Bericht über positive Tatsachen
  • Dankbarkeit; häufig wurde lang erhofftes wahr
  • positive Gegenwart bei vergangenen Mangelsituationen

Interaktive Funktion:

  • auch hier ist der Ausdruck kaum nach außen gerichtet
  • die Person ist bei sich

Modi des Weinens

Überflutendes Weinen kann dramatisch wirken, die Person wird von ihren Emotionen überwältigt und kann sie nicht beherrschen.

Beim unterdrückten Weinen wird evtl. gar nicht geweint, aber der Kampf mit den Tränen ist deutlich wahrnehmbar.

Dazwischen gibt es Mischformen, für die es keinen besseren Begriff als „neutral“ gibt.

Therapeut*innenverhalten beim Weinen von Klient*innen

Wir erfahren nun weitere Studienergebnisse. Zunächst aus Anamnesesitzungen, bzw. der letzten Anamnesestunde. Hier wurde beobachtet, welche Interventionen vor dem Wein-Ereignis stattgefunden haben. Es waren:

  • die Aufforderung einen schwierigen Affekt zu erforschen
  • eine neue Perspektive auf ein wichtiges Thema zu entwickeln
  • eigene Wünsche oder Fantasien zu entwickeln

Herr Benecke forscht ganz aktuell auch zu diesem Thema. Er nutzt dazu Videoaufzeichnungen von Therapiestunden. Die Fragestellungen dabei sind:

  • Inwiefern wurde das Weinen durch eine Intervention ausgelöst?
  • Wie verhält sich der Therapeut während des Weinens?

Zu dieser Frage wurden drei Hauptkategorien gewählt:

Thematisierung, Zurückhaltung und Neutralisierung
Das Ergebnis sehen wir auf einer dichtbeschriebenen Tabelle. In der ersten Spalte finden wir die Interventionsstärke. Sie umfasst die Kategorien von keine Intervention zu milder bis mäßiger hin zu starken Interventionen.

  • Im ersten Fall ist das Weinen mit dem Thema selbst assoziiert, möglicherweise eine einfache Sachfrage
  • Paraphrasierungen werden als milde Intervention angesehen
  • Aufdeckende und spekulative Fragen sind als mäßig bestimmt
  • Konfrontation oder die Aufforderung, etwas Belastendes auszusprechen wären starke Interventionen

Thematisierung

Der/die Therapeut*in hat verschiedene Möglichkeiten, das Weinen zu thematisieren:

  • Ganz gegenwärtig die Emotionen wahrnehmen, spiegeln und akzeptieren
  • Die Emotion wird grundsätzlicher thematisieren und explorieren, das wäre ein verstehender Zugang
  • Die Emotion wird therapeutisch thematisieren, also die Verbindungen vom Hier und Heute zum Dort und Damals aufzeigen. Hier können auch Deutungen oder Konfrontationen eine Rolle spielen

Zurückhaltung

Dabei geht es darum, dass Pausen auch intentional eingesetzt werden können. Pausen geben den Klient*innen Raum, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Zurückhaltung kann auch die Form annehmen, den Klienten sprechen zu lassen und auch die Sprechpausen nicht mit einer Erwiderung zu unterbrechen.

Neutralisierung

Diese Form der Reaktion hat wiederum drei Unteraspekte. Den ersten nennt Herr Benecke die therapeutische Neutralisierung. Eine solche zeigt Verbindungen in der Therapie auf und wirkt tröstend und/oder ermutigend. Sie kann mögliche Lösungen aufzeigen und Spannungen abbauen.

Die zweite Form heißt „Ergründung auf der Sachebene“, denn das auslösende Thema wird auf der Sachebene erkundet. Hier begegenen wir wieder dem verstehenden Zugang, der klärt und konkretisiert.

Die dritte Form wäre schließlich der Themenwechsel oder der Abbruch, dabei wird das Weinen übergangen, z. B. indem ein neuer Aspekt angesprochen oder sogar die Stunde beendet wird.

Ergebnisse der Regressionsanalyse

Nach gründlicher Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse ergibt sich folgendes Bild:

  • Weinen aus Überforderung wird aktiv durch eine therapeutische Intervention ausgelöst,  das Weinen aus Trauer eher nicht
  • Weinen aus Überforderung führt häufiger zu Therapeutischer Neutralisierung, Weinen aus Protest seltener
  • Das Weinen aus Trauer veranlasst die Therapeut*innen weniger zu einem Themenwechsel/Abbruch
  • Intensivere Auslösung geht mit höherer Therapeutischer Thematisierung einher und mit niedriger Ergründung auf Sachebene
  • Bei intensiverem Auslöser entstehen eher Pausen. Außerdem führt ein intensiverer Auslöser zu mehr Themenwechsel/Abbruch
  • Überflutendes Weinen entsteht meist ohne therapeutische Intervention
  • Bei Überflutendem Weinen ist die Reaktion „Thematisiert Emotionen“ oder deren „Ausdruck im Hier und Jetzt“, sowie „Ergründung auf Emotionsebene“ stärker, aber die Reaktion „Therapeutische Thematisierung“ geringer zu beobachten.

Einfluss der Therapieschule?

Zuguterletzt untersuchte Herr Benecke auch noch die Frage, ob die Therapieschule einen Einfluss auf die Reaktion der Therapeut*innen hat. Er macht das mit Hilfe der vier Kategorien des Weinens und jeweils drei Kategorien für die initiale Reaktion und die Verlaufsreaktion deutlich.

Vor dem Weinen

Die Kategorien vor dem Weinen heißen: Neutral, wenn Fragen auf der Sachebene gestellt werden oder gar keine Aktion vom Therapeuten kommt. Sie heißt Paraphrasierung, wenn das Gehörte konkretisiert oder verbildlicht wird. Die Interpretation deckt mögliche Gefühle, Gedanken oder Konsequenzen auf und die Konfrontation weist auf Widersprüche hin, auf Verdrängtes, gibt Deutungen oder bietet Imaginationen oder Rollenspiele an.

Das Ergebnis besagt, dass in der Hälfte der Fälle das Weinen ohne Intervention zustande kam. Interpretation regten 25 % der Klient*innen an, Konfrontationen weitere 20 %  und Paraphrasierung 5 % durch. Dabei haben alle Therapeut*innen auch jedes Verhalten an den Tag gelegt.

Während des Weinens

Während des Weinens zeigen sich Therapeut*innen zurückhaltend (s.o.), thematisierend oder neutralisierend.
Im Ergebnis zeigte sich das 51 % am Beginn thematisiert haben, 39 % zurückhaltend waren und 10 % neutralisiert haben.

Für die Reaktionen im Verlauf des Weinens ergaben sich 53 % Thematisierung, 22 % Zurückhaltung und 25 % Neutralisierung.

Bezogen auf die Therapieschulen ergab sich, dass Verhaltenstherapeut*innen häufiger neutralisieren als psychodynamische Kolleg*innen, die die Thematisierung offenbar bevorzugen. Das betrifft sowohl die Initialreaktion als auch die Verlaufsreaktion.

Einfluss der Diagnose?

Ein überraschendes Ergebnis der Forschungen war, dass die Diagnose einen Einfluss auf die therapeutische Reaktion hat. Sowohl in der Initial- als auch in der Verlaufsreaktion wurde bei Angstpatient*innen wesentlich häufiger thematisiert als bei depressiven Patient*innen. Bei diesen ist die Neutralisierung offenbar die bevorzugte Variante.

Fazit

Als Fazit wählt Herr Benecke ein Zitat aus der „Wein-Forschung“.
Leider gibt es zu wenig empirische Erkenntnisse zum Thema.
Dann gibt es kaum Anleitungen, wie Therapeut*innen am besten auf das Weinen reagieren können.
Aber es ist ermutigend, dass dieses Thema mit wachsendem Interesse erforscht wird

und hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Placebos

Placebo und Wirkung

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Jens Gaab, Prof. Dr. phil., Fakultät für Psychologie, Universität Basel: „Placebo und Psychotherapie: Oxymoron oder Antithese?“

Herr Gaab stellt sich uns zunächst als humanistischen Psychotherapeuten vor. Er problematisiert als nächstes die Frage, was ein Placebo sei und wählt dafür das Beispiel einer Forschung an „Selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmern“ vs. Placebos. Es hat sich ergeben, dass die Unterschiede in den Wirkstärken sehr gering sind – Placebos erreichen immerhin 92% bzw. 87% der Wirkungen des Medikaments. Nun kann man natürlich fragen: Soll man nicht lieber das Placebo geben, wenn das Medikament auch Nebenwirkungen hat? Oder: Soll man das Medikament noch verwenden, auch wenn es kaum besser als ein Placebo ist? Bereits hier tauchen ethische Fragen im Umgang mit dem Placebo Effekt auf.
Dieser Effekt ist in der Medizin gut bekannt. Eine Untersuchung aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts hat ergeben, dass zahlreiche praktische Ärzte eine Vielzahl von Placebos in ihrer Praxis verwenden. Zum selben Ergebnis kommt auch eine aktuellere Studie – auch zeitgenössische Ärzt*innen verwenden Zuckerpillen, Salzwasserinjektionen, Verbände und Umschläge, positive Suggestionen u.v.m. in ihrem Berufsalltag.
Natürlich wurde weiter an Placebo Wirkungen geforscht. Frühere Forschungen zeigten erhebliche Wirkstärken, die sich in späteren Studien als geringer erwiesen haben.
Fragt man Patient*innen oder Ärzt*innen danach, ob ein Medikament ein Placebo war oder nicht, ist die Einschätzung tendenziell richtig.

1. Placebo ist eine psychologische Intervention

Herr Gaab zeigt uns nun, was alles als Placebo verwendet werden kann. Diese Lise ist lang und zeigt so unterschiedliche Dinge wie: Sport, Wein, Sauerstoff, Creme, Hypnose … Ähnlich lang ist die Liste der Indikationen für ein Placebo: Liebeskummer, Ängste, Schlafstörungen, Depressionen … Es erscheint rätselhaft – das Placebo ist leer, aber es hat einen Effekt.
Wir bekommen nun ein Modell zu sehen, das beschreibt, dass ein Patient mit einem Anliegen kommt. Das Anliegen hat einige charakteristische Merkmale und einige zufällige Merkmale. Der Patient wird behandelt und aus der erfolgreichen Behandlung wird eine Behandlungstheorie abgeleitet, die verschiedene Aspekte als relevant betrachtet. Das wären dann: Die Erwartung des Patienten, die Bedeutung von Krankheit/Therapie, die therapeutische Beziehung, die Personen Therapeut*in, Patient*in und evtl. „Placebo by proxy“ – dabei wird nicht der Patient, sondern eine ihm nahestehende Person mit einem Placebo behandelt.
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich die Hypothese ableiten, dass nicht die Placebos für Effekt sorgen, sondern die Bedeutungen, die sie für das Gespann von Therapeut/Patient haben. So zeigen z.B. Ärzt*innen, die nicht wissen, dass sie ein Placebo anwenden, typische Anzeichen für eine Wirkung des Placebos. Placebos scheinen eine soziale Intervention zu sein.

2. Psychotherapie ist eine psychologische Intervention

Psychotherapieschulen gibt es wie Sand am Meer und ebenso unübersichtlich ist die Anzahl von spezifischen Interventionen. Ausgehend vom Urahn der modernen Psychotherapie – Sigmund Freud – lässt sich ein Stammbaum dieser Schulbegründer ableiten. Aber es gibt noch einen Ur-Urahn namens Franz Anton Mesmer. Dieser Arzt des 18ten Jahrhunderts entwickelte eine Theorie und Praxis des „Animalischen Magnetismus“ mit dem er in ganz Europa Furore machte. Seine Behandlungen führten häufig zu kathartischen Ausbrüchen seiner Patient*innen, so dass eine Untersuchungskommission seine Methode überprüfte und verwarf.
Aber damit war die Geschichte nicht vorbei. Mesmer fand Nachfolger und einer dieser Nachfolger war Charcot, bei dem dann auch Sigmund Freud studierte. Zu diesem Zeitpunkt war dann bereits die Rede von „veränderten Bewusstseinszuständen“.
Betrachtet man die Reihe der Indikationen für Psychotherapie findet man keinen Unterschied zu Liste der Indikationen für Placebo. Die Forschung zu den Wirkfaktoren für Psychotherapie ergibt folgendes Bild. Gute Effektstärken zeigen in absteigender Reihenfolge: Gemeinsame Ziele, Empathie, Beziehung, Wertschätzung, Kongruenz, Therapeut*in, Patient*in und Erwartung. Geringe bis unwirksame Effektstärken zeigen sich für: Therapeutischen Ansatz, Kompetenz des T., Methoden und Adhärenz (wie sich Patienten an die Anweisungen des Therapeuten halten).
Zusammenfassend wäre hier das Ergebnis: Das Psychotherapie Bedeutungen verändert. Eine Einsicht, die bereits in den 60er Jahren erstmals formuliert wurde.

3. Placebo und Psychotherapie sind psychologische Interventionen

Wir bekommen zahlreiche Studien und Metastudien vorgestellt, die sich mit der Frage befassen, ob Psychotherapie „nur“ ein Placebo ist oder nicht. Keine der Studien kommt zu einem starken eindeutigen Ergebnis. Aber es gibt noch eine andere Studie, die beschreibt, wie die Erwartungen und Wünsche der Metastudien Forscher, die Ergebnisse der Studien einfärben. Dies führt den Vortragenden zu dem Schluss, dass wenn man die Wirksamkeit von PT erforschen möchte, der Placebo Effekt dabei nicht kontrolliert werden sollte.

4. Ist Psychotherapie ein Placebo?

Zu dieser Frage sehen wir zunächst ein kleines Filmchen über EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) – die Trauma therapeutische Methode der Stunde. Dass diese Methode wirkt ist unbestritten, aber wie wirkt sie? Dazu gibt es eine Menge Hypothesen aber keine abschließende Erklärung. Ein Autor hat EMDR mit dem Mesmerismus verglichen und die verblüffenden Ähnlichkeiten aufgezeigt – und nach allem, was man weiß, hatte auch Mesmer gute therapeutische Erfolge. Die Differenzierung erscheint schwierig. Also haben Herr Gaab und seine Mitarbeiter*innen eigenen Forschungen angestellt.
Mithilfe eines Bildschirms und der Aufgabe, dem langweiligen Geschehen auf dem Bildschirm zu folgen, hat das Team es geschafft, gesunden Proband*innen zu tieferer Entspannung zu verhelfen. Das Ergebnis war sogar nachhaltig, wie ein Follow-Up gezeigt. Bevor die Proband*innen auf den Bildschirm blickten bekamen sie einige absurde Informationen mitgeteilt, die sie auf das zu Sehende vorbereitet haben. Ergebnis: Blödsinn wirkt, wenn man es als PT deklariert.
Placebos werden in der Regel verdeckt gegeben. Sie sind eine Art von Betrug oder Lüge und damit natürlich anrüchig. So möchte die PT nicht handeln. Andererseits sind Placebos enorm wirkungsvoll, wäre es also nicht möglich, mit Placebos offen umzugehen? Man könnte die Patient*innen über die Wirkfaktoren aufklären – transparent sein, zugeben, dass man nicht genau weiß, wie etwas funktioniert und sich dafür ein Einverständnis abholen.

5. Go open! Placebos zeigen uns den Weg

Tatsächlich wird auch diese Spielart bereits erforscht. Das Ergebnis sieht bisher so aus, dass auch offen vergebene Placebos gut Effektstärken aufweisen, sogar bei solch unangenehmen Symptomen wie Schmerzen. Diese Wirkung hält sogar lange an.
Genau genommen sind offene Placebos gar keine Placebos mehr, denn sie werden eben als das was sie sind verschrieben. Damit fallen dann auch ethische Hürden, die der Verwendung von Placebos in der Psychotherapie im Wege stehen würden.

6. Open-Label Placebo ist Psychotherapie

Es gibt bereits eine „Placebo Therapie“. Sie wurde von Jefferson M. Fish entwickelt und machte in den 80er Jahre viel Wirbel in der PT Szene. Die Therapie umfasst genau vier Sitzungen, in denen zunächst die Glaubenssysteme und die Krankheitstheorie der Patient*innen erfragt wird. Dann wird das Placebo in Form eines mythischen Satzes oder einer ebensolchen Handlungsanweisung gegeben und in einem Heilungsritual ausgeführt. Danach wird nur noch am Heilungsritual gearbeitet indem es wiederholt wird, in unterschiedlichen Situationen genutzt und weiter aufrechterhalten.
Herr Gaab hat vier, völlig unerfahrene Student*innen ausgewählt und sie dieses Verfahren ausprobieren lassen. Die Probleme, die zu behandeln waren, waren durchaus ernsthafter Natur und die Ergebnisse sehr positiv.
Tatsächlich lässt sich dieses Prinzip sogar noch weiter ausnutzen. Z.B. mit der Anweisung: „Stell Dir vor, es wird wirken!“ Eine Methode, wie sie ähnlich in der Lösungsfokussierten Therapie verwendet wird.
Mit der Akzeptanz der offenen Placebos könnte die Psychotherapie weiter voranschreiten. Ein weites Feld von möglichen Forschungen würde sich auftun und hilfreiche Erkenntnisse könnten auf uns warten.
Hier geht es zum Vortrag