Die Psychosomatik erkundet Einsamkeit

Allein oder einsam - jedenfalls nur ein Mensch

Bericht vom 08.11.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Dirk Scheele vom Lehrstuhl für Social Neuroscience an der Fakultät für Psychologie von der Ruhr-Universität Bochum: „Soziale Isolation und Einsamkeit: Neurobiologische Mechanismen, gesundheitliche Folgen und Bewältigung“

Herr Scheele präsentiert uns zunächst die Struktur seines Vortrags. Die vier Punkte lauten:

  • Der Mensch als soziales Wesen
  • Definition und Verständnis von Einsamkeit
  • Konsequenzen und Mechanismen von Einsamkeit
  • Bewältigung und Interventionen

Der Mensch als soziales Wesen

Viele Menschen kennen das Phänomen, wenn sie in Gegenständen wie Bäumen oder Wolken, aber auch in Bauwerken menschliche Gesichter erblicken (Pareidolie). Das liegt unter anderem daran, dass unsere Wahrnehmung besonders auf menschliche Gesichter eingerichtet ist. Etwas weniger bekannt ist die Neigung, in allen möglichen Interaktionen z.B. Interaktionen von abstrakten Figuren wie Dreiecke, Kreise etc. als menschliche Interaktionen zu deuten (Anthropomorphisierung). Diese beiden Wahrnehmungsverzerrungen kommen bei einsamen Menschen häufiger vor.

Nun gehen wir der Frage nach, was denn so wertvoll am sozialen Kontakt ist. Der Vortragende nennt hier den Umstand, dass sozialer Kontakt Stress reduziert (reduzieren kann). Als Beispiel bekommen wir den Trierer Stresstest. Ein Setting, in dem ein Jury einem Vortrag zuhört, aber der/die Getestete muss noch zusätzlich Rechenaufgaben im Kopf lösen – an sich schon nicht einfach, bekommt man zusätzlich eine Rückmeldung bei Fehlern und muss von vorne anfangen. Soziale Unterstützung im Vorfeld oder auch bei dieser Prüfung reduziert die Stresshormone (Cortisol) erheblich. Diese Wirkung ist auch dem Hormon Oxytocin zu verdanken, das insbesondere bei Berührungen ausgeschüttet wird.

Herr Scheele führt die berühmten Harlow’schen Versuche mit Affen an, um ein angeborenes Bedürfnis nach Berührung zu postulieren. Zur Erinnerung: Kleine Äffchen werden von ihren Müttern getrennt und bekommen zwei Ersatzmütter – eine aus Draht und eine, die ein Frotteetuch bietet. Dann können beide Mütter noch mit einer Flasche ausgestattet werden. Harlows Messung war nun, wie lange die Äffchen bei den Ersatzmüttern blieben – mit oder ohne Nahrung. Das Ergebnis war eindeutig nicht von der Nahrung abhängig, die Äffchen mochten die Frottemutter eindeutig lieber und länger.

Berührung vermittelt also soziale Unterstützung und dies kann auch mit moderneren Methoden bewiesen werden. Ein Proband in der „Röhre“ bekommt leichte Stromschläge, entweder alleine oder mit einer fremden Person, die die Hand hält oder einer vertrauten Person, die die Hand hält. Die Befragung ergibt, dass der Schmerz mit einer vertrauten Berührung weniger unangenehm wahrgenommen wird. Das ließ sich dann auch durch die Messung des Oxytocins objektivieren.

Definition und Verständnis von Einsamkeit

Einsamkeit könnte man als Diskrepanz zwischen gewünschter und erlebter sozialer Verbundenheit. Dabei ist zu beachten, dass Einsamkeit subjektiv erlebt wird und nicht von außen beobachtet werden kann. Eine weitere Differenzierung besteht zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Also gibt es einen Menschen, mit dem ich mich emotional austauschen kann und/oder über welche sozialen Netzwerke verfüge ich.

Ein objektives Maß wäre die soziale Isolation. Hier wird ausgezählt, wieviel Beziehungen, Interaktionen und soziale Rollen zur Verfügung stehen. Einsamkeit und soziale Isolation haben miteinander zu tun, unterscheiden sich aber erheblich. Ich kann sozial isoliert leben und mich nicht einsam dabei fühlen. Ich kann Familie haben, berufstätig sein und mich dennoch einsam fühlen.

Die Sprache stellt uns folgende Möglichkeiten zur Verfügung: Alleine sein, was meist positiv gemeint ist. Ruhe haben, um sich ungestört etwas widmen zu können. Das liegt schon recht nah beim selbstgewählten Alleinsein (Solitude), das ebenfalls positiv gefärbt ist. Eindeutig negativ gefärbt ist allerdings Verlassenheit.

Prävalenz von Einsamkeit

Einsamkeit ist keine Krankheit, aber man kann sie ähnlich wie Krankheiten statistisch erfassen. Eine Studie von 2018 zeigt, dass in den USA und GB jeweils ein knappes Viertel der Befragten angab, dass Einsamkeit ein Problem sei. In Japan sagten das nur neun Prozent. Aber in allen drei Regionen gaben vier bis fünf Prozent an, dass Einsamkeit ein großes Problem sei.

Mögliche Gründe für Einsamkeit

Hier ergaben große Befragung als Hauptgrund den Verlust eines geliebten Menschen an. An zweiter Stelle standen dann körperliche Probleme. Psychische Erkrankungen oder Scheidungen und Umzüge standen auf den hinteren Rängen.

Einsamkeit über die Lebensspanne

Wie lange dauern eigentlich Episoden von Einsamkeit? Auch diese Frage wurde erforscht und das etwas überraschende Ergebnis lautet, dass Einsamkeit ganz ähnlich wie Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Offenheit, Gewissenhaftigkeit) sehr zeitstabil sind. Denn können Wandlungen beobachtet werden. Relativ häufig fühlen sich Menschen in der späten Adoleszenz und im höheren Lebensalter einsam. Aber das Gefühl kann in jedem Lebensalter auftreten. Einen gewissen Schutz vor Einsamkeit bieten eine feste Arbeit und eine ebensolche Beziehung

Einsamkeit in der Pandemie

Eine Auszählung der Google-Suchen zu Langeweile, Einsamkeit und Traurigkeit vor und nach einem Lockdown ergab, dass nur die Langeweile signifikant zunahm. Die Maßnahme hat nicht zu einer Welle von Einsamkeit geführt.

Soziale Medien und Einsamkeit

Auch über diesen Zusammenhang kann man viel in den sozialen Medien finden. Tatsächlich gibt es einen gewissen Effekt. Wer nämlich negative Erfahrungen im Netz macht, fühlt sich danach merklich einsamer – ein Effekt, der nicht bei positiven Erfahrungen auftritt, also nicht zu weniger Einsamkeit.

Konsequenzen und Mechanismen von Einsamkeit

In einer der größten und an der längsten dauernden Studie kam heraus, dass mangelhafte soziale Integration und soziale Unterstützung ein ebenso hohes Sterblichkeitsrisiko erzeugen wie z.B. Rauchen. Ein gutes soziales Netzwerk und Beziehungen vermindern die Sterblichkeit um 50%.

Psychische Gesundheit und Einsamkeit

Diese beiden Aspekte sind ebenfalls hoch korreliert. Chronische Einsamkeit macht sowohl für Depressionen als auch für Angststörungen anfällig. Depression und Angsterkrankungen stellen ebenfalls einen Risikofaktor für Einsamkeitsgefühle dar.

Einsamkeit und Gedächtnis

Auch hier gibt es starke Befunde, die belegen, dass chronische Einsamkeit sowohl das Gedächtnis, als auch die exekutiven kognitiven Fähigkeiten vermindern. Tatsächlich führt chronische Einsamkeit zu einer Verminderung der Gehirnsubstanz.

Einsamkeit als Risiko für die Gesellschaft

Hier präsentiert uns der Vortragende zwei Zitate von Hannah Arendt: „Der Totalitarismus nutzt die Isolation, um den Menschen die menschliche Gesellschaft zu entziehen.“ Und: „In diesem Prozess wendet sich jeder Einzelne in seiner einsamen Isolation gegen alle anderen und gegen sich selbst. Er wird anfällig für die organisierte Einsamkeit.“

Mechanismen von Einsamkeit

Es scheint Korrelationen zwischen der Größe der Amygdala (Mandelkern) und der Größe des sozialen Netzwerks zu geben. Allerdings sind diese Befunde schwierig einzuordnen. Es gibt wohl mehrere Faktoren, die zur Einsamkeit beitragen. Einige davon wären eine verzerrte sensorische Wahrnehmung, verzerrte Kognitionen, beeinträchtige Interaktionen und Hyperaktivität auf Bedrohungsreize. All das lässt sich jedenfalls bei wahrgenommener sozialer Isolation feststellen.

Nun erfahren wir noch, was die Neurobiologie dazu herausgefunden hat. In einem sehr aufwändigen Setting werden hoch einsame und nicht einsame Menschen verglichen. Sie spielen ein Vertrauensspiel im fMRT, so dass ihre neuronale Aktivität erfasst werden kann. Im Vertrauensspiel kann man Geld verschenken und darauf hoffen, dass der Beschenkte etwas von dem Geld der Schenkerin zurückgibt, aber wissen kann man es nicht. Dann erfolgt ein positives Gespräch (standardisiert). Darin werden weitere Parameter gemessen z.B. den Abstand den die Probanden einnehmen, der Puls, der Speichel, die Stimmung … Dann wird noch der Gesprächspartner (ein Versuchsleiter) befragt, für wie vertrauenswürdig er seine Probandin eingeschätzt hat.

Das Ergebnis ist, dass hoch einsame Menschen weniger Vertrauen aufbringen und verminderte Reaktionen im positiven Gespräch zeigen. Die Einschätzungen der Versuchleiter*innen zur Vertrauenswürdigkeit waren überdurchschnittlich häufig zutreffend – hoch einsame Menschen wirken wenig vertrauenserweckend.

Ein neurologischer Befund dazu ist, dass die anteriore Insula – eine Region, die mit Vertrauen assoziiert ist, wenig aktiv ist und in sich weniger Verbindungen aufweist. Das könnte dazu führen, dass die Bauchgefühle, die uns sagen, wie wir einen Menschen finden, nicht mehr weiterverarbeitet werden. Aber hier ist noch viel Forschungsarbeit nötig.

Bewältigung und Intervention

Es gibt vier Hauptrichtungen, mit denen versucht wird der Einsamkeit und der sozialen Isolation entgegenzuwirken. Es sind: Die Verbesserung der Möglichkeiten für soziale Kontakte. Die Verbesserung der sozialen Fähigkeiten. Die Verstärkung der sozialen Unterstützung. Die Auseinandersetzung mit maladaptiver sozialer Kognition. Soweit genügend Studien vorhanden sind, lauten die Ergebnisse, dass die Verbesserung der Möglichkeiten für soziale Kontakte am besten gegen soziale Isolation hilft. Also Veranstaltungen, Treffen, Gelegenheiten sich mit anderen zu treffen.

Gegen Einsamkeit hat sich die Auseinandersetzung mit den maladaptiven sozialen Kognitionen als am hilfreichsten herausgestellt. Diese kann dann durchaus auch die Form einer Psychotherapie annehmen.

Auch auf der politischen Ebene ist man inzwischen für das Thema sensibilisiert – insbesondere die Einsamkeit von Senioren soll vermindert werden. Dazu wurde und wird Geld bereitgestellt, das jetzt nur noch sinnvoll investiert werden muss.

Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Mitgefühl und Meditation

Bericht vom 31.05.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Dr. Corina Aguilar-Raab: „Achtsamkeits-, Mitgefühls- und Mediationsbasierte Interventionen in der Psychotherapie“

Frau Aguilar-Raab forscht an und arbeitet mit den Themen, die sie uns in ihrem Vortrag vorstellen möchte. Zur Einführung bietet sie eine geführte Meditation an.

Auf der Basis dieser Erfahrung möchte sie uns darauf hinweisen, dass die innere Haltung mitentscheidet, wie ich eine Situation bewerte. Insgesamt sei das Feld der Meditationsbasierten Interventionen viel zu groß, um es in der Kürze der Zeit zu erläutern. Sie möchte uns vermitteln, was sich hinter Achtsamkeitsbasierten Interventionen verbirgt und auch etwas zur Wirksamkeit dieser Methoden.

Überblick:

Allgemeine Einführung: Meditationsbasierte Interventionen im klinischen Bereich

Achtsamkeitsbasierte Interventionen

Mitgefühlsbasierte Interventionen

Zusammenfassung, Perspektiven und Diskussion

Allgemeine Einführung

Wir sehen zunächst eine Folie mit der Überschrift: Kontemplative Praktiken im klinischen Kontext. Darunter finden sich die zu hinterfragenden Themen:

Entspannung vs. Kultivierung von sozio-emotionalen (ethischen) Aspekte als übende Verfahren

Körpereinbezug

Säkularität – Zielhorizont

Methode – Zustand

Transdiagnostik

Schulen-übergreifend

Beziehung

Patient*innen

Therapeut*innen

Patient*innen und Therapeut*innen

Psychotherapie: Outcome Prozess

Es geht im klinischen Setting nicht um Wohlbefinden und/oder Entspannung, obwohl sich beide Befindlichkeiten häufig einstellen. Es geht auch nicht darum, irgendwelche spirituellen oder religiösen Ideen anzuhängen, sondern eher darum, innere Qualitäten zu pflegen, seine Persönlichkeitseigenschaften kennenzulernen und evtl. zu überarbeiten. Tatsächlich spielen dabei Werte, also ethische Fragen, eine wichtige Rolle – also ob es mir möglich ist, in Übereinstimmung mit meinen Werten zu leben. Gerade in einer Klinik können die großen Lebensfragen auftauchen, also: Wieso passiert mir das? Warum geht es mir so und anderen nicht? …

Sie erwähnt ihre systemische Perspektive, aus der heraus sie immer nach dem Kontext einer Erfahrung fragt. Es braucht einen Horizont und einen Rahmen für das, was ich tue und für das Ziel, an das ich gelangen will.

Meditation und Psychotherapie

Meditation und Achtsamkeit in der Psychotherapie wirft viele Fragen auf. Was wird da gemacht? Ist es im Prozessverlauf? Welche Methoden kommen zum Einsatz? Auf welchen Zustand möchte ich evtl. hinaus? Was ist nachhaltig? …

Es wurden bereits zahlreiche klinische Studien zur Wirkung von Achtsamkeit an vielen Menschen mit allen möglichen Diagnosen erforscht. Aber eine Grundfrage nämlich: Was wirkt eigentlich für wen, wann, wie genau? Also die Grundfrage von Passung oder Individualisierung ist noch weitgehend unbeantwortet. An dieser Stelle plädiert sie für ein Methoden-übergreifendes Vorgehen.

Nun wirft sie noch einen Blick auf Bindung, Beziehung und therapeutische Allianz und die Frage, was diese Allianz befördern kann. Gerade wenn psychotherapeutische Interventionen und Achtsamkeitselemente verwendet werden, entsteht die Frage, wie beides zusammenwirkt und welche tieferen Prozesse damit einhergehen. Wir befinden uns also in einem hochdynamischen Forschungsfeld, das uns noch viele Erkenntnisse verspricht.

Achtsamkeitsbasierte Interventionen

Achtsamkeit ist eine besondere Form der Aufmerksamkeitslenkung, die möglichst nicht wertend und akzeptierend durchgeführt wird. Dabei verbleibt die Aufmerksamkeit im gegenwärtigen Augenblick. Bei regelmäßigem Üben ergibt sich dann eine verkörperte Erfahrung, die womöglich zu einer Veränderung der inneren Haltung führt, die sich positiv auf die Lebensqualität auswirken kann.

Zu unterscheiden wären zwei Grundformen: Die Fokus Aufmerksamkeit und die Offene Wahrnehmung. Fokus Aufmerksamkeit übt, seinen Geist auf einem gewählten Objekt zu halten. Auch wenn die Aufmerksamkeit wandert, sie immer wieder zum Objekt zurückzubringen. Damit können Klient*innen die Fähigkeit erwerben, z. B. ihren Grübeleien zu entkommen.

Offene Wahrnehmung umschreibt die Fähigkeit der Selbstdistanzierung, also sich gewissermaßen beim Leben und Erleben zuzusehen, ohne sich auf die emotionalen Komponenten des Geschehens einzulassen. Dabei geht es nicht darum, den Geist leer werden zu lassen, sondern die Unterscheidungsfähigkeiten für innere Zustände zu verfeinern.

Achtsamkeit

Frau Aguilar-Raab versteht das als einen erweiterten Bezugsrahmen, der sich auf diese Art entwickeln kann. Dazu bietet sie uns ein Zitat an: „Achtsamkeit ist eines der zentralen Dinge, die uns helfen, unseren Werten treu zu bleiben und entsprechend zu handeln, während der Umstand, „uns selbst zu vergessen“, häufig die Ursache dafür ist, unser Handeln nicht auf unsere Werte abzustimmen.“ Somit kann Achtsamkeit uns dabei helfen, unseren inneren Kompass wiederzufinden und ihn auch zu nutzen.

Offene Wahrnehmung ist Meta-Denken, also Denken über das Gedachte aus der Beobachterposition. Die Fähigkeit zum Meta-Denken verhilft uns zu Orientierung und Selbstklärung unserer Motive, Ziele und Handlungen sowohl im Selbstumgang als auch im sozialen Kontext.

Wirksamkeit von Achtsamkeit

Es gibt bereits etliche Studien und Veröffentlichungen zur Wirksamkeit von Achtsamkeit – ihre Anzahl ist noch am Wachsen. Es zeigen sich positive Effekte ab, allerdings sind zahlreiche Studien methodisch fragwürdig.

Auch und vor allem können Menschen in helfenden Berufen von Achtsamkeit profitieren, denn sie sind überdurchschnittlich häufig von Burn-out, Depression bis hin zur Suizidalität betroffen. In diese Gruppe zeigte die Pflege von Selbstmitgefühl große Wirkung.

Gruppensettings, die über 10-12 Wochen gehen und noch einen Intensivtag bieten, schneiden dabei am besten ab. Als Quintessenz ergibt der derzeitige Forschungsstand die Wirkmechanismen:

Aufmerksamkeitsregulation

Emotionsregulation

Selbstwahrnehmung (auch Körpergewahrsein)

>Selbst und Co-Regulation

Der Aspekt der Regulation steht also im Zentrum des Achtsamkeitstrainings bzw. deren Praxis. Dabei geht es nicht darum, negative Erfahrungen, Gefühle etc. zu vermeiden, sondern angemessen mit ihnen umgehen zu können.

Mitgefühlsbasierte Interventionen

Zur Einführung in diesen Themenkreis bietet uns die Vortragende einige Begriffsdefinitionen. Der ursprüngliche Begriff „empatheia“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Leidenschaft“. Die phänomenologische Definition umschreibt Empathie mit Einfühlungsvermögen und meint damit eine Antwort auf unmittelbar wahrgenommenen, vorgestellten, erschlossenen Zustand in einem anderen.

Empathie wird in psychodynamischer Sichtweise operationalisiert, d.h. als Grundelement der Persönlichkeit betrachtet, welches mehr oder weniger ausgeprägt sein kann. Dabei umfasst Empathie mehr als nur Gefühle, sie beinhaltet auch Gedanken über den anderen, ein sich in den anderen hineindenken. Es gibt eine Reihe von Konzepten, die sich mit dieser Fähigkeit auseinandersetzen, auch die neuronale Grundlagenforschung ist damit befasst. Frau Aguilar-Raab bringt es mit dem Resonanz Begriff auf den Punkt, also mit jemandem in Resonanz kommen.

Mitleid hingegen ist die übertriebene Identifikation mit dem Schmerzlichen und Leidvollen. Hier verlieren wir den therapeutischen Bezugsrahmen und damit die therapeutische Wirksamkeit.

Es kommt also darauf an, Mitgefühl zu kultivieren. Das definiert sie folgendermaßen: „Sensitivität gegenüber Leiden in uns und in anderen mit dem Wunsch, dieses zu lindern und zu verhindern.“ Mitgefühl hat fünf Komponenten (affektive, kognitive, motivationale und behaviorale).

Erkennen von Leiden

Universalität von Leiden verstehen

Empathie

Distress Toleranz

Motivation/Verhalten zu zeigen, das zur Linderung des Leidens beiträgt, was eben nicht Mitleid ist, das mit leidet ohne Voraussicht und aktiven Veränderungswunsch. Sie plädiert für die Kultivierung einer „inneren Weite“, die uns Toleranz für das Unangenehme bietet. Innere Weite gewährt Freiheitsgrade für das Fühlen, Denken und insbesondere das Handeln. Das ermöglicht es auch mit schweren Verlusten umgehen zu können.

Frau Aguilera-Raab berichtet uns von ihrer Ausbildung zum „Cognitive Based Compassion Training“ und erläutert uns kurz die Stufen dieser Ausbildung.

Erlernen von Achtsamkeit

Zunächst geht es darum, körperliche Sicherheit zu finden, denn diese ist die Voraussetzung schlechthin, wenn ich an einer Veränderung arbeiten möchte. Im zweiten Schritt geht es um die Übung selektiver Aufmerksamkeit, die Fokussierung und die Unterbrechung (Inhibition) von Gedanken. Weiter wird das Meta-Gewahrsein trainiert und damit De-automatisiert und De-Reaktivität gestärkt. Im vierten Schritt geht es um Selbstfürsorge, Selbstverantwortung und Selbstmitgefühl. Im fünften Schritt ist das Thema „Menschliche Gemeinsamkeit“, d.h. eine erweiterte Identifikationsmöglichkeit zu entwickeln. Der sechste Schritt dreht sich dann um Interdependenz, Nähe und Wertschätzung.

Wir bekommen noch weitere Modelle vorgestellt, die Mitgefühl von Mitleid unterscheiden bzw. ein Affekt-Regulations-Modell erklären. Letzteres umfass ein Antriebssystem, eine Fürsorge- und ein Alarmsystem, die mit typischen Gefühlen einhergehen und mehr oder weniger gut aufeinander abgestimmt sind.

Auch hier dürfen ein paar Evidenzen nicht fehlen und es gibt sie tatsächlich auch. Die Compassion-Focused Therapy führt zu mehr Selbstmitgefühl – weniger Grübeleien (Ruminationen), weniger Selbstkritik und vermehrter Resilienz gegenüber Psychopathologien, dank besserer emotionaler Selbstregulation.

Es folgt nun noch eine ausführliche Darstellung eines eigenen Forschungssettings mit Paaren. Die Ergebnisse sind mehrdeutig – es scheint genügend Zeit und Übung zu brauchen, bis die Methode befriedigende Wirkungen zeigt. Weiter, dass Mitgefühl, Mentalisierung und Empathie wichtige Wirkgrößen darstellen.

Sie schließt ihren Vortrag mit einem Zitat, das mutmaßlich von Viktor Frankl stammt: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktionen. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit“.

Ein sehr reichhaltiger und eloquent vorgetragener Input. Wer ihn sich ganz ansehen mag, kann das hier tun.

Die Psychosomatik erkundet Narzissmus

Bericht vom 17.05.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Marc Walter, Klinikleiter und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie & Psychotherapie der Psychiatrischen Dienste in Aargau: „Sind wir alle narzisstisch? Neue Erkenntnisse aus der Forschung“

Einführung

Wir erfahren zu Beginn, dass es wenig neurologische Forschung zum Thema gibt und wir deshalb auch nichts darüber hören werden. Spannend ist natürlich die Frage, woran ein Narzisst zu erkennen ist. Dieses Thema wird auch in den Medien häufig thematisiert – die Faustregel wäre: Der, der zuerst den anderen einen Narzissten nennt, ist meist eher der Narzisst. Der übertriebene Gebrauch dieser Zuschreibung macht den Begriff aber zunehmend unscharf.

Welche Personen fallen einem als erstes ein? Christiano Ronaldo oder Donald Trump – haben die eine narzisstische Persönlichkeitsstörung? Nein, denn sie zeigen sich zwar sehr narzisstisch, leiden aber nicht darunter, was für die Diagnose erforderlich wäre. Es gibt also einen Unterschied zwischen der Bezeichnung „Narzisst“ und der „Narzisstischen Persönlichkeitsstörung“.

Von Erich Fromm ist folgendes Zitat überliefert: „Man kann Narzissmus als ein Erlebniszustand definieren, indem nur die Person selbst, ihre Gefühle, ihre Gedanken, ihr Eigentum und alles was zu ihr gehört als real erlebt wird, während alles was nicht Teil der eigenen Person ist, keine volle Realität besitzt.“

Gliederung:

  1. Die Narzisstische Persönlichkeitsstörung
  2. Neues zur Diagnose Narzissmus und Persönlichkeitsstörungen
  3. Die Therapie bei Persönlichkeitsstörungen und narzisstischen Störungen

Narzisstische Persönlichkeitsstörung

Sigmund Freud hat das erste Narzissmus Konzept entwickelt (1914). Dann passierte lange nichts bis Heinz Kohut (1976) und bald darauf Otto Kernberg (1978) ihre Ausarbeitungen zum Thema vorlegten. Damit war auch der Weg frei, um diese Diagnose in das Klassifikationssystem der psychischen Störungen aufzunehmen.

Für Freud war Narzissmus nicht nur schlecht. Er nahm den Begriff aus der Griechischen Mythologie, in der die Geschichte von Narziss erzählt wurde. Der schöne, aber unglückliche junge Mann, der sich in sein Spiegelbild verliebt hatte. Freud gestand diesem Typus zu, dass er unabhängig, aktiv und aggressiv sei. Das ist noch eine ganz andere Perspektive als die Heutige, die den Narzissten eher negativ sieht.

Die aktuelle Einschätzung der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wird im DSM-5 im sog. Cluster B eingetragen. Dabei gilt für den Cluster A, dass er sog. bizarre Erscheinungsbilder zeigt (z.B. Paranoide PS), für B ist die Instabilität typisch (z.B. auch Bordeline) und für C gilt die Ängstlichkeit als zentrales Merkmal (z.B. Zwanghafte PS).

Nicht alle diese Persönlichkeitsstörungen kommen in psychiatrische Kliniken. Die Cluster A Typen leben gerne zurückgezogen am Waldrand und tun niemandem etwas zuleide. Und auch die ängstlichen Typen vom Typ C haben gute Chancen eine soziale Nische zu finden, in der sie weitgehend ungestört leben und sich sogar nützlich machen können. In der Psychiatrie geht es vor allem um den Cluster B, der die Antisoziale, die Borderline, die Histrionische und die Narzisstische Persönlichkeitsstörung umfasst.

Die Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Die Kernmerkmale dieses Bildes machen die Eigenschaften von Großartigkeit, dem Bedürfnis nach Bewunderung und der Mangel an Empathie aus. Gerne werden Fantasien von grenzenlosem Erfolg gepflegt – es geht dabei um Macht, Glanz und Schönheit. Die Überzeugung, ganz besonders und einzigartig zu sein, gehört auch häufig zum Erscheinungsbild, ebenso wie Anspruchsdenken und Arroganz.

Was gibt es Neues?

Neu ist zunächst, dass es eine neue Version des ICD gibt, es trägt die Zahl 11. Der ICD-11 ist seit Januar diesen Jahres gültig, aber es gibt eine fünfjährige Übergangsfrist. Für die Betrachtung der Narzisstischen PS gibt es darin eine neue Perspektive, nämlich dass Narzissmus eine allgemeine Persönlichkeitsdimension ist – in diesem Sinne sind wir tatsächlich alle Narzissten (aber nur ca. 5% haben auch eine Persönlichkeitsstörung). Erst ab einer bestimmten Schwelle wird der Narzissmus pathologisch und wenn diese Schwelle einmal überschritten ist, tendiert der Weg dahin, dass die Störung immer schlimmer wird.

Kommt dann noch Kriminalität hinzu beginnt gewissermaßen der Übergang zur Antisozialen PS, bei der, nach Ansicht des Vortragenden, immer gleichzeitig eine narzisstische Komponente vorhanden ist.

Neu ist auch die Entdeckung, dass es zwei Spielarten des pathologischen Narzissmus gibt. Das ist die gut bekannte „grandiose“ Spielart und neu entdeckt wurde die vulnerable Form. Mit der ersten Ausprägung sind folgende Beschreibungen verbunden: arrogant, aggressiv, psychopathisch, grandios, maligne, dickhäutig, manipulativ, grandiose Fantasien, Anspruchshaltung, Ausbeutung, schamlos, ansprüchlich und dominant.

Für den neuentdeckten vulnerablen Typ gibt es die Beschreibungen: schüchtern, ängstlich, sensitiv, fragil, zurückhaltend, selbstunsicher, das Selbst maskierend, abwertend, misstrauisch, neurotisch, introvertiert.

Bei allen äußerlichen Unterschieden haben doch beide Typen die genau gleichen innerlichen Probleme. Die narzisstischen Eigenschaften der Empathielosigkeit, das ausbeuterische Verhalten und das dringende Bedürfnis nach Bewunderung wird vom einen von vorneherein gezeigt, beim anderen erst mit der Zeit. Der vulnerable Typ ist also schwieriger zu diagnostizieren. Er oder sie kommt meist mit depressiven oder ängstlichen Problemen in die Klinik und erst mit der Zeit zeigt sich dann der fragile Selbstwert und die tiefe Selbstunsicherheit.

Erkennen von Narzissmus

Das Leitsymptom schlechthin zeigt sich, wenn der Betroffene mit einer Kränkung konfrontiert wird. In der klinischen Diagnostik kann es also vorkommen, dass ein Patient mit Narzissmus Verdacht, einfach mal ein wenig länger warten muss, bevor er ins Behandlungszimmer darf. Diese Situation stellt für Betroffene eine akute Krise dar. Die Grandiosität verdeckt ihr sehr zerbrechliches Selbstwertgefühl. Der grandiose Typus empfindet dann Wut und hegt Rachegelüste und der vulnerable Typus schämt sich und empfindet Angst. Mitunter geschieht auch, dass der eine Typus in den anderen umschlägt.

Das zentrale Problem der Persönlichkeitsstörung ist also vor allem der zerbrechliche Selbstwert und sehr viele der typischen Verhaltensweisen dienen dem Selbstwertschutz. Es ist ein verzweifelter Versuch der Selbstregulation.

Narzissmus im ICD-11

Im ICD-11 gibt es den Begriff „Narzisstische Persönlichkeitsstörung“ nicht mehr. Vielmehr werden Persönlichkeitsstörungen als ineinander übergehende Dimensionen betrachtet, die von leicht über mittel bis schwerwiegend sind. Berücksichtigt werden die soziale Funktionsbeeinträchtigung und aggressives und selbstdestruktives Verhalten.

Diagnostisch werden die „Domänen“ negative Emotionalität, Dissozialität, Zwanghaftigkeit, Enthemmung und Distanziertheit unterschieden. Darin finden sich dann wieder die altbekannten Beschreibungen des narzisstischen Erlebens und Verhaltens.

So wird auch deutlicher, dass von Narzisstischer PS betroffene sehr häufig weitere Erkrankungen haben – z.B. Affektive Störungen, Depressionen, Angststörungen und Abhängigkeitsstörungen.

Gerade bei Suchtpatient*innen finden sich anders herum sehr häufig Persönlichkeitsstörungen.

Die Therapie der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Von einer Narzisstischen PS sind so gut wie immer auch andere Menschen mitbetroffen, insbesondere Partner*innen und Familienmitglieder. Herr Walter berichtet darüber, dass er plant einen Ratgeber zu schreiben, in dem beide Seiten vorkommen.

Die PS kann mit Psychotherapie behandelt werden. Es gibt zahlreiche Werke von Verhaltenstherapeuten und psychodynamischen Therapeuten, die hier hilfreiche Tipps geben können. Von Seiten der VT bieten sich die Dialektisch-behaviorale und die Schematherapie an. Auf Seiten der Tiefenpsychologie die Übertragungsfokussierte Therapie und die Mentalisierungsbasierte Therapie.

Egal, welcher Zugang gewählt wird. Typischerweise hat die Therapie einer PS drei Phasen. In der Eingangsphase geht es darum, zuzuhören, sich auf den Patienten einzulassen, sich ganz zur Verfügung zu stellen. Schon in dieser Phase, noch mehr in der zweiten, geht es aber auch darum, konstruktive Grenzen zu ziehen. Diese Grenzziehungen werden sinnvollerweise am besten gemeinsam erarbeitet und in einer Vereinbarung festgeschrieben.

In der zweiten Phase können kleine Kränkungen, am besten augenzwinkernd, verabreicht werden. Hier ist viel Feinfühligkeit gefragt, eine gute Einschätzung wieviel schon möglich ist und was den Patienten möglicherweise in eine Krise stürzen kann. Krisen sind für Betroffene besonders prekär. Die Suizidrate für dieses Krankheitsbild ist höher, als die der Depression.

Die dritte Phase konfrontiert dann den Patienten mit der Realität. Also heraus aus den Größenfantasien und der Aufbau eines realistischen Selbstbilds, sowie Fähigkeiten zur Selbststeuerung und Kommunikation. Das kann nur gelingen, wenn die Beziehung tatsächlich trägt und das gelingt wiederum nur, wenn ich als Therapeut auch etwas Liebenswertes oder Interessantes beim meinem Klienten finden kann.

Fazit:

Es gibt einen normalen Narzissmus als Persönlichkeitseigenschaft

Narzisstische Persönlichkeitsstörungen und antisoziale PS sind narzisstische Störungen und befinden sich auf einem Kontinuum narzisstischer Psychopathologie

Ein vulnerabler narzisstischer Typus ergänzt den grandios narzisstischen Typus

Intensive Beziehungsarbeit und dialektisches Arbeiten (Einfühlen, Begrenzen) sind entscheidend für die Psychotherapie mit narzisstischen Patientinnen und Patienten.

Ein sehr spannender und gehaltvoller Vortrag, der mit leisem Humor angereichert war.

Hier geht es zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet Psychosen

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Tania Lincoln, Universität Hamburg: „Psychotherapie bei Wahnsymptomen. Ist das verrückt?“

Einführung

Frau Lincoln möchte uns die neuesten Entwicklungen für die Psychotherapie von Psychosen vorstellen. Dazu möchte sie uns zunächst aber mit einigen grundlegenden Merkmalen der Psychose vertraut machen und das sind zunächst die Wahnsymptome. Das sind:

„Falsche Überzeugungen, die gewöhnlich mit einer Fehldeutung von Wahrnehmungen oder Erfahrungen einhergeht.“

Als Beispiele wählt sie Beziehungsideen, den Verfolgungswahn und den Größenwahn.
Beziehungswahn bedeutet, dass die Betroffenen Dinge auch sich beziehen, z. B. Zeitungsmeldungen oder auch das Getuschel der Nachbarn. Damit eng verwandt ist der Verfolgungswahn, der die Überzeugung beinhaltet, dass andere mit bösen Absichten hinter einem her seien. Größenwahn beschreibt Vorstellungen, die beinhalten, dass man z. B. Jesus, Napoleon o. ä. sei.
Wahnvorstellungen sind sehr typisch für Psychosen. In 80 % aller Erkrankungen kommen sie vor.

Stand der Dinge

Diesen Abschnitt leitet Frau Lincoln mit dem Brief einer Mutter ein. Darin beklagt die Mutter, dass ihre Tochter seit fünf Jahren stationär untergebracht ist und dass in dieser Zeit kaum eine Psychotherapie stattgefunden habe. Die Begründung dafür lautet, dass eine Psychotherapie erst nach dem Abklingen der Positivsymptome sinnvoll sei.
Diese Ansicht vertreten derzeit noch viele in der Psychiatrie tätige Menschen. Als Beleg dafür weist uns die Referentin einen Wochenplan vor, der für psychiatrische Patienten gerade eine halbe Stunde Gespräch, das nicht unbedingt psychotherapeutisch sein muss, einplant.
Ähnlich schlecht sieht es in der ambulanten Versorgung aus. Zu erwarten wäre ein Anteil von 9 % in den Praxen, tatsächlich macht der Anteil von Betroffenen gerade einmal 2,6 % aus. Sie schließt daraus, dass die Psychotherapie von Psychosen noch keine gängige Praxis im deutschen Versorgungssystem sei. Das führt sie zur Frage, warum das so ist.

Grundannahmen über Wahn

Dazu bekommen wir ein Zitat von Karl Jaspers:

„Bei Symptomen wie Wahn handelt es sich um <<gänzlich fremde erlebniswelten>>. Es ist unmöglich, einen Wahn in seiner Genese zu verstehen.“

Diese Sichtweise herrschte lange vor und kann erklären, warum es kaum Versuche gab, einen psychotherapeutischen Zugang zum Wahnerleben zu erlangen. Wahnerleben scheint außerhalb der allgemeinen psychologischen Theorien zu liegen und damit erscheint es wenig aussichtsreich.

Alltägliche Gedanken

Aber stimmen die Annahmen von Karl Jaspers überhaupt? Ist Wahn tatsächlich gänzlich fremd? Liegen uns paranoide Gedanken tatsächlich so fern? Frau Lincoln lädt und ein, das einmal bei uns selbst zu überprüfen, indem wir uns fragen: Müssen Sie sich davor schützen, von anderen ausgenutzt oder verletzt zu werden? Oder: Entdecken Sie manchmal versteckte Drohungen oder Beleidigungen, in dem, was andere sagen? Ihre Annahme ist, dass vielen Menschen solche Gedanken zumindest ansatzweise vertraut sind. Es gibt dazu auch eine Statistik, die besagt, dass 28,1 % der Bevölkerung Misstrauen kennt, 19 % Beziehungsideen und 9 % Verfolgungsideen.
Gänzlich fremd erscheinen Wahnideen also keinesfalls. Die Thematik lässt sich als Pyramide darstellen. An deren Basis, die viele Menschen umfasst, finden sich Ängste vor Zurückweisung, darüber, weniger Betroffene erfassend, Gedanken über Beziehungsideen, noch höher findet sich ein mildes Bedrohungsgefühl, darüber noch ein moderates Bedrohungsgefühl, das Ausweichmanöver begründet und ganz an der Spitze sind dann die wenigen Menschen, bei denen starke Bedrohungsgefühle bis hin zu Verschwörungstheorien zu finden sind.
Diese Häufigkeit bestärkt die Referentin in der Annahme, dass Wahn nicht so fremd sein kann, wie Jaspers es annahm und weiter, dass Wahn im Spektrum der psychologischen Möglichkeiten liegt und damit auch ein psychotherapeutischer Zugang möglich erscheint.

Kognitive Verhaltenstherapie

Der Grundgedanke der Kognitiven Verhaltenstherapie ist sehr schlicht. Jedes Ereignis führt zu einer Bewertung, die wiederum zu einer Reaktion führt. Wenn ich z. B. mitbekomme, wie meine Nachbarn miteinander tuscheln, könnte ich auf die Bewertung kommen, dass sie über mich tuscheln und das würde mich dann vielleicht dazu bringen, mich in meine Wohnung zurückzuziehen.
Dieser Ansatz hat sich für die Behandlung etlicher Depressionen sehr bewährt. Durch die psychotherapeutische Bearbeitung der Bewertungen kann die Psychotherapie erfolgreich sein. Was lag also näher, als dieses Modell auch auf Wahnsymptome anzuwenden.
Es hat sich dann herausgestellt, dass es doch nicht ganz so einfach ist. In der Behandlung psychotischer Patienten braucht es sehr viel mehr Vorarbeit, bevor man die „kognitive Umstrukturierung“ beginnen kann. Dieser Ansatz wird seit den 90er Jahren verfolgt und wird seither verfeinert. Damals war es quasi eine Sensation und heute gilt er schon als alter Hut, so Frau Lincoln.
Inzwischen gibt es Leitlinien und Manuale zur Behandlung z. B. von Schizophrenie. Deren Wirksamkeit wird natürlich ebenfalls erforscht und diese Forschung ergab, dass die VT kurz- und langfristige Effekte auf die Symptomatik hat. Allerdings schüttet Frau Lincoln gleich ein wenig Wasser in den Wein, denn Follow-Up Studien konnten die ohnehin schwachen Effektstärken nicht immer finden und der Effekt auf das Wahnerleben, war ohnehin sehr gering.

Wahn und Lebensverhältnisse

Das spornt die Vortragende an, nach besseren und wirkungsvolleren Möglichkeiten zu suchen um Psychosen zu behandeln. Also zurück zum zweiten Teil von Jaspers‘ Aussage, dass Wahn unmöglich zu verstehen sei.
Basierend auf der Erfahrung, dass Wahn prinzipiell veränderbar ist, liegt der Gedanke nahe, dass die Lebensverhältnisse eine Rolle bei der Wahnbildung spielen könnten. Wenn man nun noch die psychologischen Mechanismen identifizieren könnte, die von misslichen Lebensumständen zu Wahnvorstellungen führen, dann könnten daraus neue therapeutische Strategie entstehen.
Bekannt ist ebenfalls schon, dass psychotische Episoden häufig getriggert werden. Es gibt also soziale Stressoren, die den Ausbruch einer Wahnepisode begünstigen können.
Ebenfalls gut bekannt sind Risikofaktoren, die eine Erkrankung wahrscheinlicher werden lassen. Zu den Klassikern dieser Faktoren zählen Gen-Defekte und Gehirnschädigungen. Aber diese reichen bei weitem nicht aus, alle Wahnerkrankungen zu erklären, also müssen die sozialen Risikofaktoren unbedingt mitbedacht werden.
Eine Unvollständige Liste sozialer Risikofaktoren umfasst: Traumata, Migration, Mobbing, Diskriminierung, Minderheitenstatus, Geringes Einkommen, Aufwachsen in einer Großstadt … Betrachtet man diese Liste wird deutlich, dass die Betroffenen tatsächlich eine Menge negatives Feedback von ihrer sozialen Umwelt erhalten, also reale Erfahrungen von Zurückweisung bis Feindseligkeit vorhanden sind.

Zusätzliche Faktoren

Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass sich genetische und soziale Risikofaktoren addieren, also unabhängig voneinander wirksam werden können. Hinzu kommen auch noch biografische Vulnerabilitäten, wie z. B. Kindheitstraumen. Diese begünstigen eine psychotische Entwicklung, aber es sind dann immer die aktuellen Stressoren, die zu einem Ausbrauch führen.
Es liegt auf der Hand, dass soziale Stressoren nicht so einfach psychotherapeutisch zum Verschwinden gebracht werden können und dasselbe gilt für die Alltags-Stressoren.
Hier taucht dann die Frage auf, wie denn diese Zusammenhänge vermittelt werden. Wie machen Risikofaktoren jemanden anfällig? Was passiert auf dem Pfad zur Psychose? Wie also hängen Risikofaktoren, Vulnerabilität, Mediatoren mit aktuellen Stressoren und Wahnsymptomen zusammen?

Mechanismen der Wahnentstehung

Zunächst betrachtet Frau Lincoln auf welchen Wegen sich die Vulnerabilität bemerkbar macht bzw. übermittelt. Dazu möchte sie die affektiven, kognitiven und physiologischen Pfade etwas näher untersuchen.
Zu dieser Fragestellung hat sich auch selbst geforscht. Ein zentrales Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen aus Risikogruppen sehr ausgeprägt mit Angst reagieren, wenn sie unter Stress geraten. Diese Angst und die damit einhergehende vegetative Erregung sind als Vorläufer Symptome für Psychosen gut bekannt.
Damit ergeben sich neue Hinweise für die spezifische Vulnerabilität, nämlich dass Betroffene häufig Probleme mit der Emotions- und Stressregulation haben, was wiederum ein Hinweis auf belastende Kindheitserfahrungen ist.
Auch der physiologische Weg wurde schon erforscht und das zentrale Ergebnis besagt, dass Betroffen eine geringere Herzratenvariabilität aufweisen. Diese zeigt, wie schnell und vielseitig die Herztätigkeit auf verschiedenen Situationen reagiert. Eine geringe Variabilität findet sich sehr ausgeprägt bei Patienten mit Psychosen.

Emotionsregulation

Schaut man genauer auf die Strategien der Emotionsregulation, findet man bei Betroffenen sehr häufig dysfunktionale Strategien. Sie versuchen, die Gefühle zu unterdrücken oder kommen ins Grübeln und neigen zu Selbstbeschuldigungen. Gesunde Vergleichspersonen nutzen dagegen Ablenkung, Neubewertung oder Akzeptanz um wieder zur Ruhe zu kommen.

Das Gesamtbild

Wir sehen nun das ausgearbeitete Diagramm der Psychose Entstehung. Auf der Basis von genetischen Dispositionen, frühen Hirnschädigungen und sozialen Risikofaktoren stehen nun gestörte Emotions- und Stressregulation, die sich als Übergebrauch ungünstiger Strategien zur Emotionsregulation, sowie als gestörte psychophysiologische Selbstregulation zeigen. Diese begünstigen die Wahnsymptomatik sobald ein aktueller sozialer Stressor auftritt. Damit wären potenzielle therapeutische Ansatzpunkte klarer.

Therapeutische Erfahrungen

Frau Lincoln berichtet uns von einigen Therapie Studien, die auf der Grundlage dieses Modells durchgeführt wurden. Zum einen ging es um Achtsamkeit im Umgang mit Triggern und Sorgen in einem Kurzzeittherapie-Setting. Dies hat sich als gering hilfreich erwiesen.
Der Versuch, mithilfe von Bio-Feedback auf physiologischem Weg Einfluss zu nehmen, war nicht wesentlich erfolgreicher.

Noch mehr Faktoren

Bisher ging die Referentin noch nicht auf den kognitiven Pfad der Wahnentstehung ein, was sie nun nachholt. Kognitiv erfolgen die Bewertungen eines Ereignisses und die Bewertungsschemata entwickeln Menschen z. T. früh im Leben, meist durch die Eltern vermittelt. Es geht um die Art und Weise, sich selbst, die anderen und die Welt zu erleben und zu bewerten.
Hier zeigt die Forschung, dass Betroffene die Welt eher als gefährliche und unberechenbar erleben, sich selbst eher als schwach und wertlos und andere Menschen als stark. Gut erforscht wurde z. B. der negative Effekt von Stress auf den Selbstwert.
Damit wäre ein weiterer therapeutischer Zugang eröffnet – die Arbeit am Selbstwert. Die bisherigen Ergebnisse fallen allerdings auch hier bescheiden aus.
Also bezieht Frau Lincoln nun auch noch das Phänomen der Dopamin Dysregulation ein, denn es ist bekannt, dass dies sehr spezifisch für psychotische Erkrankungen ist. Dopamin Überschuss kann zu verzerrten Wahrnehmungen führen, was einer psychotischen Verarbeitung natürlich zuspielt.
Betroffene nehmen also einen eigentlich harmlosen Reiz bedrohlich wahr, die Angst nimmt relativ unreguliert zu und verunsichert zusätzlich. Nun sucht der Betroffene eine Erklärung für sein Erleben und die wahnhafte Erklärung kann ihm nun ein Gefühl der Erleichterung verschaffen.

Die Rolle des Denkstils

Diese ganze Dynamik wird gestützt und getragen von der Neigung der Betroffenen, schnelle Entscheidungen zu treffen. Diese Art des „schnellen Denkens“ ist gut bekannt bei psychotisch Erkrankten.
Das bringt nun eine neue therapeutische Möglichkeit ins Spiel – die Arbeit mit dem Denkstil. Im Ergebnis scheint es möglich zu sein, den Denkstil tatsächlich zu verlangsamen.

Rückzug und Vermeidungsverhalten

Ein weiteres Merkmal der Erkrankung ist, dass Betroffene sich ungern auf Augenkontakt einlassen. Weiter versuchen sie ihre Ängste mit Vorsorgemaßnahmen einzudämmen z. B. die Tür doppelt abzuschließen o. ä. Dieses Verhalten erleichtert kurzfristig führt aber langfristig immer tiefer in die Ängste.
Hier gab es psychotherapeutische Versuche in virtuellen Umwelten, die durchaus Effekte erzielt haben.

Neue Konzepte

Im Ergebnis gibt es nun eine ganze Reihe von Komponenten, die sich auch alle therapeutisch adressieren lassen, aber jede für sich nur geringe Effektstärke zeigt. Daraus ergibt sich der Gedanke: Könnte man nicht höhere Effektstärken erzielen, wenn alle Komponenten angesprochen würden? Und genau dieser Versuch wurde nun im „Feeling Safe Programm“ verwirklicht.
Es zielt auf Emotionsregulation und Verminderung von Sorgen, sowie auf eine Veränderung des Denkstils sowie das Schlafverhalten und den Umgang mit Stimmen. Das ganze Programm ist modular aufgebaut und kann an die spezifischen Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden.
Das Programm erzielt tatsächlich relativ hohe Effektstärken und ist inzwischen sehr anerkannt. Wir sehen noch den Werbeclip dazu.
Frau Lincoln schließt, wie sie angefangen hat mit Karl Jaspers. Diesen hat sie mit ihrer Präsentation widerlegt. Symptome von Wahn sind ein Erleben, das tatsächlich verstehbar ist.

Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet die Entwicklungspsychologie

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Stephan Doering, Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien: „Der Tanz mit dem Baby – entwicklungspsychologische Modelle der frühen Interaktion“

Herr Doering klärt uns zu Beginn darüber auf, dass er weder Bindungsforscher noch Kinder- und Jugendpsychotherapeut ist, sondern Psychoanalytiker und Psychotherapieforscher. Er möchte uns aber etwas zur Bindungsforschung und zur Interaktion zwischen Mutter und Kind berichten, weil die Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen sehr relevant für die Psychotherapie sind. Ich kann vorwegnehmen, dass Herr Doering uns die historische Entwicklung und Meilensteine der frühkindlichen Entwicklungspsychologie vorstellen wird.

Anfänge

Wir bekommen zunächst ein Diagramm präsentiert. Es stellt die allmähliche Ausbildung eines psychischen Raums beim heranwachsenden Baby dar. Die im Diagramm veranschaulichte Theorie nimmt noch an, dass es eine frühe Phase einer sog. „undifferenzierten Matrix“ gibt, die ein Baby erlebt. Diese werde als weitestgehend vegetativ erlebt, also ähnlich einer Pflanze.
Relativ bald wurde diese Betrachtung angegriffen bzw. durch besseres Wissen ersetzt. Insbesondere die Forschungsarbeiten von Daniel Stern revolutionierten die Vorstellungen über die Bewusstseinsvorgänge eines Babys.
Dann werden wir an das Buch „Der kompetente Säugling“ erinnert. Darin stellte Martin Dornes das entwicklungspsychologische Wissen dieser Zeit (1993) umfassend dar und glich es auch mit psychoanalytischen Modellen ab. Seither kann man davon ausgehen, dass Babys sehr wohl über eine gewisse Selbstwahrnehmung verfügen und dass sie sich an ihre Betreuungspersonen anpassen können.
Anhand dieser Grundlagen möchte uns Herr Doering nun die Arbeit von Beatrice Beebe und Frank M. Lachmann vorstellen. Beides sind Säuglingsforscher, die auf der Basis ihrer Einsichten die Relevanz insbesondere für die Psychoanalyse, im Weiteren aber auch für Psychotherapie insgesamt relevant halten. Das Eingangszitat dazu lautet:

„[…] weil sich die basalen nonverbalen Interaktionsprozesse so ähnlich bleiben, […] vermag [das] unser Verständnis der Analytiker-Patient-Interaktion zu vertiefen.“

Die Interaktionsprozesse verändern sich natürlich durch Sprache und Kognitionen, aber der nonverbale Grund bleibt dabei erhalten. Der Ansatz wäre also nun, vor diesem Hintergrund die folgenden Fragen zu beantworten: Was geschieht eigentlich in einer Psychotherapie? Was passiert jenseits der Worte? Herrn Doerings Forschungsarbeit besteht nun genau darin, zu versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Was ist eine Repräsentation?

Das klassische Verständnis dieses Begriffs umschreibt die Anwesenheit von etwas im Bewusstsein, das nicht real präsent ist. Die Hypothese dazu lautete immer, dass dafür so etwas wie symbolischen Fähigkeiten notwendig wären, also Sprachfähigkeit.
Nun hat sich aber herausgestellt, dass es auch präsymbolische Repräsentationen gibt. Diese lassen sich ab dem zweiten Lebensmonat feststellen und es geht dabei um Bilder, Töne und Geräusche sowie um Gerüche, die in Beziehungskontexten eine Rolle spielen. Diese bilden präsymbolische Repräsentanzen, die zum impliziten Beziehungswissen gezählt werden. Es wird angenommen, dass sie uns ein Leben lang erhalten bleiben.
Klassische Experimente, die diese Hypothese stützen, sind: Dass ein Säugling innerhalb von fünf Tagen nach der Geburt die Mutter am Geruch erkennen kann, nach nur drei Tagen die mütterliche Stimme und ihr Gesicht nach etwa zwei Tagen. Aus diesen Erkenntnissen wurde im Anschluss die Entwicklungspsychologie der Klein‘schen Objektbeziehungstheorie erweitert.

Implizites Beziehungswissen

Alle diese präsymbolischen Repräsentationen werden in Beziehungen erworben und bleiben für Beziehungen relevant, auch nachdem symbolische Repräsentanzen gebildet werden können. Es ist implizit-prozedurales (unwillkürliches) Beziehungswissen, das ein Stück weit unsere Erwartungen an und Handlungen in Beziehungen beeinflusst.
Daniel Stern hat diese Art von Wissen als RIGs „Representations of Interaction that have been Generalized“ bezeichnet. Diese umfassen Gefühle, Handlungen und Interaktionen in komplexen Mustern.

Synchronisierung

Wie bilden sich nun die präsymbolischen Repräsentanzen oder RIGs? Eine zentrale Rolle spielt dabei die Synchronisation, also die zeitliche Abstimmung zwischen Partner.

Bekannt ist das Phänomen der Fähigkeit des Säuglings, bereits wenige Stunden nach seiner Geburt die Mimik eines Gegenübers nachahmen zu können. Ob das bereits ein Effekt des Gesichts-Feedbacks ist (facial feedback) ist noch nicht geklärt.

Die Rolle des „Spiegelns“ hingegen scheint sehr viel eindeutiger geklärt. Es ist eine der häufigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind, dass wechselseitig Gesichtsausdrücke produziert und zurückgespiegelt werden. Diese Abstimmung erfolgt in Zeiträumen von Mikrosekunde, ist also hochdynamisch. Da Mimik aber auch zum Gefühlsausdruck zählt, findet hier auch schon eine Affektregulation und damit Aufbauprozesse eines Selbsts statt. Frau Beebe formuliert die Erfahrung so:

„Ich erlebe mich selbst als eine Person, die dir folgt und der du folgst.“

Ein weiteres Forschungsergebnis von Frau Beebe ist, dass eine zweieinhalbminütige Beobachtung einer Mutter-Kind-Interaktion (das Kind ist vier Monate alt), das Bindungsmuster mit einem Jahr vorausgesagt werden kann. Mithilfe einer guten Filmaufnahme dieser Interaktion lassen sich Spiegelungs-, Berührungs-, Handlungs- und Abstimmungssequenzen analysieren und auf ihre Angemessenheit und Synchronität prüfen. Gelingende Interaktionen muten an wie ein Tanz von Mutter und Kind.
Wir sehen nun eine kleine Videosequenz einer solchen Mutter-Kind-Interaktion, die das Gehörte eindrücklich illustriert. Dieses Beispiel dokumentierte eine gute Abstimmung zwischen Baby und Mutter.

Misslingende Abstimmung

Nun nennt uns Herr Doering einige Anzeichen, die für ein desorganisiertes Bindungsmuster sprechen. Die Kinder zeigen mehr Kummer in der Mimik, sie zeigen auch Abweichungen zwischen stimmlicher Äußerung und Affektausdruck, die Rhythmen sind schwer vorhersagbar und die Kinder berühren sich selbst weniger mit ihren Händen.
Die Mütter wenden ihren Blick häufiger ab, kommen aber auch häufiger besonders nah oder zu nah. Wenn das Kind Kummer zeigt, zeigen sie sich überrascht und eher positiv und sie können sich nicht gut zeitlich abstimmen. Sie versuchen stark ihre Mimik zu beherrschen und berühren ihr Kind eher unkoordiniert.
Zum besseren Überblick bekommen wir noch ein Diagramm, das uns die Zeitlinie der Synchronität darstellt. Diese beginnt bereits vorgeburtlich und macht in den ersten sechs nachgeburtlichen Monaten vor allem Erfahrungen in Interaktionen. Dabei hilft dem Baby ein angeborener „Kontingenz-Detektor“, denn es sucht nach wenn-dann Beziehungen.
Etwa ab dem neunten Monat entsteht so etwas wie Intersubjektivität und etwa ab dem ersten Lebensjahr beginn allmählich die Bildung symbolischer Repräsentanzen.

Abriss und Reparatur

Aber keine Harmonie hält ewig und es kommt auch immer wieder zu Abbrüchen und Missverständnissen. Wieder war es Daniel Stern, der dieses Phänomen neu gedeutet hat. Danach sind die Unterbrechungen und ihre Reparatur sehr wichtige Erfahrungen für den Säugling, denn er trainiert damit seine Toleranzschwelle und macht auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wenn es ihm gelingt, die Mutter wieder zum Tanzen zu bringen. Genauere Forschungen haben ergeben, dass nur 30 % der Zeit in Harmonie verbracht werden und während 70 % der Zeit eine gewisse Dissonanz vorherrscht.

Das berühmteste Experiment zu diesem Thema ist das „Still Face Experiment“. Darin bekommen Mütter die Aufgabe, drei Minuten lang ihre Gesichtszüge nicht zu verändern. Wir sehen ein solches Experiment in einem kurzen Video und es ist sehr anrührend, welche Anstrengungen das Kind macht, um die Mutter wieder in Einklang zu bringen. Der Forscher Ed Tronick nannte das: „Das Gute, das Schlechte und das Hässliche“. Gut sind die normalen Dinge, wenn Einklang zwischen Mutter und Kind herrscht. Schlecht ist, wenn der Einklang gestört ist und hässlich ist, wenn es keinen Rückweg aus dem Missklang gibt.

Eine gelingende Beziehungsgestaltung umfasst also sowohl Harmonie als auch Dissonanz und die Wege dazwischen. Reine Harmonie ist so schädlich wie reine Dissonanz. Genau das besagt das „Mutual Regulation Model“

Mutter und Kind beeinflussen gegenseitig, also beide sind sowohl aktiv als auch passiv an der Beziehungsgestaltung beteiligt. Dabei hilft auch das sog. „Social Referencing“. Dieser Ausdruck will sagen, dass das Kind in unbekannten Situationen auf den Gesichtsausdruck bzw. die Reaktion der Mutter achtet, um einen Hinweis darauf zu bekommen, ob die Situation womöglich gefährlich ist.

Kreuzmodale Entsprechung und Affektabstimmung

Es ist schon länger bekannt, dass kleine Kinder verschiedene Objekte mit mehreren Sinnen erforschen und zwar visuell, taktil, evtl. über den Geruch oder auch auditiv. Zum Verständnis dieses Phänomens hat wieder Daniel Stern einiges beizutragen. Er vermutet eine „supra-modale Wahrnehmung“, die weder taktil, auditiv oder visuell ist, aber die Möglichkeit bietet, ein und denselben Gegenstand in unterschiedlichen Modi wiederzuerkennen.

Stern bringt auch noch den sog. „Vitalitätsaffekt“ ins Spiel. Damit möchte er die Erlebniswelt des Kleinkinds beschreiben, die als ein Auf und Ab von Gefühlen und Intensitäten vor sich hinfließt. Damit ist es möglich, die typischen Gesprächsformen zwischen Eltern und Kindern zu verstehen. Übertrieben laute oder leise, hohe oder tiefe Sprache, eine übertriebene Mimik und alles geht mit dazu passenden Bewegungen einher, die entsprechend schnell und kräftig sind.

Dies wird ab dem neunten Lebensmonat noch einmal intensiver und um eine neue Dimension erweitert, denn in dieser Zeit beginnt die Affektabstimmung eine wichtigere Rolle zu spielen. Affekte und Emotionen haben auch eine Erregungskurve z. B. ansteigend im Ärger oder abfallend bei der Trauer. Diese Verläufe lassen sich nun auch in der Stimme, der Bewegung oder dem Gesichtsausdruck nachvollziehen. Der Vortragende gibt uns ein schönes stimmliches Beispiel des „Kuckuck-Da“ Spiels, das von sechs bis acht Monate alten Kindern so innig geliebt wird.
Wir bekommen noch weitere Beispiele für kontingentes Spiegeln, also kongruente und markierte Wiedergaben der Äußerungen des Kindes, sodass es die Möglichkeit hat, sich sowohl gesehen als auch verstanden zu fühlen. Auch die Beispiele, bei denen die Spiegelung nicht klappt, sind eindrucksvoll.

Konsequenzen für die Psychotherapie

Herr Doering plädiert dafür, dass diese Prozesse von Synchronität, Grenzverfehlungen, kontingente Spiegelungen sowie der Verlauf von Erregungskurven und die kreuzmodalen Übersetzungen eine wichtige Rolle für den Verlauf und den Erfolg einer Therapie spielen. Patient*innen haben eher ungute Abstimmungserfahrungen gemacht und in ihrem impliziten Gedächtnis sind wohl häufiger ungute Interaktionserfahrungen abgelegt.
Diese impliziten Inhalte zeigen sich im nonverbalen Verhalten, der Inszenierung, der Art und Weise der Annäherung und des Abschieds und in den Möglichkeiten der gegenseitigen Regulation. Herr Doering möchte uns dafür sensibilisieren.

Hier geht es zu diesem überaus reichhaltigen Vortrag