Psychosomatik und Sprache

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 06.02.18 von Carl Eduard Scheidt, Prof. Dr. MA – Uni Freiburg
„Sprechen über sich – Zur narrativen Konstruktion von Identität“

Sprechen und erzählen

Sprache ist für Menschen selbstverständlich. Wir benutzen sie ständig, um uns verständlich zu machen und zwar sowohl in unseren Gedanken als auch im Austausch mit anderen. Sprechen wird auch als soziales Handeln betrachtet. Wir appellieren damit, stellen etwas fest oder drücken unsere Gefühle damit aus.

Sprache ist auch das Medium der Erzählung und eine Erzählung hat eine raumzeitliche Struktur. Das umfasst einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. In der Mitte kommt es in der Regel zu Komplikationen und am Ende steht eine Bewertung oder Schlussfolgerung.

Eine Erzählung findet in der Gegenwart statt. Sie bezieht sich dabei auf etwas in der Vergangenheit. Das ‚erzählende Ich‘ der Gegenwart berichtet von dem ‚erzählten Ich‘ der Vergangenheit. In einem gewissen Sinn rekonstruiert das erzählende Ich sich selbst durch die Erzählung.

Traumatische Erfahrungen können diese Rekonstruktion empfindlich stören, denn die Erzählung kann uns helfen Gefühle und Umstände in unser Selbstbild zu integrieren.

Durch das Erzählen erweitern wir unser Weltwissen und pflegen dabei auch noch unsere Beziehung zum Zuhörer. Die erzählte Geschichte kann zu einem Teil unserer Identität werden.

Erzählung und Identität

Was aber ist nun Identität? Die Identität wird nicht mehr einfach als ‚dieses Ding‘ betrachtet, das eindeutig für sich existiert. Vielmehr ist die aktuelle Perspektive darauf die, dass sie konstruiert werden muss. Diese Konstruktion besitzt mehrere Dimensionen, die je nach Situation verwendet werden kann.

Wenn Menschen in existenziell umwälzende Situationen geraten, z.B. eine Krebserkrankung, der Ausbruch einer Psychose oder die Entdeckung der eigenen Homosexualität, wird das die bisherige Identität erschüttern.

In so einem Fall bekommen Erzählungen ganz neue Aufgaben. Sie müssen es schaffen, das Fortbestehen der Identität zu sichern. Es braucht neue Erzählungen für die Übereinstimmung mit sich selbst. Sie können auch dazu dienen, Anerkennung und soziale Resonanz zu fordern und manchmal dienen sie auch der Selbstrechtfertigung. Gerade wenn Schuldgefühle eine Rolle spielen, wird es wichtig, sich mit der Schuld erzählerisch auseinanderzusetzen, um so seinen Selbstwert zu schützen und auch die Gelegenheit zur Selbstreflexion zu nutzen.

psychische Aspekte

Wir hören nun einige Beispiele von biografischen Erzählungen. Herr Scheidt weist uns auf die verschiedenen Funktionen der Erzählung in diesen Geschichten hin.

Schon die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, enthält Beziehungsbotschaften. Dafür werden hauptsächlich körpersprachlichen Mittel eingesetzt.

Wichtig für die ‚Identitätsarbeit‘ sind die Bilder bzw. die Vorstellungen von Bildern, die andere sich von einem machen. Hier vermischen sich bewusste und unbewusste Inhalte. Meine Vorstellung davon, wie ich gerne wäre, muss in Einklang mit dem Bild gebracht werden, das sich andere von mir machen. Und auch meine Annahmen darüber, wie andere mich sehen, muss mit dem versöhnt werden, wie andere mich tatsächlich sehen.

Diese Erwägungen sind nicht spannungsfrei. Wenn die Person allerdings über ein stabiles Selbstbild verfügt und sich auch vorstellen kann, dass der andere ebenfalls über ein eigenes Erleben verfügt (TOM), stehen die Chancen gut, dass dieser Prozess gelingen wird.

Ein weiterer Aspekt ist der Einfluss des Hörers auf die Geschichte. Dies ist besonders bei Paaren relevant, die üblicherweise über eine Co-Konstruktion ihrer Beziehung erschaffen haben.

Wissenschaftliche Zugänge

Es gibt natürlich auch Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit von Erzählen. Die Hypothesen zur Wirkkraft sind:

  • Auflösen von Blockaden
  • Kognitives Durcharbeiten
  • Selbstregulation
  • Soziale Integration
  • Selbstdarstellung

Vermutlich werden es individuelle Mischverhältnisse dieser Prozesse sein, die im Einzelfall wirken. Das wird auch durch neurowissenschaftliche Studien bestärkt.

Die Gender Forschung hat herausgefunden, dass sich männliche von weiblichen Erzählstilen unterscheiden. Dies ist wohlgemerkt der sozialen Konstruktion zu verdanken und nicht den Genen. Männliche Erzählungen orientieren sich bevorzugt an Fakten und sie schlussfolgern am liebsten. Frauen orientieren sich eher an Emotionen, deshalb fragen sie nach und deuten das Gehörte.

Dieser Befund lässt sich mit den entwicklungspsychologischen Theorien von Jaques Lacan und Daniel Stern vergleichen. Der erstere nimmt an, dass das Baby sich in einem psychischen Chaos befindet. Der andere sieht die heranwachsende Ordnung als Motor des psychischen Erwachens.

Erzählen und Krankheit

Es gibt etliche psychische Krankheitsbilder, in denen die Erzählfähigkeit eingeschränkt oder gehemmt ist.

  • Identitätsstörungen
  • Affektive Störungen
  • Persönlichkeitsstörungen

Sprechen und erzählen kann hier zu einer wertvollen Intervention werden. Wenn es z.B. in der Therapie zu Störungen des Erzählflusses kommt, kann das auf eine psychische Belastung hinweisen. Ebenso das plötzliche Verstummen oder die Weigerung, schmerzhafte Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

Hier besteht die therapeutische Aufgabe darin, Wege anzubieten, wie das Unsagbare doch noch ausgedrückt werden kann.

Ich fand Herrn Scheidt beeindruckend in seiner Ruhe und Klarheit. Ich habe die Dichte und Konsistenz des Vortrags sehr genossen.

Die Psychosomatik erkundet Stess

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.12.17
Von Markus Heinrichs , Univ.-Prof. Dr. rer. nat., Lehrstuhl für Biologische u. Differentielle Psychologie, Institut für Psychologie, Uni Freiburg
„Was stresst, was schützt?“ Neue psychobiologische Perspektiven von Sport bis Berührung

Stress ist nicht nur ein Phänomen von dem immer mehr Mitmenschen eingeholt werden, er ist auch medial ständig präsent, wird problematisiert und durchleuchtet. Dabei ist Stress an sich eine durchaus sinnvolle biologische Einrichtung. Er signalisiert, dass der Organismus von den Belastungen überfordert und nicht mehr im Gleichgewicht ist. Er stellt eine erhöhte Menge an Energie im Körper bereit und er kann in Bedrohungssituationen auf eine „automatische“ Reaktion zurückgreifen.

Zuviel Stress

Erst wenn die Stressquellen nicht mehr aufhören wollen zu sprudeln wird das zum Problem. Der Gedanke: „Noch ein bisschen mehr wird schon nicht schaden“ führt unweigerlich zunächst zu einem Höhepunkt an Leistungsfähigkeit, um sich dann zwangsläufig in sein Gegenteil zu verkehren. Die Fehler nehmen zu und damit die Unzufriedenheit. Die Stimmung wird gereizt, ärgerliche Gefühle nehmen zu. Am Ende der Entwicklung entstehen psychosomatische Beschwerden.
Nahezu 60% der deutschen Mitmenschen geben an, manchmal (37%) bis häufig (20%) gestresst zu sein – am häufigsten die Sandwich Generation, die zwischen 36 – 45 Jahre alt ist. Es lässt sich ein Stadt – Land Gefälle der Betroffenen ausmachen, denn auf dem Land ist das Risiko für Stressempfinden deutlich geringer.

Stressoren

Die stärksten Stressoren sind ansonsten: Zu viel Arbeit, Termindruck und Hetze sowie Störungen bei der Arbeit. Frauen haben öfter den Eindruck, dass Stress sie in ihrem Privatleben beeinträchtigt und der Zusammenhang von Stressempfinden und vermehrten Gesundheitsbeschwerden ist statistisch eindeutig. Zu diesen Gesundheitsbeschwerden gehören eindeutig auch psychische Erkrankungen wie die Depression, deren Auftreten sich zwischen 1997 und 2012 mehr als verdoppelt hat.
Als Beispiel für den eindrücklichen Zusammenbruch zitiert Herr Heinrichs den Fußballtrainer Ralf Rangnick, der massiv unter einer Stresserkrankung gelitten hat.
Dann wird das Auditorium über die „Vermessung“ des Stress informiert. Das ist möglich mit dem „Trierer Stresstest“, der ein standardisiertes Verfahren bietet, das sozialen und körperlichen Stress berechenbar macht. Nebenbei erfahren wir auch, dass es in Freiburg eine Ambulanz für stressbedingte Erkrankungen gibt. Dort gibt es eine Stress Diagnostik und ebenso therapeutische Angebote im Einzel- und Gruppensetting.  Außerdem wird an einem Internet-basierten Verfahren geforscht, das bereits sehr positiven Ergebnisse vorweisen kann.

Was hilft gegen Stress?

Der zweite Teil des Vortrags befasst sich mit der Frage: Was vor Stress schützen kann? Grundlegend sieht es so aus, dass Menschen einen gewissen Grad an Grundanspannung aufbauen. Wenn diese eher hoch ist und die alltäglichen Belastungen von Haushalt, Arbeit, Geldsorgen, Versorgung anderer etc. noch hinzukommen, kann es leicht geschehen, dass die Schwelle zu negativen Emotionen überschritten wird. Die Balance von Anstrengung und Erholung ist aus dem Lot und nun müssten neue Maßnahmen ergriffen werden, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Methoden der Wahl sind: Körperliche Fitness, Stressmanagement und positive soziale Interaktionen.
Erforscht ist z.B. der Effekt von Ausdauersport und das Ergebnis ist eindeutig. Sportlich fitte Menschen sind widerstandsfähiger als weniger fitte.
Stressmanagement wird von Herrn Heinrichs und seinem Team mit dem Internetangebot „iCope“ erforscht. Dieses bietet ein sechswöchiges Programm an, für das die Nutzer*innen einiges tun müssen. Wenn sie es dann getan haben, schneiden sie in allen Belangen der Stressmessung deutlich besser ab als Menschen, die z.B. nur Entspannungsübungen oder gar nichts gemacht haben.

Der Superschutz gegen Stress

Der kraftvollste Schutzfaktor gegen Stress (und alle anderen Krankheiten) ist allerdings die positive soziale Interaktion. Hier kommt nun das Hormon „Oxytocin“ ins Spiel. Es aktiviert unter anderem das Belohnungszentrum im Gehirn und beruhigt die Angstreaktion.
Seit das bekannt geworden ist, wird Oxytocin als Nasenspray eingesetzt. Seine Wirkung ist gut messbar, aber es ist kein Allheilmittel, das z. B. soziale Interaktion ersetzen könnte. Immerhin erleichtert es die Anbahnung von sozialen Kontakten.
Die Schutzkraft sozialer Kontakte wurde natürlich auch schon erforscht, ebenfalls mit Hilfe des Trierer Stresstests. Dieser wurde an Probanden ohne vorherige Begleitung, mit Begleitung durch einen fremden Menschen und mit Begleitung des Lebenspartners durchgeführt. Das verblüffende Ergebnis: Männer profitieren maximal davon, wenn sie von ihrer Frau vorbereitet werden – bei Frauen hingegen erhöht sich der Stress bei diesem Setting maximal. Das Beste, was Männer für ihre Frauen tun können ist: Schweigen und ihr den Nacken und die Schultern massieren.
Es folgt noch ein kurzer Ausflug zum Thema Oxytocin und Autismus Forschung, in der sich zwar ein Effekt feststellen lässt, aber kein Durchbruch in Sicht ist.

Schlussfolgerungen und offene Fragen

Zum Abschluss räumt Herr Heinrichs ein, dass die Verhaltenstherapie bislang noch wenig auf den Körper geschaut hat und dass die Schulmedizin in weiten Teilen noch nicht das seelische Empfinden mit berücksichtigt. Auch er plädiert für das „bio-psycho-soziale Modell“, das einfach besser abbilden kann, wie Krankheit entsteht und was Gesundheit unterstützt.
Der Beifall für Herrn Heinrichs ist ausgiebig.
Die Frage, die mir offen blieb war, ob es nicht problematisch werden kann, wenn die Menschen sich an immer stressigere berufliche Situationen anpassen müssen, oder ob der Gedanken daran, den Stress am Arbeitsplatz zu verringern nicht auch einen Gedanken wert wäre. Aber das ist wohl nicht das Terrain von Psychotherapeuten und Ärzten.

Die Psychosomatik untersucht ein „kleines“ Gefühl

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 28.11.17 von Alexandra Pontzen, Univ.-Prof. Dr. phil., Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Germanistik, Universität Duisburg-Essen
„Große Gefühle – Klägliches Leiden – Literatur und Peinlichkeit“

Ich denke, jeder Mensch kennt das Gefühl der Peinlichkeit – peinlich, peinlich das Missgeschick, der falsche Satz zur unpassenden Zeit, das Vergessen, Versagen, Verloren-Haben. Ist Peinlichkeit deshalb ein großes Gefühl? Frau Pontzen stellt diese Frage an den Beginn ihres flotten und reichhaltigen Vortrags.

von Peinlichkeit wird man überfallen

Wir verspüren Peinlichkeit schmerzlich als Hitzegefühl, Erröten, Unruhe und vermeiden den Blickkontakt – allerdings: Hat die Peinlichkeit immer mit der Vorstellung eines Beobachters zu tun, der/die wahrnimmt, was wir Peinliches angestellt haben. Wir erwarten, dass wir dafür wahrscheinlich ausgelacht oder verachtet werden. In der Peinlichkeit trifft sich die persönliche Psyche mit den verinnerlichten sozialen Regeln und Erwartungen. Peinlich ist, wer sich nicht an diese ungeschriebenen Regeln hält oder halten kann.

Peinlichkeit in der Literatur

Dabei wird auch deutlich, warum ausgerechnet eine Literaturwissenschaftlerin über dieses Thema so viel zu berichten weiß, denn diese ungeschriebenen Regeln für die „feinen Unterschiede“ werden in der Wissenschaft kaum erforscht. In der Literatur hingegen werden sie ständig verarbeitet und damit explizit. Angereichert mit zahlreichen Beispielen aus der Literatur, führt uns Frau Pontzen durch verschiedene Aspekte der Peinlichkeit.

Ein wissenschaftlicher Blick auf die Peinlichkeit

Zunächst liegt es nahe, dass das Sprechen über Peinlichkeit peinlich werden kann und zwar für Sprecher*in und Zuhörer*innen. Es würde auch niemand einen langweiligen Vortrag über Humor erwarten. Also ist es hilfreich, Peinlichkeit zunächst aus wissenschaftlicher Distanz zu betrachten. Peinlich ist eine Figur der Abweichung, die aufgezeigt wird. Es geht also um ästhetisch-kommunikative Aspekte, die optisch erfasst und leiblich erlebt werden können. Dabei sind immer die persönliche Perspektive und eine (auch imaginäre) Zuschauerperspektive ineinander verschränkt.
Persönlich erleben wir peinliche Erinnerungen als nicht-steuerbar. Sie tauchen auf und beeinflussen das Erleben. Dabei neigt das Leiden an der Peinlichkeit dazu, überproportional zum Anlass aufzutrumpfen. Als Referenzen für Peinlichkeit stehen eine Reihe von binären Kategorien bereit: Gut – Böse, Schön – Hässlich, Richtig – Falsch, Üblich – Unüblich.
Anthropologisch betrachtet steht Peinlichkeit in der Reihe der Gefühle von: Schuld, Scham, Peinlichkeit, Verlegenheit. Die Reihung macht auch die Intensität der Gefühle deutlich und aus dieser Sicht ist Peinlichkeit kein „großes Gefühl“. Sie hat dennoch die Kraft, große Gefühle erheblich zu stören, wenn man sich z. B. vor dem Menschen, in den man verliebt ist, lächerlich macht, kann die Verliebtheit in Gefahr geraten.

Peinlichkeit aus der Sicht der Soziologie

Aus soziologischer Perspektive lässt sich Peinlichkeit als Kulturleistung sehen. Die Kulturen schaffen es, ihre Normen und Werte in die Psyche der Individuen zu transportieren – ob dies eher eine nach innen verlegte Sozialangst und Gerichtsbarkeit ist, wie Norbert Elias das sieht, oder die Kultur der „feinen Unterschiede“ wie Pierre Bourdieu sie konzipiert hat oder die Verletzung der „vorgestellten idealen Situation“ wie Erving Goffman theoretisiert. Peinlichkeit ermöglicht Skandale zu vermeiden, was sie wiederum zu einer Qualität macht.

Peinlichkeit und Ethnologie

Auch ethnologisch gibt es Betrachtungen zur Peinlichkeit z.B. die Unterscheidung in Schuld- und Schamkulturen. In den einen wird auf äußere Sanktionen gegen Abweichungen reagiert und in den anderen mit inneren. Eine andere Unterscheidung wäre Peinlichkeits- vs. Lächerlichkeitskulturen. Hier ist die Leitdifferenz die Perspektive der Zeugen der Peinlichkeit und deren Schmerz über die peinliche Situation. Lächerlichkeit führt zum Kulturausschluss, denn ein Mensch macht sich unmöglich. Hier finden sich auch Bezüge zum Fremdschämen.

Peinlichkeit und Psychologie

Psychisch ist Peinlichkeit eine Art von Bewusstseinsverdoppelung. Das Bewusstsein erlebt sich und beobachtet zugleich das Erlebte aus einer imaginären Position (wem das bewusst wird, verdreifacht sich das sogar). Im Erleben bzw. im Vorstellen der Peinlichkeit verliert die Zeit ihren üblichen Verlauf. Die Vorstellung reicht in die Zukunft, evtl. bis in eine ferne Zukunft, in der immer noch die Peinlichkeit von heute erinnert wird. Peinlichkeit ist so betrachtet auch ein selbsterzeugtes (poietisches) Gefühl. Indem ich im Geist die Zuschauerperspektive aufrufe, entsteht die Peinlichkeit. Eine Form kreativer Einbildungskraft.

Am Ende gibt es noch einen kurzen Streifzug durch die Literatur mit vielen Beispielen zum Thema.
Das Dienstagskolloquium bietet immer wieder Perspektiven, die nicht aus Medizin oder Psychologie kommen und wie fast immer, war auch dieser Beitrag eine große Bereicherung für mich. Peinlichkeit scheint eine Übergangsmöglichkeit vom persönlichen Erleben in den sozialen Raum zu sein. Oder anders ausgedrückt – was uns peinlich ist, gibt uns Auskunft darüber, welche sozialen Normen wir verinnerlicht haben.

Die Psychosomatik erkundet Yoga

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
vom14.11.17 „Yoga meets Neuroscience: Warum und wie yogische Praxis das Gehirn verändert“ von Joachim Bauer Dr. Prof. em. Freiburg/Berlin

Joachim Bauer füllt das Audimax bis über seine Kapazität hinaus. Er berichtet zunächst von seinem eigenen Zugang zu Yoga, der ihm von seiner Frau und seiner Tochter nahegebracht wurde. Wie aus dieser positiven Erfahrung sein Forscherwille geweckt worden ist und wie er sich auf die Suche nach empirischen Beweisen für diese positive Erfahrung gemacht hat.

Was ist Yoga?

Er stellt uns kurz die Element des Yoga dar – Haltungen, Atemübungen, Konzentrations- und Meditationstechniken und Mantras. Diese Zusammenstellung begünstigt die Zentrierung des „Selbst“ im Körper.

Was macht Yoga im Gehirn?

Die neurologischen Korrelate des „Selbst“ im Stirnhirn sind verbunden mit Bereichen, in denen der Körper kartiert ist (Insula) und weiter mit den vegetativen Bereichen, die für Stress (Hypothalamus) und grundlegende Lebensfunktionen (Hirnstamm) zuständig sind.
Als Beleg führt Herr Bauer dann mehrere Studien an, die beweisen, dass Yoga Praxis die Masse der „grauen Substanz“ (das sind die Zellkörper) in diesen Bereichen vermehrt und dass sich die Schmerzwahrnehmung verringert, bzw. die Kontrolle darüber vermehrt wird.

Haltung und Lebenshaltung

Weiter geht dir Reise zum „inneren Arzt“. Hierzu dient die Studie von Cole et al, die untersucht hat, wie die Haltung zum Leben – die Philosophie gewissermaßen – auf den biologischen Menschen wirkt. Untersucht wurden „hedonistische Menschen“, die eine Laissez-faire Haltung pflegen und schnellen Lustgewinn anstreben und „eudaimonische Menschen“, die nach eine sinngeleiteten Leben streben, achtsam und fürsorglich mit sich und ihren Mitmenschen umgehen. Die Ergebnisse der Studie sind erstaunlich. Es finden sich „epigenetische Effekte“, also solche, die auf die Genaktivität einwirken. Aber auch ein verbessertes Blutbild und andere positive Auswirkungen.

Nicht nur Yoga wirkt

Dann gibt es eine Untersuchung über die „Macht der Worte“. Sie zeigt, dass die Zuschreibungen, die uns gegenüber ausgesprochen werden, deutlich verschiedene Reaktionen im „Selbst-System“ des Gehirns auslösen, je nachdem ob wir etwas Nettes oder etwas weniger Nettes hören.
Es gibt auch eine große Metastudie (eine Studie, die viele andere Studien zusammenfasst), die die positiven Effekte von Yoga deutlich beweisen kann. Es gibt kaum ein Körpersystem, das nicht positiv beeinflusst wurde: Hormonsystem, Vegetatives Nervensystem, Herz-Kreislauf-System, Antioxidantien, Entzündungsprozesse, Demenz Prophylaxe und bei spezifischen Krankheiten wie Fatigue (Erschöpfung) nach Krebstherapie, Herzinsuffizienz, Risikoschwangerschaft, Adipositas bis hin zu den psychischen Erkrankungen sowohl im neurotischen als auch im psychotischen Formenkreis.

Herr Bauer ist einer der fleißigsten Sammler solcher und ähnlicher Studien, die starke Hinweise darauf liefern, dass der beseelte Körper, der Leib, sehr eng mit unseren Kognitionen und unseren sozialen Umgebung verbunden ist. Eines wirkt ins andere hinein – eben bio-psycho-sozial. Die Körperpsychotherapie, die schon lange so ein ganzheitliches Menschenbild pflegt, ist Herrn Bauer zutiefst dankbar für seine hervorragende Arbeit.

Die Psychosomatik entdeckt die Synchronie

Spiegelung als perfekte Synchronie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 07.11.17
Verkörperte Kommunikation: Nonverbale Synchronie in sozialer Interaktion
von Wolfgang Tschacher (Univ.-Prof. Dr. phil., Universitätsklinik für Psychiatrie, Bern)

Herr Tschacher leitete seinen Vortrag mit neuen Grundsatzfragen der Psychologie ein – der Frage nach der Reichweite der Computermetapher und der Frage nach dem Thema „Embodiment“ – Verkörperung.

Was bedeutet Verkörperung?

Seine Herangehensweise an die Fragestellung der Verkörperung stellt er als systemisch, bzw. synergistisch vor. Das bedeutet, einen Blickwinkel einzunehmen, der Strukturen darauf untersucht, wie sie durch Selbstorganisation entstanden sein können. Selbstorganisation sieht er dabei als eine spontane Vereinfachung von komplexen, bzw. chaotischen Dynamiken.
Systemisch bedeutet auch, dass die übliche, lineare Kausalität zugunsten einer zirkulären Kausalität aufgegeben wird. So kommt er zu einem ersten Zirkel, der Geist und Körper verbindet – also der Geist wirkt auf den Körper (traurige Stimmung > gebeugte Haltung); und genauso wirkt der Körper auf den Geist (gebeugte Haltung > traurige Stimmung).
Ein zweiter Kausalzirkel ergibt sich aus der sozialen Umgebung, die auf Körper und Geist rückwirkt, die wiederum in die soziale Umgebung rückwirken können.

Die Körpersemantik

Auf den Menschen angewendet bedeutet das, dass der Körperraum emotional, mental und sozial „besetzt“ ist – das psychische Erfahrungen in mehreren Ebenen verkörpert sind, und dass der Körper auch kognitive Bedeutungen trägt – z.B. im Koordinatensystem von Oben (auf) oder Unten (down); Links (linkisch) und Recht (richtig); Vorne (Zukunft) und Hinten (Vergangenheit).
Solche Befunde werden immer häufiger erbracht. Aber nicht nur, dass im Einzelmenschen Körper/Geist/Umfeld in beide Richtungen miteinander verschränkt sind, diese Verschränkung findet auch zwischenmenschlich statt und hat dann die Form von Synchronisierung (soziale Synchronie). Und genau zu diesem Thema forscht Herr Tschacher in Bern.

Soziale Verkörperung

Er stellt seine Forschungsinstrumente dazu vor und erläutert die Befunde.
1. Synchronie ist vorhanden
2. Sie ist abhängig von der gestellten Aufgabe – Wettbewerb, Kooperation, Spaß
3. Sie ist abhängig von der Stimmung
Weiter: wird stattfindende Synchronie positiv empfunden und die Psyche kann als Spiegel des Körpers betrachtet werden; und Synchronie, die ohne Worte stattfindet ist für zwischenmenschliche Begegnungen charakteristisch, die Stimmung darin wird durch die gemeinsamen Bewegungen verkörpert.

Die Rolle der Zeit

Die Zeiterfahrung in einer Synchronie Situation verändert sich. So ist das empfundene „Jetzt“ in der Synchronie etwas sechs Sekunden lang, hingegen bei einem Menschen der alleine ist, nur drei Sekunden.
In Bern wird auch die Relevanz der Synchronie für die Psychotherapie erforscht und die Ergebnisse zeigen, dass sie sehr bedeutend für den Therapieerfolg ist. Wenn eine gute therapeutische Allianz vorliegt findet Synchronie statt und die Erfolgsaussichten steigen an. Das geschieht nicht, wenn sie vermindert ist.
Es spielt sogar eine Rolle, welche Körperteile in Synchronie gehen. Eine hohe Synchronie der Kopfbewegungen spricht für gute Erfolgsaussichten der gesamten Therapie. Synchronie des Torsos und der Beine für einen gutes Ergebnis einer Stunde.

Synchronie und Bindung

Menschen mit vermeidendem Bindungsmuster und solche, die zwischenmenschlich eher kalt sind, können am wenigsten von Synchronie profitieren.
Auch in der Psychotherapie der Psychosen gibt es Forschung zu Synchronie und es gibt auch noch einen kurzen Ausflug in die Kommunikationspsychologie.
Synchronie findet weitgehend unbewusst statt. Beim Versuch, sie absichtlich zu produzieren entsteht die Gefahr, dass das Gegenüber sich nachgeäfft fühlt. Eine wache, präsente Haltung des/der Therapeut*in ist der beste Garant für gelingende Synchronie.
Zum Abschluss stellt uns Herr Tschacher noch seine Gedanken über die philosophischen Konsequenzen seiner Forschung vor – er plädiert für eine „Duale Aspekt Theorie“ zur Lösung des Leib-Seele Problems – auch Kant-Fans werden darüber erfreut sein.

Als Körperpsychotherapeut bin ich sehr darüber erfreut, dass viele Aspekte, die in der KPT seit langem gang und gäbe sind, nun auch wissenschaftliche Weihen bekommen.