Kriegsenkel

Kriegsenkel

– oder der lange Schatten des großen Kriegs

Nicht wenige Autoren betrachten den Verlauf des letzten Jahrhunderts als die Zeit eines „Großen Kriegs“. Beginnend mit dem ersten Weltkrieg 1914 und endend erst mit der Auflösung der Sowjetunion 1989. Das wären 75 Jahre Krieg gewesen, ein dreiviertel des letzten Jahrhunderts mit Abermillionen Toten und beispiellosen Verbrechen. Zurück blieben die Überlebenden und Nachfahren von Tätern, Mitläufern und Opfern sowohl auf Sieger- als auch auf Verliererseite.
Dass in Kriegen traumatische Erfahrungen gemacht werden können, die lange nachwirken, ist spätestens seit dem Vietnamkrieg belegt. Dass traumatische Erfahrungen auch auf die Folgegenerationen wirken können, erschien als These immer plausibel, inzwischen gilt auch dieser Umstand als gesichert.
Deutsche Kriegskinder und –Enkel müssen nicht nur mit ihren persönlichen Traumen und Verlusten leben, sondern auch mit der Scham des Verlierers und der kollektiven Schuld an den Verbrechen des Nazi Regimes. Was zählt schon das familiäre oder persönliche Leid angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten?

Die Traumen der Kriegskinder

Aus der Perspektive des „Großen Kriegs“ waren die Kriegskinder von heute wohl nicht selten ebenfalls schon Kriegsenkel. Ihre Eltern hatten z. T. schon den ersten Weltkrieg als Kinder erleben müssen. Und auch falls das nicht der Fall war, gab es schon vor dem Faschismus eine „Schwarze Pädagogik“, die darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder zu brechen, um sie zu gehorsamen Wesen zuzurichten.
Auch diejenigen Kriegskinder, die diese Vorbelastung nicht trugen, wurden von faschistischen Erziehungsidealen berührt, erlebten Verluste, mussten fliehen, erlebten sexuelle Gewalt, wurden ausgebombt, standen hungrig und frierend in den Trümmern ihrer Heimat oder hatten ihre Heimat ganz verloren.
Dazu mussten sie lernen anzuerkennen, dass Deutschland nicht nur den Krieg verloren, sondern auch noch ein Jahrtausendverbrechen verübt hatte. Diese Ausgangssituation ließ wenig Entwicklungsspielraum zu. Befindlichkeiten durften keine Rolle spielen angesichts der alltäglichen Herausforderungen des Weiterlebens nach dem Krieg. In großem Umfang mussten die Verletzungen, Verluste und Traumen verdrängt, verleugnet und abgespalten werden.
Nicht erst mit dem Beginn des Wirtschaftswunders wurden die Schrecken der Kindheit mit Arbeit zugedeckt. Aber ab den fünfziger Jahren stand zusätzlich noch der Konsum als Pflaster zur Verfügung. Die Zeit des Mangels hatte ein Ende und der fromme Wunsch, dass damit die Vergangenheit vorbei sei, war weit verbreitet. In der wachsenden Sicherheit wurden viele Familien gegründet, in denen bald auch Kinder zur Welt kamen.

Die Kindheit der Kriegsenkel

Die allermeisten jungen Eltern wollten sicher das Beste für ihre Kinder. Leider wussten damals viele junge Eltern nicht, wie das zu vermitteln gewesen wäre. Die Variationen von Eltern-Kind Beziehungen sind unüberschaubar. Aber einige typische Rahmen Geschichten lassen sich skizzieren.

Traumatische Belastungsstörung

Ein (oder beide) Elternteile leidet unter einer (in der Regel unentdeckten) Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie können die körperliche Versorgung hinreichend bis gut leisten, die emotionale Versorgung ist hingegen eher problematisch. Körperliche Nähe und Schutz zu bieten fällt solchen Eltern schwer. Trost spenden, Ermutigungen aussprechen, mit Ärger und Trotz des Kindes umgehen zu können sind Interaktionen, die entweder eingefroren sind oder niemals selbst erfahren wurden.
Das Kind beobachtet sonderbares Verhalten, geistige Abwesenheit, emotionale Leere oder überbordende Emotionen bis hin zu Gewaltausbrüchen. Die Fähigkeit zu emotionaler Resonanz ist zumindest eingeschränkt, und nicht selten kommt noch eine Alkohol- oder sonstige Abhängigkeit ins Spiel.
Viele Betroffene sind nicht in der Lage, ihren Kindern Halt oder Orientierung zu vermitteln.
Wenn das ältere Kind die Vergangenheit anspricht, bekommt es entweder gar keine Antwort, die immer selben Geschichten oder einen völlig emotionslos vorgetragenen Bericht.
Die Kinder finden häufig die Lösung darin, sich selbst für das Geschehen schuldig zu fühlen. Ebenfalls recht häufig beginnen sie ihre Eltern zu beeltern, übernehmen Verantwortung nicht nur für den Haushalt, sondern sogar für die Stimmungen der Eltern oder des Elternteils. Dies ist ggfls. die Wiederholung des Elternschicksals – keine angemessene Kindheit durchleben zu können.

Gering integrierte Ich-Struktur

Ein (oder beide) Elternteile haben teilweise gering integrierte Ich-Strukturen. Ich-Strukturen werden wesentlich während der ersten sechs Lebensjahre ausgebildet. Dazu zählen die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung, die Fähigkeit andere Menschen mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen wahrzunehmen, die Fähigkeiten zu kommunizieren, das psychische Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können und die Fähigkeiten zur Bindung.
Auch wenn die Ich-Strukturen brüchig sind, gelingt den Betroffenen meist mit der Zeit eine Art von Organisation. Diese Organisation hat die Eigenart, dass sie sehr rigide erscheint, keine Abweichung von einem Sollwert tolerieren kann, einiges aus der Wahrnehmung ausschließt und als einzige Möglichkeit überhaupt zählt, wie das Leben zu bewältigen sei. Je nach Ausprägung sind die Eltern nicht oder nur schwer dazu in der Lage, ihren Kindern ein Beziehungsangebot zu machen, das die Entwicklung von Ich-Strukturen fördern würde.
Je nach Strukturbereich fühlen sich die Kinder unsicher im eigenen Körper, können z.B. seine Freuden nicht genießen; haben Schwierigkeiten damit, andere Meinungen und Ansichten wahrzunehmen und gelten zu lassen; weiter fällt die Impulskontrolle schwer und/oder sie können sich nur schwer selbst beruhigen; häufig fällt es schwer, Beziehungen und Bindungen einzugehen; und sich angemessen kommunikativ zu verhalten. Begleitet ist dieses Selbsterleben häufig mit einem mehr oder weniger subtilen Schuldgefühl oder gar der Hypothese, kein Recht zur Existenz zu besitzen.
Solche Einschränkungen schlagen auf den Selbstwert, auf die Selbstwirksamkeit und damit auf die Lebensqualität durch. Als Jugendliche fühlen viele sich einsam und fremd auf der Welt, haben vielleicht den Eindruck auf dem falschen Planeten geboren zu sein. Die Suche nach einer passenden Identität kann sich schwierig gestalten.

Großeltern als Täter*innen

Die Großeltern oder Familienangehörigen waren NS Täter*innen oder haben mit dem System sympathisiert. Die Eltern sind meist unbewusst in die Schuld und Scham der Großeltern verstrickt. Es gibt einen niemals benannten und doch immer fühlbaren Bereich eines Tabus. Was versteckt wurde soll für immer verborgen bleiben, auch nicht durch Kinder oder Kindeskinder ausgeplaudert werden. In dieser Konstellation gerät das Leben zur Fassade. Alle sollen glücklich aussehen, Gutes tun und niemals die Beherrschung verlieren.
So eine Atmosphäre ist eine große Herausforderung für ein heranwachsendes Kind. Es erlebt häufig eine Dissonanz zwischen seiner Wahrnehmung einer Situation und deren Erklärung durch die Eltern. Nichts scheint so zu sein, wie es sich anfühlt. Besonders Gefühlswertungen werden maskiert, wegrationalisiert und ein häufiger Satz lautet: „Das bildest Du Dir nur ein.“ Die Enkel haben kaum eine Wahl, sie müssen sich auf diese Welterklärungen einstellen und allmählich gewöhnen sie sich auch daran und höchstens ein subtiles Unbehagen bleibt erhalten.

Großeltern als Opfer

Großeltern oder Familienangehörige gehören zu den Opfern des NS-Regimes. Diese Konstellation kann ebenfalls in ein Tabu Szenario führen. Ein anderer möglicher Weg liegt darin, den Kindern, bzw. Enkeln den Auftrag zu erteilen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Kampf um die Anerkennung des erlittenen Unrechts, evtl. Entschädigung und Wiedergutmachung zu fordern bis dahin Rache zu üben. Diese Aufträge werden zu einem so frühen Zeitpunkt des Lebens empfangen, dass sie einerseits nicht abgelehnt werden können und andererseits eine absolute Überforderung darstellen.
Der unmöglich zu erreichende Erfolg führt in Richtung Überforderung und Minderwertigkeitsgefühl. Egal was erreicht wird, es ist nie genug und daran fühlen sich die Betroffenen schuldig.

Rebellion oder Anpassung

Wie gingen die Kriegsenkel mit ihrer Situation um? Auch hier sind die Möglichkeiten zahlreich und unüberschaubar, aber auf eine Achse zwischen Unterwerfung, Kapitulation und Anpassung zu Widerstand, Trotz und Rebellion lassen sich wohl viele der Lösungen unterbringen. Beide Richtungen bewirken Verdienste und kosten einen Preis. Die Anpassung sorgt für Ruhe, unterwirft sich der herrschenden Strömung und kann mit wenig Aufwand im Strom mitschwimmen und erfolgreich sein. Der Preis dafür mag in der Aufgabe des eigenen Impulses liegen, im Verzicht darauf, eine eigene Position zu entwickeln und einen eigenen Sinn zu finden.
Diesen Eigensinn bewahren die Rebellen. Der Preis, den Rebell*innen zu zahlen gewärtig sein müssen, ist, dass es schwierig wird, sich in soziale Strukturen einzubringen, mit Autoritäten zurechtzukommen, sich in übergeordnete Sinnstrukturen einzubringen und es womöglich schwer damit haben, im sozialen Feld erfolgreich zu sein.

Was bringt eine Gesprächsgruppe?

Kriegsenkel sind aktuell zwischen fünfzig und fünfundsechzig Jahre alt. Sie haben ihre Leben bis hierher gemeistert, haben Berufe erlernt und üben sie noch aus, haben Beziehungen geführt und führen sie noch immer, Kinder wurden groß gezogen und die großen und kleinen Dramen eines Menschenlebens wurden kennengelernt.
Manche von ihnen kennen ungute Gefühle, kennen Situationen, die sie mit aller Kraft vermeiden wollen, kennen vielleicht auch Orte von Schmerz, von Unsicherheit, Angst, Scham oder Hass. In der Regel Gefühle, die nur oberflächlich erklärt werden können. Andere kennen auch hartnäckigere Störungen der Befindlichkeit, die in ihrer Ausprägung verschieden sein können, aber einen wiederkehrenden Charakter aufweisen.
Ein Grund dafür können die oben geschilderten Belastungen sein. Die Probleme, die in der Kindheit aufgenommen wurden, wurden immer nur abgewehrt und verdrängt, aber niemals bewusst gemacht und bearbeitet. Nicht selten gibt es so etwas wie ein Sprechverbot für schwierige Themen – nicht sprechen dürfen wird zu nicht sprechen können über das, was belastet. Die Erfahrung von kommunikativer Leere und emotionalem Vakuum sind wohl typisch für Kriegsenkelgeschichten.
Eine Gruppe bietet einen speziellen, geschützten Raum zum Sprechen an. Eine Gesprächsgruppe bietet eine Gelegenheit, der Sprachlosigkeit zu entrinnen, die Möglichkeit die eigene Geschichte erzählend kennenzulernen, und die fehlenden oder unklaren Teile davon zu identifizieren und auf diese Art Kohärenz und Verständnis für sich zu finden.

Wozu therapeutische Begleitung?

Betroffene Kriegsenkel*innen fühlen sich teilweise sehr verletzlich und je nach Geschichte können die mit ihr verbundenen Gefühle sehr heftig sein. Eine therapeutische Begleitung strukturiert und moderiert die Begegnung so, dass sie Schutz und Halt bieten kann.
Ein therapeutischer Blick kann auch dabei helfen, Verbindungen zu entdecken, Zusammenhänge zu sehen, die dem Erleben einen neuen Sinn geben, und so auch neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können.

Die Psychosomatik philosophiert über Empathie

Empathie und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.06.18 Von Prof. Dr. phil. Thiemo Breyer: „Empathie – Grundlagenforschung und ethische Konsequenzen“

Herr Breyer möchte uns einen Einblick in die Komplexität des Empathie Begriffs geben. Empathie ist gewissermaßen das Thema der Stunde in Psychologie, Psychotherapie, Soziologie und auch der Philosophie. Diskutiert wird sowohl darüber, was Empathie ist, wie sie zustande kommt, was das jeweils bedeuten kann und ob sich daraus ethische Konsequenzen ziehen lassen.

Einführung

Zum Einstieg erzählt uns Herr Breyer eine kleine Geschichte, die als Vignette für Empathie Themen dienen soll.

Nach einem frustrierenden Arbeitstag kommt ein Mann mürrisch auf eine Geburtstagsparty. Die festlich heitere Stimmung dort steckt ihn an und seine Frustration verschwindet – er freut sich mit seinem Freund, der Geburtstag hat. Dann wird auch noch gemeinsam das Geburtstagslied gesungen. Dabei fällt dem Gast auf, dass ein anderer Gast nicht mitsingt. Er spekuliert über die Gründe, für dieses Verhalten. Ist der Nicht-Sänger schüchtern, hat er schlechte Laune, kann er vielleicht nicht singen? Aber in diesem Moment beginnt ein schon angetrunkener Gast an, in sehr schräger Tonlage mitzusingen. Einige Gäste fangen an zu kichern und der Mann bekommt selbst auch einen kaum zu beruhigenden Kicheranfall. Dabei sieht er, dass die Gastgeberin offenbar betroffen über das Verhalten des Betrunkenen ist. Er schämt sich ein wenig für diesen und überlegt, ob er die Gastgeberin trösten soll.

Merkmale von Empathie

Aus dieser Geschichte lassen sich typische, für die Empathie relevante, Phänomene betrachten:

  1. Die affektive Resonanz, die in Stimmungen und Atmosphären auftritt
  1. Das Ausdrucksverstehen, die Mitfreude an der Freude des Jubilars
  1. Die leibliche Synchronisation, das gemeinsame Singen
  1. Die Mentalisierung, das Nachdenken über Gründe von anderen
  1. Die Gefühlsansteckung, unwillkürliches Mitkichern
  1. Die stellvertretende Emotion, die Fremdscham für den Betrunkenen
  1. Die Simulation, imaginatives Hineinversetzen in die Gastgeberin

Diese Dimensionen von Empathie lassen sich kategorisieren als:

leiblich-körperliche

  • Resonant (Synchronisierung)
  • Expressiv (Ausdrucksverstehen)

affektiv-emotionale

  • Partizipierend (Mitfreude, Mitleid)
  • Stellvertretend (Fremdscham)
  • Invertierend (Schadenfreude, Neid)

kognitive

  • Inferentiell (Theoretisierung)
  • Imaginativ (Transposition)

Theorien zur Empathie

Dieses breite Spektrum von Empathie wird von den wenigsten Theorien eingefangen. Die meisten gängigen Theorien versuchen, sie aus einem Teil des Spektrums abzuleiten und so zu erklären. Es gibt Theorien zu angeborenem bzw. erlerntem Empathie Verhalten. Dann gibt es Simulationstheorien, die neuronale oder imaginative Prozesse bevorzugen. Eine weitere Möglichkeit spielen Phänomenologische Theorien, die sich auf Zwischenleiblichkeit und Expressivität stützen. Ganz aktuell sind Narratologische Theorien sehr beliebt, die auf explizite Erzählungen oder narrativen Erfahrungen setzen.

Herr Breyer versucht auf phänomenologischem Weg (als wie die Dinge von sich her erscheinen) auf den Grund zu kommen. Dazu beschreibt er zunächst die Grenzen von empathischen Dimensionen er benennt diese folgendermaßen:

  • Die leibliche-körperliche Dimension findet ihre Grenzen in der Resonanzfähigkeit, und der Vertrautheit mit dem Ausdruckssinn
  • In der affektive-emotionalen Dimension bestehen Grenzen im Gemütszustand, der Haltung und der Verbundenheit.
  • In der kognitiven Dimension schließlich werden Grenzen durch die Lebenserfahrung, die Vorstellungskraft und das Denkvermögen gesetzt.

Empathie und Ethik

Damit kommt Herr Breyer zum zweiten Teil seines Vortrags, dem ethischen Diskurs.

Er fragt danach, wie äußere Faktoren die Grenzen der Empathie mit beeinflussen oder gar stören können. Als Beispiel nennt er totalitäre Religionssysteme, die auch ein affektives Regime ausbilden. Wie kann unter solchen Umständen die Empathie wachgehalten werden, wenn so starke Einflüsse auf sie einwirken.

Mögliche Einflüsse gibt es zahlreiche. So können Wissens- oder Glaubensinhalte (kognitive Ebene) auf die Mitleidsfähigkeit einwirken; Mimische oder gestische Synchronie (leiblich-körperliche Ebene) können das Mitgefühl und die Kommunikationsbereitschaft beeinflussen; ebenso können extreme Gefühle die Urteilsfähigkeit trüben – usw. usf.

Empathie und Philosophie

Es folgt ein Ausflug in die Philosophiegeschichte und diese beginnt mit den Erwägungen aus Max Schelers Werk: „Wesen und Formen der Sympathie“. Darin benennt Scheler vier Dimensionen von affektiv-emotionaler Empathie.

  • Die Gefühlsansteckung (dyadisch bis massenhaft)
  • Das Nachfühlen (Verstehen ohne Mitfühlen)
  • Das Mitfühlen (Teilen des Gefühls des Anderen)
  • Die Liebe und der Hass („geistige Gefühle“)

Natürlich hatte Scheler viele Vorgänger, die sich mit dem Thema befasst haben. Wir erfahren von Immanuel Kant, der in Mitfreude und Mitleid zwar sinnliche Gefühle sieht, diese aber so verwendet wissen will, dass sie zur Pflicht der Mitmenschlichkeit verwendet werden.

Arthur Schopenhauer, gewissermaßen der deutsche Pionier der Mitleidsethik, sieht im Mitleid bereits den Impuls zu helfen am Werk. Er möchte Mitleid als „wirkliche Basis“ von „freier Gerechtigkeit und echter Menschenliebe“ definieren.

Empathie im sozialen Sinn wurde von J.J. Rousseau betrachtet und sein ernüchternder Befund ist, dass das Mitgefühl mit der Entfernung abnimmt. Wohingegen Aristoteles feststellte, dass Leiden, das uns zu nahekommt, ebenfalls dem Mitgefühl abträglich sei. Aristoteles sieht im Mitgefühl eine Art Schmerz.

Eine andere Variante kommt aus der Stoa. Deren Vertreter Cicero befürwortet eine kühle Variante von Mitleid – natürlich ist es gut, den Leidenden zu helfen, aber mit-Leiden würde das Leid nur vergrößern und das erscheint unvernünftig.

Neuere Philosophie

Max Scheler kommt noch einmal zum Zuge. Er kam zu der Einsicht, dass Mitgefühl in all seinen Formen „prinzipiell wertblind“ ist, denn man könnte ja auch Mitfreude mit jemandem haben, der sich an seiner Bosheit erfreut.

Die zeitgenössische Forschung von z.B. Michael Tomasello versucht zu zeigen, dass Mitgefühl und Altruismus evolutionäre Entwicklungen und damit angeboren sind. Als Beleg sehen wir einen kleinen Film, in dem sehr kleine Kinder ziemlich tollpatschigen Erwachsenen spontan zur Hilfe kommen.

Die amerikanische Philosophin Marta Nussbaum stellt ernüchternd fest, dass Empathie zum Guten oder zum Bösen verwendet werden kann. Ihr Beispiel ist der Folterknecht, der sich seines Mitgefühls bedient, um möglichst große Schmerzen zuzufügen.

Empathie und Kognitionswissenschaft

Einen anderen kritischen Aspekt von Empathie sieht Fritz Breithaupt. Er stellt fest, dass mit der Empathie eine Parteinahme erfolgt, die durch Erzählstrategien legitimiert wird. Die Formen dieser Parteinahme können strategisch dem Eigennutz dienen. Das kann z.B. judikativ erfolgen, mit einer Beurteilung darüber ,wer Recht hat. Es funktioniert aber auch selbst-reflexiv, indem die eigene Position begründet wird. Dies führt ihn zu der Theorie, dass ein Mechanismus der Narration Empathie erlaubt und auch, dass Narration nur auf der Basis einer entwickelten Empathie Fähigkeit möglich ist.

Breithaupt hat auch sog. Empathie Blockaden erforscht. Er stellt fest, dass nicht alle Menschen auf narrative Empathie Angebote eingehen. Dies ist vom Bildungsgrad und der persönlichen Erfahrung abhängig. Weitere Einflüsse bestehen in der Situationsbedingtheit, z.B. in Schuldzuweisungen, sonstigen Attributionen und Gruppenzugehörigkeiten.

Strategien um Empathie Blockaden zu rechtfertigen wären z.B. die Rückwendung der Empathie auf sich selbst: >Ich habe so gelitten, als ich dieses Unrecht begehen musste< oder noch perfider, die Strategie der Dehumanisierung des Anderen: >das ist gar kein richtiger Mensch<. Damit kommt Herr Breyer zum Resümee seines Vortrags.

Fazit

  • Es gibt eine Vielzahl von Empathie Konzepten und –Definitionen
  • Die phänomenologische Struktur von Empathie ist leiblich, affektiv und kognitiv
  • Auf jeder Ebene kann Empathie auch begrenzt sein
  • Es gibt eine Vielzahl von Bewertungen von Empathie in ethisch-moralischer Hinsicht (positiv wie negativ)
  • Es gibt relevante Wechselwirkungen zwischen den Ebenen
  • Relevant ist auch der Umgang mit Empathie
  • Es lässt sich ein antagonistisches Wechselspiel von prosozialen und antisozialen, altruistischen und egoistischen Tendenzen feststellen
  • Empathie entwickelt ihr Sein in einem Spannungsfeld von kooperativen und kompetitiven Strategien
  • Es gibt eine Strukturanalogie zwischen dem ethischen Problem der Empathie und der menschlichen Freiheit allgemein
  • Empathie zu kultivieren ist eine mögliche Emanzipation. Perspektivenflexibilität istr besser als Solipsismus.

Am Ende des Vortrags fühle ich mich etwas erschlagen von der Fülle von Informationen.

Die Psychosomatik erkundet das Zuhören

Tiefes Zuhören als Intervention

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 15.05.18
Von Prof. Tilman Habermas: „Die Rolle des Zuhörers beim Erzählen: Eltern und Therapeuten“

Herr Habermas gehört der seltenen Spezies „Professor für Psychoanalyse“ an. Sein Vortrag soll allerdings weniger psychoanalytisch als vielmehr psychologischer Art sein. Er interessiert sich und forscht schon seit längerer Zeit über das Erzählen – insbesondere über Lebenserzählungen, mit deren Hilfe Menschen ihre Identität formen. Von der monologisierenden Form ist er inzwischen zur dialogischen fortgeschritten und nun forscht er seit neuestem über die Rolle des Zuhörers beim Erzählen.

Was ist eine Erzählung?

Herr Habermas stellt uns zunächst vor, was eine Erzählung ausmacht. Dazu erinnert er daran, dass Erzählungen etwas Alltägliches sind, dass sie ständig stattfinden und dabei auch verschiedene Funktionen erfüllen. Auf individueller Ebene bringt man seine Mitmenschen auf den neuesten Stand, was die eigenen Erlebnisse betrifft, sucht aber auch nach Teilhabe an den emotionalen Aspekten der Erzählung. Auf kollektiver Ebene geht es um kollektive Identitäten von Familiengeschichten, Firmengeschichten, bis hin zu nationalen Epen der Staatsgründung. Immer geht es dabei darum, eine gemeinsame Realität herzustellen. Aber Geschichten dienen auch der Unterhaltung, denn sie können die Zuhörer etwas lehren, können aber auch zu etwas verführen und von etwas überzeugen. Erzählungen dienen der Selbstdarstellung, sowie der Erklärung menschlichen Verhaltens, das sie rechtfertigen oder entschuldigen wollen.
Weiter besitzen Erzählungen eine innere Struktur, die einen strikten zeitlichen Ablauf aufweist, in dem nichts vertauscht werden darf. Außerdem gehört zu einer Erzählung eine Bewertung über das Erzählte. Erzählt werden in der Regel nur außergewöhnliche Vorkommnisse und zwar in folgender Reihenfolge. Zunächst kommt eine Ankündigung, dass nun etwas erzählt werde. Dann wird kurz der Hintergrund und der Kontext erläutert, darauf folgt die eigentliche Geschichte mit ihrer Komplikation. Weiter geht es mit den Handlungen, die daraufhin ausgeführt werden. Schließlich folgt das happy oder unhappy-end. Das Ende der Erzählung besteht dann meist aus „der Moral von der Geschichte“.

Die Rolle des Zuhörers

Welche Rolle spielen Zuhörer bei so einer Erzählung? Zunächst muss vereinbart werden, dass der/die Erzähler*in nun etwas erzählen darf. Der Erzähler darf nun seinerseits Interesse an seiner Erzählung erwarten. Dies wird durch Blickkontakt, Hmm-Lauten, Nicken und ähnliche Zeichen signalisiert. Zum Ende der Erzählung wird der/die Zuhörer*in einzelne Worte wiederholen, seine Bewertungen benennen (krass ey!) und evtl. mit einer eigenen, ähnlichen Geschichte aufwarten.
Eine spezielle Form der Erzählung ist die, des Sich-Anvertrauens mit einem Problem. Hier lässt sich ein Anteilnahme Muster erwarten. Die Zuhörer drücken aus, dass sie das Erzählte ebenfalls ungewöhnlich finden und dass sie dem Erzähler Glauben schenken. Sie bringen ihr Mitgefühl zum Ausdruck und explorieren die Erzählung weiter, sie trösten der Erzähler, zeigen sich solidarisch mit ihm/ihr und warten häufig mit Ratschlägen auf. Dabei gilt die Regel, dass je schwerwiegender das erzählte Ereignis war, sich die Zuhörer umso mehr zurückhalten.

Zuhörer gestalten Geschichten mit

Herr Habermas kommt nun zu seiner Kernthese, die lautet: „Zuhörende haben eine zwar wichtige, aber recht passive Rolle beim Erzählen. Es gibt jedoch Situationen, in denen sie eine wesentlich aktivere Rolle spielen. Und darunter sind sehr spezielle Situationen, in denen Zuhörende aktiv nicht nur die Geschichte mit-erzählen und verändern, sondern auch die Person des Erzählenden formen, indem sie aktiv zuhören und mit erzählen.“ Zwei solcher Situationen sind die Gespräche zwischen Eltern und ihren Kindern und die Situation von Therapeut und Patient. Beiden Fällen gemeinsam ist der Unterschied zwischen Sprecher/Hörer bezüglich der Autorität und der Kompetenz. Allerdings gibt es natürlich auch Unterschiede in den Situationen. Eltern haben einen Erziehungsauftrag, sie bringen Kindern bei, wie Erzählen funktioniert, wie die Erlebnisse zu verstehen sind und wie man richtig empfindet und reagiert. Therapeuten hingegen haben einen Therapieauftrag. Sie bringen Patienten bei, wie sie Erlebnisse und sich selbst verstehen können.

Eltern-Kind Gespräch

Ein kleiner Exkurs zur Eltern-Kind Situation verdeutlicht, das Vorschulkinder vor allem das Erzählen an sich erlernen, während Jugendliche beim Erzählen lernen, ihre Emotionen zu bewältigen. Das lässt sich anhand eines drei-phasigen Modells darstellen, auf dessen erster Stufe das Kind eine Fähigkeit noch nicht besitzt, aber einen fähigen Elternteil. Auf der zweiten Stufe übt das Kind die Fähigkeit in Zusammenarbeit mit dem Elter ein, um auf der dritten Stufe, die autonome Fähigkeit entwickelt hat.
Die Art und Weise, wie Eltern auf die Erzählungen der Vorschulkinder eingehen, hat durchaus Folgen für die Entwicklung der Erzählfähigkeit, die Gedächtnisleistung, die Fähigkeit andere Perspektiven einnehmen zu können und sogar die Bindungsqualität. Eltern können ihre kleinen Kinder durch Fragen unterstützen. Das geht mit geschlossenen Fragen, sog. W-Fragen oder mit offenen Fragen und durch die Auswertung des Erzählten.
Ab dem etwa neunten Lebensjahr können Kinder bereits recht gut erzählen. Trotzdem können Eltern auch hier noch hilfreich sein, indem sie vor allem dabei helfen, die emotionalen Aspekte des Erzählten zu integrieren.

Gefühle und Bedeutungen von und in Erzählungen

Es folgt ein Beispiel einer solchen Unterhaltung zwischen Mutter und Kind. Herr Habermas arbeitet daran heraus, dass die Mutter die zeitliche Perspektive erweitert, indem sie an ähnliche Situationen erinnert, dadurch die Gefühle verstärkt und einen Lerneffekt aus der Geschichte entstehen lässt. Die Mutter ergänzt und verändert auch die Motive der Beteiligten und stellt alternative Erklärungen zur Verfügung. Sie verallgemeinert die Situation und bietet einen Abstand zur Erfahrung. Auch die Umdeutung des Erlittenen wird aus der Passivität in die Aktivität uminterpretiert. Andere Möglichkeiten bestehen noch darin, die Persönlichkeit der Beteiligten als Erklärung anzunehmen. Das wären z.B. biografische Empfindlichkeiten, die eine Rolle spielen könnten und überhaupt kann die Persönlichkeiten durch biografische Erfahrungen erklärt werden.
Insgesamt geht die Mutter weniger auf die Ereignisse und Handlungen ein, als vielmehr auf die Motive und die Bewertungen, indem sie darauf abhebt, warum die Beteiltigten so gehandelt haben und wie das zu bewerten ist?

Therapeut-Patient Gespräch

Ähnlich den Eltern haben Therapeuten „die Aufgabe, die Fähigkeiten der Klienten zu verbessern, insbesondere ihre Fähigkeiten zur Introspektion, Reflexion und Bewältigung von kritischen Erlebnissen.“
Anders als Eltern haben Therapeut*innen die erzählten Ereignisse nicht miterlebt Sie haben acuh keine erzieherische Aufgabe. In der Regel dürfen sie (kaum) werten, denn sie sollen auf das Erleben des Patienten fokussieren, allerdings dürfen sie die Motive in Frage stellen und deuten.
Herr Habermas geht nun der Frage nach, welche Rolle das Erzählen in psychodynamischen Therapien spielt. Zunächst stellt er fest, dass es nicht so sehr darum geht, falsche Geschichten zu zerlegen oder das Patient*innen nur frei assoziieren. So gut wie immer finden die Mitteilungen der Klienten eine Erzählform für ihre Anliegen. Dazu stellt Herr Habermas folgende These auf: „Psychodynamische Psychotherapie lässt sich beschreiben als Arbeit am Erzählen, mit dem Ziel, dass möglichst alle relevanten Perspektiven eingeschlossen werden.“

Techniken therapeutischen Zuhörens

Zum Beleg der These will er beschreiben, wie Therapeuten aktiv zuhörend die Erzählungen vervollständigen. Dazu erläutert er vorab die klassischen Interventionen der psychoanalytischen Ichpsychologie. Diese bestehen aus Klärung der unklaren und fehlenden Teile, gefolgt vom Konfrontieren mit Fehlendem, mit Inkonsistentem, mit Auffälligkeiten und dem Deuten von z.B. Ängsten und abgewehrten Motiven, sowie der Emotionen. Wie beziehen sich nun diese Interventionen auf Geschichten?
Dazu bekommen wir noch zwei Gesprächsausschnitte vorgeführt, in denen die Anwendung der Interventionen die Geschichten vervollständigen, und dadurch die Emotionen und Motive geklärt werden. Daraus leitet Herr Habermas ab, auf welche Teile der Geschichte sich Therapeuten bevorzugt beziehen. Es sind verschiedene Teile, die aber immer mit Emotionen zu tun haben. Es geht dabei um Emotionen, die ein Motiv für Abwehr sein können.

Und die Moral von der Geschichte?

„Erzählungen sind ein zentrales Medium um Handlungen und Emotionen von Menschen zu verstehen.
Deshalb ist das Erzählen mit Eltern so wichtig für das Erlernen sozio-kognitiver und sozio-emotionaler Fähigkeit
Deshalb ist das Erzählen mit Therapeuten so wichtig für das Verstehen neurotischer Verzerrungen und Unglücks.“

Die Psychosomatik erforscht das Zusammenspiel von Genen und Umwelt

Gene oder Umwelt?

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 08.05.18 Von Dr. med. Derek Spieler:            „Nature or Nurture – Ausgewählte Aspekte zur Genetik und Epigenetik seelischer Erkrankungen“

Einstimmung

Herr Spieler beginnt seinen Vortrag mit einem Bild von René Margritte, das den Betrachter verwirrt, weil nicht zu bestimmen ist, ob es darauf Tag oder Nacht ist. Ähnlich, so Herr Spieler, geht es der Medizin mit der Frage nach genetischen oder umweltbedingten Krankheitsgeschichten. Bereits der Titel des Vortrags sei eine Provokation, weil das „Oder“ ein „entweder – oder“ nahelegt, das keinesfalls gegeben sei. Immer gibt es eine genetische Disposition, die immer in einer Interaktion, mit einer ebenfalls immer gegenwärtigen Umwelt, steht. Als Metapher bietet er den Segen von Thetis für ihren Sohn Achilles an. Sie hält ihn in den Fluss Styx, um ihn unverwundbar zu machen, aber sie muss ihn dabei an der Ferse festhalten, so dass er an dieser Stelle verwundbar bleibt. Eine seriöse Schätzung lautet im Moment, dass zu ca. 20% Gene am Krankheitsgeschehen beteiligt sind, und der Rest durch die Lebensweise bestimmt wird.

Genetische Einflüsse

Seit das menschliche Genom im Jahr 2001 vollständig sequenziert wurde, hat die Erforschung genetischer Krankheitsursachen einen gewaltigen Aufschwung erfahren. In breit angelegten Studien kam heraus, dass etwa jedes tausendste Basenpaar (von 3,3 Milliarden) Variationen aufwies. Nun konnte erforscht werden, welche Variationen mit bestimmten Erkrankungen assoziiert sind. Dazu wurden große Gruppen von Betroffenen (am Beispiel von Depressionen und Schizophrenie) mit Gruppen unauffälliger Menschen verglichen und auf diese Art festgestellt, an welchen Stellen die Erbsubstanz verändert war. Für die Depressionen und die Schizophrenie zeigte sich, dass es 44 bzw. 108 auffällige Veränderungen im Genom gab.
Mit diesem Vorwissen wurde es nun möglich, die Betroffenen auch mit bildgebenden Verfahren zu untersuchen. So konnte erforscht werden, wie die veränderten Gene sich auf Bau und Funktion des Nervensystems auswirken. Eine spezielle Veränderung lässt sich recht eindeutig mit dem „Anterioren Cingulären Cortex“ dem ACC in Verbindung bringen, eine Gehirnstruktur, die an emotionalen Bewertungen und Gedächtnisfunktionen beteiligt ist.

Umwelteinflüsse

Es ist bekannt, dass Menschen, die in Städten wohnen, ein höheres Risiko tragen, an einer Schizophrenie zu erkranken, als Menschen, die in ländlichen Regionen leben. Dieses Risiko steigt mit der Größe der Stadt und mit der Anzahl von Jahren, die man insbesondere als Kind in der Stadt verbracht hat. Auch hier konnte mit bildgebenden Verfahren aufgeklärt werden, welche Auswirkungen die Stressoren einer Großstadt auf Funktion und Bau des Nervensystems hat. Zum Einen verändert sich die Funktion des Angstzentrums, der Amygdala und zum Anderen konnten auch Veränderungen am ACC festgestellt werden. Hier treffen sich also die Auswirkungen angeborener und erworbener Merkmale.

Gene und Trauma

Eine weitere Gehirnstruktur, der Hippocampus, der eine zentrale Rolle für das Gedächtnis und die Alzheimer Demenz spielt, konnte mit diesen neuen Methoden ebenfalls erforscht werden. So gibt es Genvarianten, die ein großes Volumen für diese Struktur begünstigen und die Gefahr von Alzheimer mindern. Wenn Menschen nun traumatische Erfahrungen machen, kann im ungünstigsten Fall das Volumen des Hippocampus abnehmen. Je nach Vorgeschichte können manche Menschen aber auch an diesen Erfahrungen wachsen, bzw. wächst das Volumen des Hippocampus sogar an.

Epigenetik

Diese noch recht junge Disziplin handelt von der Regulation der Gentätigkeit abhängig von den Umwelterfahrungen. Eine Art dieser Regulation besteht in der sog. Methylierung des Cytosins. Eine solche Methylierung dämpft die Aktivität des betroffenen Basenpaars, was für sich kein Problem darstellt. Auch hier war es mit Hilfe der Sequenzierung möglich, die Methylierung in Abhängigkeit von den Lebensumständen zu erfassen. Herr Spieler nennt als Beispiel die Alkoholabhängigkeit, von der inzwischen bekannt ist, dass sie ein typisches Methylierungsmuster erzeugt, das nun wiederum zur sicheren Diagnose verwendet werden kann. Ein weiterer Forschungssektor in diesem Bereich ist die Auswirkung von Depressionen der Mutter auf das Baby. Auch hier konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zusammenhang aufgedeckt werden.

Fazit

Wie auch immer unsere genetische Ausstattung aussieht, wir können nichts an ihr ändern. Wir können aber darauf achten, wie wir unser Leben führen und Herr Spieler ist der Ansicht, dass die Lebensführung die wichtigste Rolle für die Krankheitsvorsorge darstellt.

Ich war sehr zufrieden mit diesem klar gehaltenen Vortrag, der mit wenigen Folien auskam.

Die Psychosomatik entdeckt die Neurobiologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 17.04.18 Von Prof. Dr. Grit Hein:                          „Was uns antreibt – Über die Neurobiologie sozialer Motive“

Frau Hein beginnt ihren Vortrag damit, dass sie uns die Gedanken bekannter Denker zum Thema „Motivation“ präsentiert z. B. Leonardo da Vinci: „Motive sind die treibende Kraft des Lebens“; Thomas Mann: „Motive verstehen heißt menschliches Verhalten verstehen“; Immanuel Kant: „Eine Handlung ist dann wesentlich gut, wenn die Motive des Handelnden gut sind, unabhängig von den Auswirkungen.“

Theorien zur Motivation

Wo Künstler, Schriftsteller und Philosophen ein Thema bedenken kann die Wissenschaft der Psychologie nicht zurückstehen. Im Verlauf der Psychologiegeschichte wurden etliche Motivationstheorien entwickelt, die verschiedene Schwerpunkte gesetzt haben. So die Theorie von Henry M. Murray, der Motive als stabile Persönlichkeitseigenschaften ansah und die von den Grundbedürfnissen nach Kontrolle und Zugehörigkeit charakterisiert sind.
Dieser Ansatz wurde von David McClelland weiter ausdifferenziert in die Grundmotive von Zugehörigkeit, Macht und Leistung, denen jeweils Wünsche und Befürchtungen entsprechen, die das menschliche Verhalten beeinflussen.
Relativ bekannt ist die Maslow’sche Bedürfnispyramide mit ihren Defizitbedürfnissen und ihren Wachstumsbedürfnissen – in der Folie der Vortragenden „Unstillbare Bedürfnisse“ genannt. Maslow ordnete physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse und soziale Bedürfnisse als Grundlagen, die erfüllt sein müssen an. Sie bilden die Basis der Pyramide und ihre Nichterfüllung motiviert die Betroffenen maximal. Erst wenn diese Grundlagen gewährleistet sind kann ein Mensch nach Maslow sich um Geltung und Selbstverwirklichung kümmern.
Eine weitere Betrachtung unterscheidet zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation. Intrinsisch entstehen Neugier und emotionale Anreize, sowie Erfolgserwartungen; Extrinsisch wir positive Verstärkung in Form von Belohnungen oder negative Verstärkung im in Form von Zwang erfahren.

Sind Motive änderbar?

Die Lieblingstheorie von Frau Hein ist allerdings die von Kurt Lewin, der Motive als veränderbar ansieht. Für ihn reflektieren Motive das ultimative Ziel von Individuen, was sich für Verhaltensvorhersagen nutzen lässt. Weiter behauptet er, dass Motive aktivierbar und situativ veränderbar sind, was dann die Basis für Interventionen darstellt.
Das Problem der Psychologie mit den Motiven ist, dass sie nur schwer erfassbar sind. Motive sind privat und nicht beobachtbar. Darüber hinaus können unterschiedliche Motive zu gleichem Verhalten führen. Als Beispiel sehen wir ein Foto von zwei Männern, die eine Couch tragen. Einer von ihnen zieht um, der andere hilft. Hilft er weil er Empathie zeigen möchte? (Hier mit dem Ziel des Wohlergehens des anderen verbunden), oder hilft er aus Reziprozitätsgründen? (mit dem Ziel einen Gefallen zu erwidern)

Forschung in der Röhre

Frau Hein möchte uns darüber aufklären, mit welchen Tricks sie diesen Fragen nachforscht. Aber zuvor gibt sie uns eine Einführung in die nicht-invasiven Techniken der Neurobiologie. Sie selbst forscht am häufigsten mit der „fMRT“, der funktionellen Magnetresonanztomografie. Ihre Begeisterung für diese technischen Möglichkeiten sind ihr anzumerken, denn sie ermöglichen ein „nicht-invasives Maß, welches Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln abbilden kann“ (dem philosophisch Halbgebildeten sträuben sich die Haare bei solchen Formulierungen). Eine neue Variante der Technik ist, dass nun nicht nur bunte Bilder von Gehirnregionen gezeigt werden können, sondern auch welche Gehirnbereiche, in welchen zeitlichen Mustern miteinander interagieren. Genau dies ermöglicht nämlich erst die Unterscheidung von Empathie und Reziprozität in der Gehirntätigkeit.

Im sogenannten „interaktiven Paradigma“ – was so viel heißt, dass der Proband in der Röhre liegt, aber die Hände von Mitmenschen sehen kann, die neben der Röhre sitzen – werden nun Versuche mit sozialen Gefühlen gemacht. Die derzeit beliebten Spiele der Neuroforschung haben häufig damit zu tun, wie Geldbeträge aufgeteilt werden. Für die meisten Menschen ist eine Teilung von vierzig zu sechzig Prozent akzeptabel (d.h. sie nehmen die vierzig Prozent, weil sonst das Geld weg wäre). Dies wird nun kombiniert mit einem bekannten Phänomen, der Empathie Einschränkung gegenüber Out-Group Mitgliedern – Menschen sind in aller Regel empathischer mit Mitglieder der eigenen Gruppe.

Empathie ist erlernbar

Außerdem ist die Möglichkeit bekannt, Empathie und/oder Reziprozität zu induzieren, also von außen herbeizuführen. Empathie in der Form, dass vor dem Teilungsversuch Bilder des später zu Begünstigendem gezeigt werden, wo dieser Schmerz empfindet. Wer einen leidenden Menschen sieht, ist eher geneigt, ihm Empathie entgegenzubringen. Reziprozität lässt sich so induzieren, dass derjenige, der das Geld aufteilen darf ein Bild sieht, auf dem sein Spielpartner Geld dafür bezahlt, damit dem Verteiler kein Schmerz zugefügt wird.

Mit herkömmlicher fMRT lassen sich keine Unterschiede zwischen diesen beiden Motiven feststellen. Erst wenn das „Dynamic Causal Modelling“ verwendet wird, dass die räumliche und zeitliche Verteilung der Gehirnprozesse zeigt, werden die Unterschiede sichtbar.
Frau Hein berichtet von einem Experiment in Zürich, in dem Schweizer und Bosnier (In-Group/Out-Group) so miteinander interagieren mussten, dass sie lernen konnten, auch den Out-Group zugehörigen ein identisches Maß an Empathie und Reziprozität aufbringen konnten – Vorurteile lassen sich verlernen!

Zukunftsaussichten

In ihren Abschlussworten betont sie, dass diese Methodik noch sehr am Anfang steht und dass sie bis auf weiteres keinesfalls die Möglichkeit eröffnen wird, Motive zu entlarven. Die Wirklichkeit ist enorm komplex und maschinelles „Mind-Reading“ liegt noch in weiter Ferne, falls es überhaupt möglich ist.
Einen Anwendungsbereich sieht sie jedoch für die klinische Psychologie zur Darstellung und Diagnostik von „motivationalen Defiziten“ bei psychischen Erkrankungen.
Abgesehen von der etwas langatmigen Technikerklärung war es ein recht interessanter Vortrag für mich. Wieder einmal dachte ich, dass der Zugang technischer Möglichkeiten zur Psyche eine recht zweischneidige Angelegenheit ist. Sie gewährt einerseits mehr Verständnis für die neuronalen Prozesse der Psyche, mit der Gefahr, diese auf neuronale Tätigkeiten zu reduzieren. Sie eröffnet andererseits auch Möglichkeiten der Beeinflussung, über deren möglichen Missbrauch, sich die Zunft scheinbar wenig Gedanken macht.