Die Psychosomatik erkundet die Klimakrise

Klimakrise und Psyche

Bericht vom Dienstagskolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von Prof. Dr. med. Christoph Nikendei, leitender Oberarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikums Heidelberg:       „Klima, Psyche und Psychotherapie“

Mein zweiter gestreamter Vortrag. Ich sitze gemütlich auf meinem Stuhl, Modell „Sorgenfrei“, in der Küche und bin gespannt. Ich mag vorwegnehmen, dass dies ein sehr umfangreicher Bericht ist. Wer sich den Vortrag ganz anhören/sehen mag, sei auf diesen Link verwiesen.

Einführung

Herr Nikendei beginnt mit der neurowissenschaftlichen Erkenntnis, dass wir nur 100 Millisekunden brauchen um uns ein Bild von jemandem zu machen und er fordert uns auf, während des Vortrags in uns hineinzuspüren, zu beobachten, wie es uns mit seinem Input geht.
Er beginnt, für mich überraschend, mit Prof. Jem Bendell, dessen Aufsatz „Deep Adaptation“ von Fachjournalen abgelehnt wurde. Dann aber trotzdem eine große Aufmerksamkeit erfahren hat. Bendell prophezeit darin, dass die bekannte soziale Ordnung binnen zehn Jahren zusammenbrechen wird (jetzt noch acht Jahre).
Dieser Aufsatz hat auch in der Fachwelt für großes Entsetzen gesorgt. Eine Kollegin nannte ihn: „sadistisch, esoterisch-ausweichend, im Apokalypse-Rausch befindend, angriffslustig, moralisierend, reißerisch-aggressiv, verwirrt, radikalisiert, aber später dann doch, vielleicht doch nicht von der Realität abgewandt.“

Auswirkungen

Der Aufsatz verursachte einen Schock über die Massivität der Auswirkungen und der zeitlichen Nähe, der kommenden Ereignisse. Dieser führt in einen Zustand der Gespaltenheit und Verwirrtheit. So ein Zustand induziert eine psychische Abwehr, die den Inhalt diskreditiert und entwertet, es entsteht der Wunsch, das Thema Ad-Acta legen zu wollen.
Ein aktuelles Problem, das die Diskussion ums Klima erschwert ist natürlich die Corona Situation. Herr Nikendei meint dazu: „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“, die Klimakrise verschwindet nicht, auch wenn Corona ihr gerade die Schau stiehlt. Er demonstriert das mit der CO2 Uhr, die uns darüber informiert, wie lange wir noch die Atmosphäre mit CO2 belasten können, wenn wir das 1,5° Ziel erreichen wollen. Beim derzeitigen Ausstoß werden wir in sieben Jahren unser Budget (von dem Bendell behauptet, dass es gar nicht existiere) aufgebraucht haben.

Persönlicher Zugang

Das war aber nur die Einführung. Wir erfahren nun etwas zur Tradition der Psychosomatik in Heidelberg und den persönlichen Hintergrund von Herrn Nikendei, wie er zur Psychosomatik und seinen Themen gekommen ist. Wir sehen Fotos von einem ertrunkenen Kind (Alan Kurdi) und dem Kind des Vortragenden. Vor diesem Hintergrund wurde für Herrn Nikendei die Frage drängend:

„Welche Art von Welt, geben wir an unsere Kinder weiter?“

Er benennt einige seiner Quellen für „kluge Gedanken“. Sie stammen von Philosoph*innen und Soziolog*innen zum Klimawandel, die er auch in diesem Vortrag verwenden will. Jetzt bekommen wir die Struktur des Vortrags genannt:

  • Klimawandel und Kognitions-/Sozialpsychologie
  • Tiefenpsychologie, Psychotraumatologie
  • psychische Aspekt
  • Klimawandel was nun?

Klimawandel und Kognitions- Sozialpsychologie

Der Sachstand

Aber zunächst gibt es noch einige Informationen zum aktuellen Sachstand. Dieser ist bereits einigermaßen alarmierend, wie das Potsdamer Klimainstitut feststellen muss. So sind die Bereiche Erwärmung, Artenvielfalt und Nitratzyklus bereits massiv aus dem Gleichgewicht geraten. Dass z.B. das Erdklima bereits um über 1° C zugenommen hat, wird zwar inzwischen weitgehend anerkannt, aber dass der Mensch die Ursache dieser Erwärmung ist, wird fast ebenso weitgehend bestritten.
Auf dem derzeitigen Entwicklungspfad laufen wir auf eine Erwärmung von etwa 4° C zu (Hochrisikoszenario). Das würde dazu führen, dass z.B. Nordindien unbewohnbar werden würde – Djakarta in Indonesien ist jetzt schon dabei, sich von der Küste wegzubauen, denn der Meeresspiegel wird weiter ansteigen und in einigen Jahren dramatisch ansteigen. Weitere Folgen wären geschätzte 140 Millionen Menschen, die die Flucht ergreifen müssten – doppelt so viele wie im Moment; und bis zu 40 % aller Tierarten würden vermutlich aussterben.

Information genügt nicht

Die Zahlen zum CO2 Eintrag in die Atmosphäre sind gewaltig – um sich zu veranschaulichen, was sich ändern müsste, mag die Zahl genügen, dass deutsche Bürger*innen derzeit 11 T CO2 pro Jahr und Person verantworten, dieser Ausstoß müsste bis 2050 um 10 T (!) vermindert werden.
Die berühmte Karte von den „Kippelementen“ in der Atmosphäre demonstriert die möglichen Konsequenzen, wenn weiterhin viel zu wenig getan wird – (und dabei ist in diesen Berechnungen noch nicht einmal der steigende Methangehalt der Atmosphäre berücksichtigt).
Diese „harten“ wissenschaftlichen Fakten sind solider, als jene, die über Corona bekannt sind. Die spannende Frage entsteht: Wenn wir so viele Informationen und Wissen haben, warum geschieht dann so wenig? Wir sehen doch, dass wissenschaftlicher Rat in der Corona Krise sehr hilfreich ist. Offenbar genügt es nicht, gesicherte Informationen zu haben – wir ertrinken geradezu in ihnen und was wir stattdessen nutzen, sind unsere Gefühle und den sog. gesunde Menschenverstand, allerdings sind beide für diese Herausforderung völlig überfordert.

Kognitions- und Sozialpsychologie

Bekanntermaßen gibt es eine angeborene Reaktion auf Bedrohungen, die berühmte Kampf- Flucht- oder Erstarrungsreaktion. Damit es aber zu diesen Reaktionen kommen kann, muss die Gefahr unmittelbar, konkret und unstrittig sein. Hier liegt ein Unterschied zwischen Corona und Klimakrise. Wir sehen die Bilder der überfüllten Krankenhäuser, aber die Gefahren der Klimakrise erscheinen weit entfernt, wenig konkret, komplex und sie werden nach wie vor von einflussreichen Mitmenschen bezweifelt.

Kognitive Verzerrungen

Nun kommen kognitive Verzerrungen sog. „Bias“ ins Spiel. Zum Beispiel den Verfügbarkeitsbias. Australier, die die verheerende Brandkatastrophe des letzten Jahres erlebt haben, haben eine konkrete Vorstellung von den Folgen des Klimawandels, wir in Europa hingegen haben diese direkte Erfahrung (noch) nicht.
Von einer weiteren Verzerrung sind vor allem Eltern betroffen, es handelt sich um die Optimismus Verzerrung. Eltern wollen und können sich oft nicht vorstellen, dass die Zukunft ihrer Kinder eher trübe aussehen wird.
Eine weiter Verzerrung wird durch Gruppenzugehörigkeit begünstigt. In Gruppen wird auch eine bestimmte Sichtweise auf die Welt gepflegt. Diese Sichtweise kann sogar zum Merkmal der Gruppenzugehörigkeit werden, wie es an der Situation in den USA anschaulich wird.

Die Rolle des Internets

Eine weitere wichtige Rolle spielen Desinformationen und Manipulation durch und vermittels der Sozialen Medien. So erhält nicht jeder Mensch, der den Begriff „Klimawandel“ googelt, dieselben Ergebnisse. Diese hängen u. a. von vorherigen Suchbegriffen ab, aber auch von vielen anderen Informationen, die die Anbieter gesammelt haben.

Beschleunigung und Entfremdung

Damit immer noch nicht genug, handelt es sich bei der Klimathematik um ein sog. verflixtes/verzwicktes Problem. Ein solches zeichnet sich durch Komplexität, Vernetztheit, Zielpluralität und Unschärfe aus. Hier gibt es eine gewisse Nähe zur Corona Situation.
Zuguterletzt spielen auch Beschleunigung und Entfremdung in der Kultur ihre Rolle. Der Soziologe Hartmut Rosa hat dies so zugespitzt und es „Eskalation des Weltverhältnisses der Moderne“ genannt. Strukturell sieht es so aus, dass sich die Moderne nur dynamisch stabilisieren kann, sie benötigt Wachstum zum Erhalt des Status Quo. Kulturell sieht Rosa einen „Kategorischen Imperativ der Moderne“ am Werk: „Handle stets so, dass Deine Weltreichweite größer wird!“
Die Folgen dieses Weltverhältnisses sieht er strukturell als „Desynchronisation“ Die Natur ist zu langsam, was zur Öko-Krise führt und die Seele ist zu langsam, was zur „Psycho-Krise“ führt.
Die kulturellen Folgen sieht er in einer Verdinglichung der Weltbeziehung. Es kommt zur Entfremdung, dem Erleben einer „schweigenden Welt“. Das führt in der Folge zu Derealisation, Zynismus und weiteren Symptomen eines „Burn-out“.

Sozialforschung

Wenig ermutigend sind Experimente mit Student*innen, die einen Spieleinsatz so aufteilen können, dass am Ende die Welt gerettet wird. Dazu müssten sie einen Teil ihres Geldes hergeben, aber leider scheint diese altruistische Haltung wenig verbreitet.
Als Zwischenfazit fasst Herr Nikendei zusammen, dass wir kognitiven Verzerrungen unterliegen und dass es offenbar nicht gelingt, den Abgrund zwischen Wissen und Handeln zu überbrücken.

Klimawandel und Tiefenpsychologie

Als kurze Einführung führt der Redner das Grundkonzept der TP an. Es geht in ihr um eine Konflikt- und Strukturtheorie. Also unbewusste Konflikte oder strukturelle Mängel führen zu psychischem Leiden.
Im Falle des Konflikts geht es um widerstreitende Motive, Wünsche oder Bedürfnisse, die zu inneren Konflikten führen. Dies geht mit Gefühlen von Verlust, Schuld, Angst, Scham, Verzweiflung und Neid einher und diese unerträglichen Gefühle müssen mittels psychischer Abwehr vom Bewusstsein ferngehalten werden.
Anhand des „Strukturmodells“ von Freud (Es, Ich, Über-Ich) bekommen wir das erläutert. Wir sind (auf der Es-Ebene) in einer umfassenden Natur beheimatet und hier finden wir auch die naturbezogenen Bedürfnisse unserer kreatürlichen Existenz.
Auf der mitmenschlichen Ebene (Ich-Ebene) sind wir geborgen und Kulturschaffende Wesen.
Und wir haben Ideale für unsere Existenz, die Ebene des Gewordenen (Über-Ich-Ebene), dort finden wir Leistungsanforderungen.

Strukturelle Bedrohungen

Durch die Dynamik der Prozesse werden wir aber von unserer Verbundenheit entfremdet und dies führt zum Gefühl der Bedrohung.  Was einst Heimat war, ist nun in Gefahr. Wo wir uns geborgen fühlen sollen, müssen wir hektisch arbeiten und wo etwas wachsen sollte, finden wir nur noch künstlich produziertes. Dies alles führt zu der Erfahrung, dass die Natur zurückschlägt und dies wiederum zum Gefühl der Scham.
Scham: … „reflektiert eine Ahnung des Scheiterns oder ein Defizit des Selbst“, bzw.: „Scham paralysiert und führt zu einem Leben in Neid“
Scham ist wiederum ein Gefühl, das abgewehrt werden muss. Z. B. durch Verleugnung (gibt es gar nicht) oder Omnipotenzfantasie (z. B. Technik Omnipotenz). Ebenfalls möglich ist Abwehr durch Projektion (Greta isst aus einer Plastikschale), durch Entwertung (siehe Eingangsbeispiel), durch Spaltung (Greta als Heilige oder Hexe), durch Rationalisierung (das wird das Klima nicht kippen lassen, wenn ich nach Hawaii fliege) oder durch Sublimierung (Spenden, Kompensationen).
Kompakt zusammengefasst lautet das folgendermaßen:

„Die umfassende Realisierung eines globalen Desasters und die Anerkennung unseres eigenen Beitrags wäre möglicherweise vernichtender und bedrohlicher für uns, als die auf uns zukommende Bedrohung selbst.“

Also:

„Die Hinnahme eines drohenden „äußeren Untergangs“ gefährdet uns weniger, ist weniger beschämend für uns, als der drohende „innere psychische Untergang.“

Identität und Selbstwert

Identität und Selbstwert sind von der kulturellen Einbettung abhängig. Also, wie wird (falls überhaupt) über Klimaentwicklungen in den sozialen Kontexten gesprochen?
Strukturelle und Gesellschaftsstrukturelle Perspektiven drehen sich um die Symbolisierung der Klimakrise. Das verbreitetste (Nicht-) Narrativ (Erzählung) dazu ist so Herr Nikendei die kollektive Stille – die Klimakatastrophe wird schlicht und einfach verschwiegen.
Die Einstellung zum Thema wird zu einem Gruppenmerkmal mit der möglichen Folge, dass an Einstellungen festgehalten wird, die hinterfragbar oder sogar falsch sein können. Verstärkend kommen die „Echo-Kammern“ der sozialen Medien hinzu, denn sie führen in einen Zustand von „pluralistischer Ignoranz“.
Eine weiter Folge von sozialen Medien ist, dass sie persönliche „Wunsch-Identitäten“ beeinflussen. Sie fördern einen forcierten Individualismus, fokussieren auf individuelle Selbstoptimierung und entgrenztem Konsumverhalten. Im Zentrum stehen Produkte, die identitätsstiftend geworden sind und im Sinne eines „falschen Selbst“ verstanden werden können.

Psychische Aspekte

Empathie

Zum Preis der CO2 Erzeugung, den andere Länder und deren Bevölkerungen zahlen müssen, meint ein Ex-Präsident eines Inselstaats sinngemäß, dass dieses Verhalten, wider besseres Wissen, einen kriegerischen Akt darstelle, dem die Betroffenen ohnmächtig ausgeliefert seien. Eine andere Formulierung bringt es so auf den Punkt: „Diese Länder sind nicht unterentwickelt, sie sind über-ausgebeutet.“
Vor diesem Hintergrund macht uns Herr Nikendei klar, dass auch Deutschland ein Entwicklungsland ist. Gemessen an den UNO Zielen 2030 wird viel zu wenig insbesondere für den Klimaschutz unternommen.

Körperselbst

Das Körperselbst ist auch eine strukturelle Dimension. Der Vortragende zieht eine bedenkliche Bilanz. Es lässt sich feststellen, dass: „Trotz aller vermarkteten Natur- und Körperkulte, existiert eine tiefgreifende Natur- und Körpervergessenheit. Sinnliche Seiten der selbsttätigen inneren Natur werden in den Bereich des Schöngeistigen oder des Freizeitmarkes verschoben. Die Eigenständigkeit der leib-seelischen Körperdynamik wird auf dem Niveau einer pathologischen Selbstobjekt-Beziehung missbraucht.“

Klimawandel und Trauma

Wir erfahren, dass von den Menschen, die z.B. Hurrikans erleiden mussten, bis zu 80 % eine Traumfolgenstörung entwickeln. Und wir erfahren auch vom „Trauma der Täter“. Insbesondere die europäischen Nationen sind Erben kulturhistorischer Verbrechen wie dem Kolonialismus, dem Nationalsozialismus, dem Rassismus und der Sklaverei. Dieses transgenerationale Erbe kann zu Dissoziationen und dadurch zu einer doppelten Buchführung münden. Z.B. sponsern Ölkonzerne gerne Klimaschutzmaßnahmen.
Was das Eingreifen ebenfalls erschwert, ist das Phänomen der passiven Dabeisteher – es sind so viele Menschen da, da wird sich schon ein anderer darum kümmern.

Auswirkungen

Bisher liegen Ängste vor dem Klimawandel in Deutschland auf dem zehnten Platz, sie sind nur bei 41 % vorhanden. Aber es gibt inzwischen so etwas wie „Eco-Anxiety“ – Besorgnis um den Klimawandel. Dieser geht einher mit Symptomen von Depression, Angst und Stress. Vor allem bei Frauen, die jünger als 35 Jahre alt sind, die eine umweltbezogene Einstellung haben – sie entwickeln eine Tendenz zur Zukunftsangst.
Eine weiterer Klimaeffekt ist, dass Hitze die Aggressionen vermehrt. Wir sehen dazu eine eindrückliche Statistik über den Anstieg von Gewaltdelikten in den USA zwischen 2010 und 2019, einer Zeit, in der verschiedene Hitzerekorde gebrochen wurden.
Die Frage, inwiefern unser Alltagsverhalten eine Fremdgefährdung darstellt und deshalb evtl. auch regulatorisch begrenzt werden müsste, wird kurz aufgeworfen. Wir sehen, welche Proteste die Corona Regeln bereits bei manchen Menschen auslösen.
Auch die Frage, ob wir gerade dabei sind, einen „Pan-Suizid“ zu begehen, wird noch angesprochen.

Klimawandel und nun?

Viele Ansatzpunkte

Was können wir tun? Wie kann eine Veränderung herbeigeführt werden. Eine Antwort darauf gibt das „Change-Management“. Dieses beschreibt eine Art Stufenplan, der durch die folgenden Schritte verwirklicht werden könnte: Im Zustand der Sorglosigkeit wäre es wichtig ein Problembewusstsein zu schaffen. Dieses führt zur Bewusstwerdung. Hier müssten Ambivalenzen aufgelöst werden. Sodann können Vorbereitungen getroffen werden. Dafür braucht es eine Zielplanung, auf die dann die Handlung folgen kann. Nach erfolgter Handlung geht es darum die Ergebnisse zu konsolidieren und letztlich auch darum, einen Abschluss zu finden.
Aber es gibt einen kleinen Dämpfer danach. Eine Statistik aus der Psychotherapie zeigt, dass zwar sowohl Verhaltens- als auch Tiefenpsychologische Therapie erfolgreich sein kann, aber nie alle Patient*innen erreichen kann.
Wir brauchen mehrere Ansatzpunkte. Vernetzung von Politik, Wirtschaft und Initiativen, Erfolge, z.B. beschlossene Begrenzungen von CO2 Ausstoß. Erste Schritte könnten in moderaten Anpassungen bestehen, wie weniger Flugreisen, Fleischkonsum usw. Allerdings würde uns das nicht mehr retten. Es braucht sehr ambitioniert Veränderungen der Lebens- und Wirtschaftsweisen, damit wir halbwegs sicher sein können, dass der Planet bewohnbar bleibt.

Intrinsische Motive

Ein wichtiger Bereich könnte auch intrinsische Motivation darstellen. Intrinsische Faktoren wären: Werteorientierung, die Möglichkeit, Identität und Status Ausdruck zur verleihen (mit Klimaengagement). Dabei spielt die Symbolik von Handlungen eine scheinbar wichtigere Rolle als extrinsische Anreize wie Steuererleichterung oder Ähnliches. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, denn es gibt den sog. „Single-Action-Bias“, der dazu führt, dass man einmal einen Gemüseauflauf ist und das als ausreichend empfindet. Man könnte auch das Greenwashing dazu zählen.

Technologische Wege

Die Rolle der notwendigen technischen Innovationen wird auch nicht vergessen. Wir brauchen sie, aber der „Technical-Fix“ der CO2 Problematik ist eher unwahrscheinlich. Weder die „Direct Air Capture“, noch die Elektrifizierung des Verkehrs, die Aufforstung oder die Verteilung von Schwefel in der Stratosphäre sind in der Lage, genügend CO2 zu binden.
Es werden wohl politisch beschlossene Normen notwendig. Dass diese erfolgreich sein können, sehen wir im Moment in der Corona Situation. Oder als älteres Beispiel, die Gurtpflicht im Auto. Ansonsten wird möglicherweise ein Gedankenspiel wahr, dass Politiker*inne in Zukunft wegen „Ökozid“ angeklagt werden könnten.

Ökonomische Wege

Neue Normen bräuchte es auch für die Wirtschaft. Hier wäre die Frage zu stellen: Wollen wir die Zukunft gestalten oder abwarten, wie wir mit dem Desaster umgehen können? Es scheint auf der Hand zu liegen, dass Geld alleine nicht ausreichen wird. Die Art des Wirtschaftens an sich steht zur Disposition – von den vielen Möglichkeiten wählt der Vortragende die „Post Wachstumsökonomie“ von Nico Paech. Aus dieser Sicht braucht es neue Effizienzstrategien, Konsistenzstrategien, Suffizienzstrategien und Re-Regionalisierung. Oder auch: „All you need is less“.
Auch Maja Göpel wird noch zitiert. Sie spricht in Anlehnung an Max Weber von der herrschenden „Eisenkäfig-Ökonomie“ und stellt fest, dass diese zu Fragmentierung, Quantifizierung/Monetarisierung, Akkumulation und Vergleich/Ranking führt.

Ethische Möglichkeiten

Einen weiteren Aspekt stellt die „Radikale Ethik“ von Donna Orange dar. Diese fordert die Anerkennung an unserer Beteiligung am Desaster des Klimawandels. Sie fordert eine neue Gesellschaftsorganisation, in der Maßlosigkeit keinen Platz hat, indem wir auf politischer, ökonomischer, technischer, ideologischer Ebene in der Haltung einer radikalen Ethik Ungerechtigkeiten und Glück auf Kosten anderer nicht tolerieren“.
All das kann nur funktionieren, wenn sich Individuen für sich selbst für Veränderungen entscheiden, dabei aber das Kollektiv mitnehmen, und wenn auch Kollektive die Einzelnen ermuntern, die neuen Wege zu beschreiten.
Dazu braucht es auch neue soziale Wert, denn es gibt Chancen für Soziale Kipppunkte, die dann eine Kettenreaktion der Veränderung auslösen könnten.

Achtsamkeit und Resonanz

Zuguterletzt kommt noch die Achtsamkeit als Wirkfaktor ins Spiel. Hier greift Herr Nikendei wieder Hartmut Rosa und dessen Resonanzkonzept auf. Es empfiehlt uns, berührbar zu sein, Veränderungen durch Berührung zuzulassen, Toleranz für Ergebnisoffenheit zu entwickeln, die Unverfügbarkeit von Resonanz anzuerkennen, auf Berührung zu antworten und vor allem seine eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit anzuerkennen.
Aus der Psychotherapie ist bekannt, dass die Hinwendung zu etwas Neuem immer mit dem Betrauern des Verabschiedeten einhergeht – mit der Anerkennung, dass die Dinge nicht mehr so sind wie früher. Dazu brauchen wir Mut, denn es wird auf jeden Fall auch Verlierer*innen geben. Und, wir brauchen Vorbilder, Rollen Modelle, die uns inspirieren.
Damit all diese Aspekte ineinandergreifen können braucht es dann auch noch eine gute Klima-Kommunikation:

„Einen Raum, um zu üben, den Klimawandel zu >symbolisieren< denn wenn dieser in die Realität der Sprache tritt, tritt er in unsere Bewusstseinsrealität und wird damit Teil unserer Lebensrealität.“

Haben wir Macht oder sind wir dem Klimawandel ohnmächtig ausgeliefert? Solange wir noch handeln können, haben wir noch die Macht etwas zu verändern, so der Schluss von Herrn Nikendei. Ich bin einigermaßen erschlagen von der Fülle dieses Inputs und hoffe, der/die Leser*in hat bis zum Ende durchgehalten.

Mehr zum Thema aus meiner Feder gibt er hier, hier und hier

Die Psychosomatik erkundet Corona

Corona und Psyche

mit: Claas Lahmann Prof. Dr. med., Psychosom. Uni Klinik, FR
Winfried Kern, Prof. Dr. med., Leiter Infektiologie, Uni Klinik, FR
Bernd Kortmann, Prof. Dr. Dr. h. c. Uni Freiburg:                                                                         Seele – Körper – Geist im Spiegel der Corona Pandemie

Meine erste Online Vorlesung in diesem Semester. Das Einloggen ist kein Problem, aber es ist Dienstag und Microsoft hat sich genau diesen Moment gewählt, um mir ein Update zu verpassen. Deshalb fehlen mir einige Minuten, die ich gebraucht habe, um das Update anzuhalten.
Das Format finde ich sehr gelungen. Jeder Referent bekommt 15 – 20 Minuten Zeit für seinen Vortrag und zu jedem Aspekt von „Seele – Körper – Geist“ gibt es einen Input. Nun bin ich gespannt, welche Einsichte es darüber gibt, was Corona mit uns macht.

Körper

Es beginnt Winfried Kern für den Bereich Körper. Er möchte etwas zur Epidemiologie mitteilen, dann zu Langzeit Folgeschäden nach Corona Infektion, sowie weitere Neuigkeiten und offene Frage ansprechen.
Er stellt zunächst fest, dass wir in der zweiten Welle angekommen sind. Es gibt mehr als 50 Millionen Infizierte und mehr als eine Million Tote und das rechtfertigt die Bezeichnung: „saftige Pandemie“.
Wir bekommen viele Tabellen und Statistiken gezeigt, die ich leider nicht alle sehen konnte. Ein paar Fakten: Die globale Fallsterblichkeit liegt zwischen 1 und 10 %, allerdings sind diese Zahlen mit sehr großer Vorsicht zu genießen, da die Erhebungen unterschiedlichen Standards folgen.
In Deutschland war in der ersten Welle keine statistische Übersterblichkeit festzustellen, allerdings in zahlreichen anderen Ländern.
Im Vergleich zur ersten Welle sind jetzt auch viele Kinder erkrankt, so auch in Freiburg. Einige von ihnen entwickeln dabei heftige Entzündungsreaktionen. Über Langzeitfolgen ist im Moment noch wenig bekannt.
Zum Thema „Lockdown“ äußert er sich zweifelnd. Jja, irgendwie sei er schon richtig, aber vielleicht nicht so stark wie jetzt.
Die Lage in Freiburg beschreibt er wie folgt: Die Fallzahlen steigen; es gibt (noch) weniger Schwerkranke als während der ersten Welle, aber es ist klar, dass der Gipfel der Entwicklung noch nicht erreicht ist; die Testkapazitäten sind an ihrer Grenze angelangt; es sind zum Glück nur wenige Mitarbeiter*innen erkrankt; die Nachsorgeambulanz ist noch mit ehemaligen Betroffenen befasst; Klarheit über Art und Ausmaß von Immunität ist nicht vorhanden; von den 47 Impfstoffen, die sich in Entwicklung befinden, sind 11 bereits in Phase 3; die Behandlung bleibt schwierig, das einzig bekannte hilfreiche Medikament ist Cortison.

Seele

Danach spricht Herr Lahmann von der Abteilung „Seele“.
Er berichtet ebenfalls zunächst die aktuellen Zahlen über psychische Beeinträchtigungen. Demnach klagen derzeit 33 % über Ängste (vorher 15 %), 28 % über Depressive Verstimmungen (vorher 9 %) und über posttraumatische Stresssymptome klagen 24% der Patient*innen (vorher 2 %) – beeindruckende Zahlen.
Geht es bei Corona um ein kollektives Trauma? Herr Lahmann zitiert eine Studie, die den Bombenkrieg von London (Blitz) mit der Corona Situation vergleicht. Die proportionale Sterblichkeit ist vergleichbar. Der große Unterschied ist, dass Corona eine Naturkatastrophe ist und das Kriegsgeschehen ein sog. personales Trauma, also von Menschen verursacht wurde, ist für die Trauma Verarbeitung ein wesentlicher Unterschied.
Er bietet uns den Vergleich mit „Höhenbergsteigen“. Ganz oben um den Gipfel liegt eine Todeszone. Hier lässt es sich, wenn überhaupt, nur ganz kurz überleben. Unterhalb davon ist es möglich, sich anzupassen. Anpassung sei überhaupt ein Merkmal psychischer Verarbeitungund zwar sowohl individuell als auch kollektiv. Die Pandemie ist so gesehen ein Stresstest für die Resilienz (Widerstandsfähigkeit).

Krise und Resilienz

Er zeigt uns das chinesische Schriftzeichen für „Krise“. Dieses ist zusammengesetzt aus den beiden Zeichen von „Gefahr“ und „Chance“. Diese Sichtweise kann die Resilienz unterstützen. Weitere Stützen der Resilienz wären: Emotionale Stabilität, einen (psychischen) Ort der Kontrolle, ein positiver Umgangsstil, psychische Flexibilität, Sport und guter Schlaf, soziale Unterstützung, Arbeitsplatzgestaltung und Führung. Er räumt selbst ein, dass das ein wenig nach Küchenpsychologie klingt.
Wir bekommen noch das PERMA Modell aus der Positiven Psychologie vorgestellt: Positive Emotionen, Engagement, Relationship (Beziehungen), Meaning (Bedeutung, Sinn), Accomplishment (Wirksamkeit). Und im Zweifel hilft auch immer noch – mehr Bewegung!
Nun möchte er noch einen Blick auf den Arbeitsplatz werfen, auf Gesundheit und auf die Leugnung von Corona.

Corona und Arbeit

Gerade im Homeoffice ist es gut, einen festen Arbeitsplatz zu haben, sich anzukleiden, sich feste Zeiten einzurichten, auch was die Erreichbarkeit angeht, die Aufgaben zu planen, sich eine Pausenstruktur zu geben und diese Pausen auch zu gestalten. Wichtig auch, nach der Arbeit mit anderen Menschen Kontakte pflegen.
Auch und gerade im Lockdown ist es wichtig, sich nicht zu isolieren. Eine Studie an Forscher*innen in der Antarktis hat gezeigt, dass Isolation die geistigen Fähigkeiten verkümmern lässt. Auch und gerade im Homeoffice führt das zu eher negativen Gefühlszuständen.

Zeitgenössische Herausforderungen

Allgemeiner zum Thema Gesundheit führt Herr Lahmann den Begriff der „VUCA Welt“ ein. Dieser stammt aus der Wirtschaft, speziell aus der Schulung von Führungskräften. Er bedeutet so viel wie: Volatilität (Flüchtigkeit), Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (Vieldeutigkeit). Diese Begriffe sollen umschreiben, welchen Kräften und Zuständen, zeitgenössische Menschen ausgesetzt sind. Es erfordert viel von den Einzelnen, mit so viel Unwägbarkeiten umzugehen. Es kann zu Gefühlen von Angst und Bedrohung kommen und die Betroffene erleiden häufig einen Mangel an Resonanz.
Zum Abschluss gibt es noch ein Zitat von C.G. Jung, das ich hier nur sinngemäß wiedergeben kann. Es ist nicht die Aufgabe der Therapie den Patienten glücklich zu machen, sondern ihn dazu in die Lage zu versetzen, mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen.

Corona Leugnung

Nun noch ein paar Befunde und Gedanken zum Phänomen der Corona-Leugnung. Es gibt nur wenige Studien, die auch nicht allzu viel Aussagekraft aufweisen können. Es scheint so, dass eher empfindliche und ältere Menschen dazu neigen, zu Leugner*innen zu werden.
Eine gewisse Widerstandskraft scheinen Menschen zu haben, die Vertrauen in die Wissenschaft haben, die gute Rechenfähigkeiten haben, die nicht zu Minderheiten gehören, und die Unsicherheit aushalten können. Jungen Menschen scheinen das weniger gut zu können.
Sein Appell ist, dass es nicht notwendig sei, Sicherheit zu gewinnen, und das Kontrolle eher das Problem, als eine mögliche Lösung ist. „Keep calm and carry on!“

Geist

Nun ist Herr Kortmann für den Aspekt des Geistes an der Reihe.
Er bewirbt zunächst ein Buch, das von der „FRIAS“ (Freiburg Institut for Advanced Studies) gerade veröffentlicht wurde. Sein Titel lautet: „Jenseits von Corona“ und es enthält etwa vierzig Beiträge aus den Geistes- und Sozialwissenschaften.
Inhaltlich beginnt er mit der Frage: „Was wird von Corona bleiben?“ Ist das Ereignis nur eine Delle im üblichen Kurvenverlauf oder hinterlässt die Krise eine echte Veränderung. Einige Gedanken dazu lauten:
Wird die Krise als Chance genutzt, die auch auf andere, drängende Themen der Zeit angewendet werden können, v.a. die Klimakrise.
Immerhin sehen wir, dass entschlossenes wirtschaftliches Umsteuern möglich ist.
Andererseits müssen wir die Erfahrung machen, dass insbesondere Frauen und schlechter ausgebildete Menschen überproportional an der Krise leiden.
Wir müssen auch lernen, dass viele Menschen sich gegenüber Wissenschaft und Medizin sehr skeptisch eingestellt haben.

Was Corona deutlich macht

Die Corona Krise wirkt wie ein Brennglas oder eine Lupe, die bestehende Defizite verstärkt ins Licht rücken und endlich ernsthafte Bemühungen zu deren Beseitigung einfordern.
Weiter entsteht die Einsicht, dass es kein Zurück gibt, weder in eine gute alte Zeit, noch in ein verlorenes Paradies.
Die Krise bietet uns die Chance des Umdenkens. Sie fordert uns auf, uns mehr gemeinwohlorientiert einzustellen. Das wird zum Beispiel bei den Impfstoffen deutlich, sie sollen eben nicht marktwirtschaftlich gehandelt werden können.
Die historische Perspektive zeigt, dass es Traditionslinien in der Seuchenerfahrung gibt. Es gibt sozusagen nichts Neues seit dem 15. Jahrhundert – die Grenzen werden dichtgemacht; es werden Schuldige gesucht, das Unsichtbare wird auf Sichtbares verschoben.
Auf der Positivseite wäre noch zu bemerken, dass Corona einen Digitalisierungsschub bewirkt hat.
Dass trotz starker populistischer Aktivitäten, die Demokratie breites Vertrauen genießt, dass die Regierungen (meist) rational handeln und auch die Gerichte funktionieren.
Auch Verschwörungsmythen sind historisch nichts Neues. Herr Kortmann empfiehlt, mehr miteinander als übereinander zu reden.
Er zieht den Schluss, dass wissenschaftsbasierte Politik bessere Ergebnisse bei der Krisenbekämpfung erreicht und fordert von der Wissenschaft, dass sie klar kommuniziert, was sie weiß, was sie noch nicht weiß und was ihr unbekannt ist.
Da der Zeitrahmen bereits gesprengt ist, werden nur noch wenige Fragen erörtert. Ich bin schon gut aufgefüllt mit diesen Informationen und beende meine Teilnahme.

Die Psychosomatik erkundet „Körperorientierte Psychotherapie“

Körper und Psyche in der Körperpsychotherapie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 14.01.20, von Frank Röhricht, London:
„Körperorientierte Psychotherapie (KOPT) bei somatischer Belastungsstörung“

In der Anmoderation erfahren wir, dass Herr Röhricht sich bereits seit dreißig Jahren mit dem Thema der körperorientierten Psychotherapie befasst. Ich kenne ihn als einen wichtigen Repräsentanten der KOPT, der sich seit Jahren darum bemüht, diese Verfahren wissenschaftlich solide abzustützen.
Herr Röhricht selbst gibt uns dann einen Überblick über den Vortrag:
1. Vorbemerkungen und Definitionen
2. Theorie zur Pathogenese (Krankheitsentstehung) der Somatischen Belastungsstörung (SBLS)
3. Systematik/Rational der KOPT bei SBLS
4. Forschungsergebnisse zur Evaluation der KOPT bei SBLS
5. Zusammenfassung und Diskussion

Vorbemerkungen und Definitionen

Herr Röhricht erläutert uns die Neuerungen in den Diagnoseschlüsseln DSM und ICD. Die Diagnose SBLS ersetzt nun das, was früher „somatoforme Störung“, „Hypochondrie“ etc. genannt wurde. Wenn bei früheren Diagnosen noch die Unterscheidung zwischen medizinisch/somatischen und psychischen Gründen unterschieden wurde, so ist diese Zweiteilung nun hinfällig. Im DSM-5 heißt es nun:

A. Somatische Symptome
– Belastend oder zu Störungen des Alltagslebens führend
B. Psychologische Kriterien bezogen auf körperliche Symptome
– Übertriebene und anhaltende Gedanken über Ernsthaftigkeit
– Anhaltend hohes Angstniveau bzgl. Gesundheit/Symptome
– Gesundheitssorgen (Verhalten)
C. Symptombelastung ist persistierend (> als sechs Monate)
D. Einteilung in leicht/mittel/schwer und +/- Schmerzdominanz

Der lange Weg zur Diagnose

Allerdings finden sich die meisten SBLS Betroffenen zunächst bei Haus- und Fachärzten – Internisten, Kardiologen, Neurologen, Gynäkologen, Zahnärzten oder Rheumatologen. Ebenfalls typischerweise leiden die Betroffenen unter verschiedenen Beschwerden.
Schaut man darauf, wie sich SBLS Patienten verhalten, finden sich folgende Merkmale:

– Sind oft überzeugt, dass körperliche Beschwerden Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung sind („sind real, nicht eingebildet“ = Organogenese)
– Benutzen zumeist funktionale („Maschinen Körper“) Metaphern für die körperlichen Beschwerden
– Denken, dass Freunde/Familie und Ärzte die körperlichen Beschwerden nicht ernst nehmen
– Die Beschwerden machen Sorgen/Angst um die Zukunft

Bei der Untersuchung mit Hilfe eines Fragebogens zum Körperbild stellt sich heraus, dass bezogen auf Körperakzeptanz, Vitalität, Körperkontakt, sexuelle Erfüllung und Selbstaktualisierung, die Betroffenen deutlich niedrigere Werte erzielen als Vergleichsgruppen. Das Körperbild ist also ein wichtiges Merkmal für SBLS Betroffene.
Die SBLS verdeutlicht wie kaum eine andere Krankheit die Verbundenheit von Leib und Geist. Die kartesianische Spaltung in Körper/physikalisch und Gehirn/geistig bietet keine Zugangsweise zu einem angemessenen Verständnis.

Theorie zur Pathogenese (Krankheitsentstehung) der Somatischen Belastungsstörung (SBLS)

Eine große Schwierigkeit bei der Behandlung von Betroffenen ist, dass sie psychologische Erklärungen ihres Erlebens ablehnen. Um also überhaupt in eine therapeutische Beziehung einsteigen zu können, ist es nötig, innerhalb der Erlebniswelt der Betroffenen zu kommunizieren. Das heißt, es werden körperliche Zusammenhänge aufgezeigt, die sich auch auf das Befinden auswirken.
Dazu gehört das neuronale Verständnis der Schmerzwahrnehmung. Der Umstand, dass körperlicher und emotionaler Schmerz sehr ähnlich verarbeitet werden, und dass Stress dazu führt, dass Schmerzen intensiver wahrgenommen werden. Ebenso wie starke Emotionen oder eine starke Fokussierung auf den Schmerz.
Dazu gibt es nun ein Modell von verschiedenen Faktoren, die bei SBLS (aber nicht nur dort) zusammenwirken.

1. Disposition und vulnerable Persönlichkeitsstile – frühe Schmerzerfahrung, Traumata, (Selbstbesorgnis/negatives Selbstkonzept
2. Körperliche Symptome als Affektäquivalent – gehemmte Affektabfuhr
3. Konversionsbildung – Konfliktäquivalent
4. Sekundärer Krankheitsgewinn – z.B. Zuwendung
5. Erlerntes (maladaptives) Verhaltensmuster – pathologisches Krankheitsverhalten, Konditionierung

Eine Metastudie hat ergeben, dass SBLS Patient*innen Schwierigkeiten damit haben, ihre Aufmerksamkeit flexibel von emotionalen Inhalten zu lösen.
Fast alle Betroffenen verfolgen eine von zwei Strategien im Umgang mit Wut – exzessive Unterdrückung oder unkontrollierter Ausdruck.
Ihre Fähigkeit, ihr inneres Erregungsniveau zu regulieren, ist beeinträchtigt.

Wie sieht nun das neue Paradigma zum Verständnis leib-seelischer Verwobenheit aus? Das Zauberwort heißt „Embodiment“ – also etwa Verkörperung. Dieses Konzept betont, dass:

Kognition situativ und verkörpert ist („extended mind“)
Kognition ist für Handlungen bestimmt ist, aber auch denken ohne Handlungen  im Körper verwurzelt ist
Bewegung ist en-aktiv: Wir erfahren die Welt durch ein teilnehmendes, verkörpertes in-der-Welt-sein
Es gibt so etwas, wie eine primäre Intersubjektivität, nämlich die Fähigkeit, die Intentionen eines anderen direkt zu verstehen (explizite motorische Spiegelung – Spiegelneurone)

Systematik/Rational der KOPT bei SBLS

In diesem Teil des Vortrags erfahren wir zunächst die Ergebnisse einer Metastudie über die Wirksamkeit von Therapieverfahren. Das Ergebnis ist, dass psychologische Therapien eine etwas höhere Effektstärke erzielen als eine reine Grundversorgung. Unwirksam hingegen sind wiederholte Untersuchungen, das Aufsuchen vieler Experten oder die Überweisung in psychiatrische Institutionen.
Gut funktioniert eine optimierte Versorgung durch den Hausarzt, mit diagnostischer Offenheit, einer tragfähigen therapeutischen Beziehung, durch therapeutisches Zuhören und die Flexibilität der Therapeut*innen.

Zur Flexibilität zählt auch das Behandlungskonzept, z.B. durch progressive Muskelentspannung. Hinzu kommt noch das Fachgespräch mit Kolleg*innen und spezielle Behandlungsformen für einzelne Syndrome (Reizdarm, Fibromyalgie …)

Wie kann nun ein gemeinsames Verständnis von Therapeut und Patient gelingen? Eine erfolgreiche Strategie besteht darin, die Patient*innen über den Zusammenhang von Stress und Schmerz nahezubringen. Ganz grundlegende biologische, somatische Prozesse können die Leiden gut erklären. Das Angstwort „Psyche“ muss dabei nicht genannt werden. Dies öffnet einen besonders effektiven Zugang durch die KOPT, die ihrerseits eine sehr gründliche Kenntnis dieser Verbindungen besitzt. Sie versteht aus ihrer Tradition die Erkrankung als Körperbildstörung und vertritt die These, dass:

„Therapie nur dann wirksam ist, wenn die perzeptiven, kognitiven, affektiven und psychomotorischen Ebenen gleichzeitig angesprochen werden.“

Eine Betrachtungsweise, die inzwischen sogar von der Verhaltenstherapie teilweise übernommen worden ist und in Form von Achtsamkeitsübungen Anwendung findet.

Körperorientierte Psychotherapie

Da die KOPT nach wie vor wenig bekannt ist, erklärt Herr Röhricht kurz, was sie ausmacht. „Körperpsychotherapie ist eine Behandlung mit den Mitteln des Körpers und der Psyche.“ Und „Körperpsychotherapeutische Methoden beinhalten im Unterschied zu den Körpertherapien immer auch Theorien und Techniken der Arbeit mit dem Psychischen.“
Es gibt inzwischen auch eine Theorie der Wirkfaktoren der KOPT

Allgemeine, wie: kongruente empathische Beziehungsentwicklung, erlebniszentrierte, verkörperte Interaktionen, Wechselwirkung von Denken und Fühlen, kreative Ressourcenaktivierung, Affektregulation, freisetzen unterdrückter Emotionen, korrektive emotionale Erfahrungen, Desensibilisierung

Spezifische, z.B.: Focusing (Körperempfindungen, Wahrnehmungen), Affekt-Motorik (Muster, Abwehr), Regulative Atemtechniken (Erleben), Bedeutungsgehalt der Körpersprache – die Förderung des körperlichen Ausdrucks, Handlungsdialogische Aktivierung und Erkundung (Gedächtnis, Narrative, Körperbild), Stabilisierung durch Grounding und Holding, Bewegungsimprovisation.

Insgesamt ist dieser Zugang erlebniszentriert und erfahrungsbezogen. Zwischen dem expliziten und dem impliziten Gedächtnis kommen verschiedene Aspekte zum Tragen. Diese umfassen die Kognitionen, Körperwahrnehmung, Intero- und Exterozeption, das Bewegungsverhalten, die Psychomotorik, Emotionen und Affektorientierung, Instinkte und Antriebe.

Fallbeispiel

Herr Röhricht schildert uns eine kurze Therapie-Sequenz um das Vorgehen der KOPT zu erläutern. Eine körperliche Befindlichkeit (Druck) wird zu einer körperlichen  Darstellung, diese Darstellung wird vom Therapeuten gespiegelt und vom Patienten benannt und erläutert, was zu wichtigen biografischen Erinnerungen führt (Prügel).

Körperorientierte Psychotherapie in der Gruppe

Nun lernen wir das Manual einer Gruppentherapie kennen, die über drei Phasen in zwanzig Sitzung eingeteilt ist. Die Manualisierung ist der Forschung geschuldet, denn viele Kolleg*innen lehnen eine manualisierte Therapie ab. In einem Erstgespräch werden die Patienten über das Vorgehen aufgeklärt/informiert, verschiedene Fragebogen kommen zum Einsatz. Die erste Phase der eigentlichen Therapie befasst sich mit der therapeutischen Beziehung und der Körperexploration. Ab der sechsten Sitzung geht es dann um Emotionen und Symptome im Kontext situativer Einflüsse. Die letzte Phase befasst sich dann mit der (Re)Konstruktion, der Affektregulation und alternativen Verhaltensweisen.

Auch hierzu bekommen wir einige Beispiele für die erste Phase dieses Konzepts. Das können Körperreisen sein, Selbstberührungen mit Objekten, Steh-Übungen (Grounding), sich einen Platz im Ram suchen, oder verschiedene Gangarten erkunden.
Beispiele für die Bearbeitung der therapeutischen Beziehung wären: nonverbale Kommunikation, gespiegelte körperliche Ausdrücke oder die Rekonstruktion von körperbezogenen Erinnerungen.

Forschungsergebnisse zur Evaluation der KOPT bei SBLS

Es gibt inzwischen zahlreiche Studien zur Wirksamkeit von KOPT. Zusammenfassend kann man sagen, dass KOPT wirkt und zwar im ganzen Spektrum von psychosomatischen bis zu psychiatrischen Erkrankungen.
Eine Herausforderung bleibt allerdings bestehen. Der erhebliche Widerstand von SBLS Betroffenen, sich auf irgendetwas einzulassen, was auch nur im Entferntesten als „Psycho“ identifiziert wird.
Ein Ergebnis der Forschungen ist eine Information für die hausärztliche Versorgung – woran erkennt der Allgemeinmediziner einen SBLS Patienten? Er/Sie hat unspezifische Beschwerden, häufig Schmerzen und das an mehreren Organsystemen. Es gibt häufige Klagen über Müdigkeit und Erschöpfung ohne somatische Diagnose, körperliche Symptome treten in Zusammenhang mit Stress oder belastenden Lebensereignissen auf, die Somatisierung geht einher mit Angst, Depression und Anspannung, Ärzte aller Art werden häufig und mit wechselndem Beschwerdebild besucht, es gibt viel Facharztüberweisungen und zahlreiche diagnostische Tests.

Erfolge von KOPT

Nach erfolgter Therapie geht die Anzahl der Arztbesuche zwar zurück, aber die Suche nach Unterstützung von anderen ändert sich nur wenig. Aber viele Patient*innen profitieren von ihrer Therapie. Sie sagen dann Sätze wie: „Ich habe gelernt nett zu mir zu sein. Es hat mein Leben wirklich verändert und mich gestärkt.“ Eine Therapeutin fasst ihre Erfahrungen in diese Worte: „Am Ende der Gruppen konnten die meisten Patient*innen eine realistischere Selbsteinschätzung vornehmen und hatten Vorstellungen davon entwickelt, wie sie sich selbst im Alltag besser unterstützen können.“

Zusammenfassung und Diskussion

Herr Röhricht fasst zusammen:
Die besondere körperimmanente, erlebnisorientiere Zugangsweise der KOPT bietet sich in der Behandlung der SBLS als patienten-bezogen und akzeptabel an
Die KOPT bietet therapeutische Zugangsweisen zu der komplexen Ätiopathogenese der SBLS an: Alexithymie, Körperbildstörung, Reizschwellen-Amplitude, Traumata etc.
Das Manual kann in Fortbildungen den klinisch arbeitenden Therapeut*innen als Leitlinien vermittelt werden.
Es gibt noch Raum für weitere Forschungsarbeiten

Viel Beifall für diesen reichhaltigen und dichten Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet „Mentalisierung“

Mentalisieren als Wirkfaktor der Psychotherapie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.11.19, von Sebastian Euler, Zürich:     „Mentalisieren als Wirkfaktor in der Psychotherapie“

Herr Euler beginnt seinen Vortrag mit der Erläuterung des Begriffs „Mentalisierung“. Da das Begriffsverständnis nicht ganz einfach ist, macht er einen Umweg über die Begründer des Begriffs und der darauf aufbauenden Therapiemethode, dabei handelt es sich um Peter Fonagy und Antony Bateman. Diese sagen von ihrer Methode: „Der Fokus auf Mentalisierung stellt eher eine Feinjustierung als eine Innovation dar.“ Dieser Satz klingt bescheiden und meint, dass auch andere Therapieformern mit Mentalisierung arbeiten, allerdings meist, ohne es erkannt zu haben. Denn:

„Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren […] der grundlegende gemeinsame Faktor der psychotherapeutischen Behandlung ist und dass infolgedessen jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsversorgung arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens […] profitieren wird.“

Das klingt nun eher unbescheiden und bedarf eines Nachweises.

Die Erfolgsgeschichte der MBT

Dass die sog. „MBT“ wirksam ist, wurde in zwei Langzeitstudien eindrucksvoll nachgewiesen und dabei handelt es sich um Therapien von Persönlichkeitsstörungen, die als besonders anspruchsvoll gelten. Wie lassen sich solche Erfolge erklären? Herr Euler stellt uns den Therapieplan vor. Aus diesem geht hervor, dass nach Phase der Diagnostik und der Krisenplanung eine Behandlungsvereinbarung geschlossen wird. Darauf folgen zwölf Sitzungen zur Psychoedukatio, also Aufklärung darüber, was Mentalisieren ist, und erst dann beginnt die eigentliche Therapie mit Einzel- und Gruppensitzungen. Insgesamt werden so 18 von 24 Monaten mit Vorbereitung auf die Therapie verbracht.
Der Erfolg hat nun dazu geführt, dass die MBT Anwendung auch auf andere Diagnosen ausgeweitet wurde. Das geht quer durch die Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei Depressionen oder Traumfolgeerkrankungen. Eine weitere Folge des Erfolgs ist auch, dass „Mentalisierung“ in immer mehr fachwissenschaftlichen Artikeln genannt wird.

Was heißt „Mentalisieren“?

Nun also der zweite Anlauf: Was ist mit ‚Mentalisieren‘ genauer gemeint?

„Mentalisieren heißt, sich auf die inneren, mentalen Zustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Überzeugungen etc.) von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrundeliegend zu begreifend und darüber nachdenken zu können.“

Als englische Kurzform ausgedrückt: „Holding mind in mind.“ Dieser Bestimmung liegt zugrunde, dass Menschen intentional, also mit Absichten denken und handeln, bzw. unterstellen wir das immer unseren Mitmenschen. Zum Zweiten sind Denkprozesse „opak“ also hinter einem Schleier verborgen, so dass wir sie nicht sehen können.
Herr Euler zeigt uns noch ein Diagramm, auf dem abgebildet ist, was überhaupt mentalisierbar ist. Es geht einerseits um die Selbstwahrnehmung und andererseits um die Fremdwahrnehmung. In beiden Richtungen können wir explizite, also ausgesprochene, Gedanken wahrnehmen und auch die emotionalen Zustände von uns selbst und dem Anderen sind uns potenziell zugänglich. Es zeigen sich also vier Pole, die Affektbewusstsein, Psychisches Bewusstsein, Achtsamkeit und Empathie heißen.
Daraus lassen sich nun vier polare Dimensionen von Mentalisierung, bzw. beeinträchtigter Mentalisierung ableiten.

  • Kognitiver Prozess – Affektiver Prozess
  • Selbst-orientiert – zum Anderen orientiert
  • Nach innen fokussiert – nach außen fokussiert
  • Automatisch (implizit) – Kontrolliert (explizit)

Darauf folgt, so Herr Euler: „Mentalisieren integriert somit intrapsychische und interpersonelle Aspekte.“

Neuro-Imaging und MBT

In dieser Vorlesungsreihe dürfen einige Hirnscans nicht fehlen und auch heute bekommen wir Bilder von Gehirnen mit eingefärbten Zonen zu Gesicht, die wohl belegen können, dass diese vier Dimensionen sich auch neurologisch begründen lassen. Der Nutzen dieser Dimensionen ergibt sich in der Diagnostik, in der jede Persönlichkeitsstörung ein spezifisches Profil aufweist. So zeigt sich bei der Borderline Persönlichkeitsstörung eine geringe interne Mentalisierung, eine sehr hohe Externe Mentalisierung, das Selbst und der Andere sind gering mentalisiert, aber die Affekte wiederum sehr hoch. Andere Persönlichkeitsstörungen zeigen typische andere Profile. Diese Befunde lassen sich gut mit Diagnose Manual DSM-5 in Verbindung bringen und besitzen auch viel Ähnlichkeit mit dem OPD Manual.

Entwicklung der Mentalisierung

Wie erlernen Menschen nun das Mentalisieren? Die Fähigkeit beruht auf der „Theory of Mind“, womit die Fähigkeit gemeint ist, dass Menschen sich vorstellen können, dass andere Menschen die Welt auf ähnliche und bewusste Weise wahrnehmen wie man selbst. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Verlauf Persönlichkeitsentwicklung, muss also erworben werden. Einen hohen Einfluss auf diese Entwicklung spielt die Bindungsbeziehung und deren Gelingen. Noch differenzierter betrachtet geht es um „kontingente (also passende/angemessene) und markierte Spiegelung und das „Spiel mit der Realität“. Wir sehen dazu einen kleinen Beispielclip über eine Mutter – Kleinkind Interaktion, in der schön zu sehen ist, wie sich Mutter und Kind aufeinander einstimmen. Die Mutter nimmt die Äußerungen des Kindes auf und gibt sie leicht variiert zurück.
Falls diese Art der Abstimmung in der Beziehung nicht ausreichend erfahren wird, führt der eine Wegzu einer Hyper-Aktivierung des Bindungssystems, was zu einer unsicher-ambivalenten Bindung führt. Der andere Weg wäre die Hypo-Aktivierung. Diese mündet in die unsicher-vermeidende Bindung. Die letztere ist hoch korreliert mit der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die erstere mit der Borderline Persönlichkeitsstörung.

Wie gehen Betroffene damit um?

Was hat das mit den Patient*innen zu tun? Erwachsene mit entsprechenden Bindungserfahrungen erleben unbewusst Bindungsstress, sobald sie in Beziehung treten. In einem gewissen Ausmaß sind sie in der Lage, Kontrolle über sich auszuüben, aber ab einem bestimmten Umschaltpunkt beginnen sie unkontrolliert zu handeln.
Zur Anschauung schildert uns Herr Euler eine kleine Fallvignette von einer Gruppensitzung. Darin zeigt sich, dass Beziehungsstress nicht erkannt (mentalisiert) und damit auch nicht ausgesprochen werden kann. Stattdessen beginnt der Patient körperlich zu agieren.
Die Betroffenen wären keine Menschen, wenn sie nicht Auswege aus dieser Situation kennen würden. Insbesondere drei Strategien sind bekannt.

1. Der Teleologische Modus – ins Handeln gehen
2. Der Äquivalenz Modus – die innere Wirklichkeit mit der äußeren gleichsetzen
3. Der Als-ob Modus – Abkapselung und so tun, als ob man noch in Beziehung wäre

Wir nähern uns langsam dem Ende des Vortrags und bekommen noch einmal ein Zitat von Fonagy zur MBT: „Ein einfaches Set von Prinzipien, das Wohltat maximiert und Leid minimiert …“ (Übersetzung B.L.)

Therapeutische Herangehensweise

Und natürlich: „Die Haltung des Therapeuten ist von entscheidendem Stellenwert.“ Diese Haltung lässt sich als „Haltung des Nicht-Wissens“ und als „Zusammenarbeits-Haltung“ beschreiben.
Das Interventionsspektrum der MBT wird uns noch einmal im Überblick präsentiert:

• Empathisches Validieren (Wertschätzen)
• Herausfordern z.B. durch neugieriges Nach- und Hinterfragen
• Die Affekte herausarbeiten, die in Verhalten oder in Handlungen verborgen sind, die Gefühle identifizieren und ihren Kontext ermitteln
• Affekte, die in der Sitzung auftreten identifizieren und gemeinsam einordnen
• Mentalisieren, also bewusst machen des Geschehens in der Beziehung von Therapeut und Klient

Der Bindungsstress lässt nach, wenn die Fähigkeit zu Mentalisieren weiter entwickelt ist.
Wir werden wieder einmal daran erinnert, dass die therapeutische Beziehung der robusteste Wirkfaktor von Psychotherapien darstellt und dass die Qualität der Therapieallianz durch Empathie, Wertschätzung, Zielkonsens und Zusammenarbeit steigt. Damit ist auch eine Warnung an erfahrene und spezialisierte Therapeut*innen verbunden. Sie laufen nämlich Gefahr, die Mentalisierung ihrer Patient*innen auszuschalten, weil sie als Experten schon alles wahrnehmen können.
Der Vortrag endet mit einem Filmausschnitt von einem „Gespräch“ zweier Kleinkinder.
Viel Beifall für diesen sehr fundierten Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Rituale

Rituale strukturieren das Leben

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.11.19 von William Sax, Heidelberg:
„Ritual als Therapie“

Einleitung

Professor Sax beginnt mit dem Gedanken, dass psychische Gesundheit ein global wünschenswertes Ziel sei. Aber was bedeutet „psychische Gesundheit“? Wer definiert das und wie wird es definiert? Er berichtet über das „Movement for global mental health“, eine Organisation, die den Mangel an Psychiatern in ärmeren Weltgegenden als Verletzung der Menschenrechte betrachtet. Die Mitgliedsorganisationen fordern mehr Psychiater für Arme.
Aber darin liegen auch potenzielle Probleme. Je nach Kultur, in der moderne psychiatrische Mittel zum Einsatz kommen, können diese Mittel auch Schaden anrichten. Darüber hinaus ist nicht klar, welchen Interessen diese Art von Intervention dient. Der rein materialistische Zugang zu psychischen Erkrankungen birgt Risiken und macht blind für andere Arten des Umgangs mit psychischen Erkrankungen.

Rituale und Therapie

Es gibt weltweit Heilungstraditionen, ritueller und religiöser Art, mit denen ein Großteil von Problemen aller Art – auch psychischer Krankheit – behandelt werden. Das trifft nicht nur auf Kulturen des globalen Südens zu, sondern auch auf die USA und Europa. Erstaunlicherweise gibt es dazu so gut wie keine Forschungen. Ein der weniger Studien, die in Indien durchgeführt wurde, zeigt, dass ca. 80% der psychischen Probleme mit einem traditionellen Verfahren behandelt wurde. Leider fehlen hier die Studien über Wirksamkeit und Erfolgsdauer der Behandlungen.
Herr Sax vollzieht noch einmal den Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds nach. Wie schon gesagt führte die Dominanz der materialistischen Weltauffassung dazu, dass in einem ersten Schritt die Seele verschwand und in einem zweiten der Geist zum Gehirn reduziert wurde. Diese Entwicklung hat einerseits eine große Menge an wertvollem Wissen gewonnen, es andererseits allerdings unmöglich gemacht, in der Psychiatrie nach Sinn und Bedeutung zu fragen. Weiter noch führt diese Art den Menschen als Maschine zu betrachten dazu, dass die Menschen diese Sichtweise übernehmen und sich selbst ebenso als Maschinen betrachten.

Rituale

Was ist ein Ritual? Zahlreiche Anthropologen und Ethnologen sind sich nach jahrzehntelanger Diskussion nicht darüber einig geworden, wie ein Ritual zu definieren wäre. Für Ritual Anwender sind die Vollzüge eine „Technik“, und nicht eine „Heilung“, es wird also schon schwierig, wenn Wissenschaftler versuchen, sich mit Ritualteilnehmern über die Handlungen auszutauschen.

Rituale können sehr, sehr unterschiedlich auftreten, denn sie dauern kurz oder länger (manchmal Jahre), sind vorübergehend, gelegentlich oder regelmäßig und dabei mehr oder weniger aufwendig. In der Regel sind sie Ausdrucksstark und zur Verblüffung der Wissenschaft nicht instrumentell. Das ist ein Merkmal eines vormodernen Weltbilds und damit unvereinbar mit modernen Wissenschaften.

Dass Rituale wirken, ist vielfach belegt, aber wie wirken sie? Dazu gibt es, mangels Definition, kaum Antworten. Wirken sie ähnlich wie Kräutertränke, geht es um wiedergefundenes Vertrauen, wird die Welt neu geordnet? Man könnte alle Hypothesen bejahen, aber hätte noch keine befriedigende Antwort.

Familie und Ritual

Herr Sax zeigt uns einen kurzen Filmausschnitt aus einer indischen Provinz, wo er einem Orakel beiwohnte. Der Gang zum Orakel ist in der Regel der erste Schritt, wenn ein Familienmitglied unerklärliche Symptome zeigt. Das Orakel versetzt sich in Trance und befragt die Familie: „Ist die Familie vereint?“ Und falls nicht: „Ist es möglich, dass die Familie sich vereinen kann?“ Damit berücksichtigt das Orakel, dass die allermeisten Fälle von unerklärlichen Krankheiten auf Familienstreitigkeiten zurückgehen.
Die Familienverbände sind in dieser Weltgegend oft die einzige Quelle von Moral und materiellen Ressourcen. Man opfert sich immer wieder für einzelne Familienmitglieder auf. Dabei entstehen auch Neid und Missgunst, Rachegelüste, Kränkungen u.v.m.

Die moralischen Gebote des Hinduismus oder auch des Islam verbieten nun, Rache zu nehmen, insbesondere verbieten sie die Nutzung von schwarzer Magie. Aber offenbar wird dieses Verbot nicht immer eingehalten. Für westlich sozialisierte Menschen erstaunlich ist, dass schwarzmagische Flüche offenbar tatsächlich Wirkung entfalten und zwar bis hin zum Tod des Verfluchten.

Kosten des Rituals

Aber falls die Familie sich vereinigen kann, wird ein aufwändiges und teures Ritual verordnet. Die ganze Familie, auch weit entfernt wohnende Mitglieder, müssen daran teilnehmen. Die Zeit der gemeinsamen Vorbereitung zur Durchführung des Rituals bringt die Familie wieder zusammen und schafft so die Möglichkeit einer Veränderung.

Auch in muslimischen Kulturen gibt es ähnliche Verfahren. Dort sind es eher „Dschinns“, das sind unsichtbare Wesen, die aus rauchlosem Feuer erschaffen sind, die im Auftrag des einen Menschen von einem anderen Menschen Besitz ergreifen. Es gibt verschieden Wege, diese Dämonen zu exorzieren und es gibt unterschiedlich seriöse Exorzisten, die diese Fähigkeit besitzen. Auch hier bekommen wir einen kleinen Film gezeigt.

Der Vorzug der Besessenheit ist, dass die Kranken von einer Krankheitsschuld entlastet werden. In muslimischen Kulturen wird der Dschinn dann möglichst gefangen und getötet. Anders in Hindu Kulturen. Dort werden die Dämonen nach Möglichkeit versöhnt. Diese Art der Herangehensweise ermöglicht den Kranken die Einsicht, wie sie sich verletzlich gemacht haben.

Nachwort

Es gibt also einen gewaltigen Bereich von sozio-psychischen Phänomenen, die von der Wissenschaft, insbesondere der medizinischen Wissenschaft, ausgeblendet werden. Ein ähnliches Schicksal wie die Placebo oder Homöopathie Forschung, denn damit lassen sich keine Karrieren starten.

Herr Sax macht uns klar, dass viele wissenschaftlich Verfahren der Vergangenheit heute als unwissenschaftlich gelten und dass sicher auch in der Zukunft viele heutige wissenschaftliche Methoden als unwissenschaftlich entlarvt werden dürften. Das Phänomen „Gesundheit“ (das sich übrigens auch nicht definieren lässt) ist mit so vielen Aspekten verbunden, dass die Reduktion auf die materiellen Aspekte eine Art selbstverordneter Blindheit gleichkommt.
Es kommt darauf an, Geist und Körper wieder zusammenzuführen und wenn dabei die Seele auch noch eine Rolle spielen darf, wäre das wohl kein Fehler.