Die Psychosomatik erkundet die Spiritualität

Psychotherapie und Spiritualität

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 29.10.19 von Harald Walach, Berlin:
„Spiritualität, Verbundenheit und Psychotherapie“

Erfahrung

Herr Walach stellt uns zu Beginn ein Zitat von John Duns Scotus aus dem fünften Jahrhundert vor: „Wer eine Erfahrung gemacht hat, hat täuschungsfreie Kenntnis“. Mit dieser Definition beginnt er, uns einen Begriffsapparat vorzustellen, der dabei helfen soll, seinen Denkansatz nachzuvollziehen.
In aktueller Sprache formuliert ist Erfahrung:

„Eine kognitiv-affektive Einsicht, die nicht notwendigerweise kategorial einzuordnen ist, aber normalerweise in kategorialem Rahmen ausgedrückt wird, damit sie kommunizierbar wird.“

Hier wird schon deutlich, dass Herr Walach nicht nur Psychologe sondern auch Philosoph ist.
Dass Erfahrungen mehrdeutig sein können, wird durch das Foto eines Papageis veranschaulicht, denn erst bei sehr genauem Hinsehen wird deutlich, dass es sich bei dem Bild um eine kunstvoll bemalte Frau handelt. Eine Erfahrung besteht also aus einer emotional-affektiven und kognitiven Einsicht, der zweitens ein Handlungsimpuls folgt.

Spiritualität

Der nächste Begriff, den Herr Walach definiert, ist „Spiritualität“. Es geht dabei darum, das Leben auf Ziele und Wirklichkeit, über die Belange des eigenen Ichs hinaus, auszurichten.
Spiritualität ist aber auch eine Haltung, die meistens aus einer Erfahrung stammt, einer eigenen Erfahrung oder einer kulturell vermittelten.
Zur Abgrenzung definiert er nun noch „Religion“. Diese ist ein System von Interpretationen bzw. Geschichten, Ritualen und Handlungsschemata, bzw. ethischen Normen. Darin drücken sich spirituelle Erfahrungen aus und haben das eigentliche Ziel, solche Erfahrungen neu zu ermöglichen.
Was ist nun aber eine spirituelle Erfahrung? Es ist die Erfahrung einer absoluten, transzendenten, über das eigene Ich und seine unmittelbaren Belange und Bedürfnisse hinausgehende Wirklichkeit.

Veränderung und Psychotherapie

Das Ziel einer Psychotherapie ist u. a. eine emotional-affektiv getragene kognitive Einsicht in dysfunktionale Verhaltens- und Beziehungsmuster. Sie ermöglicht neue, verändernde Bindungserfahrungen, Erfahrungen von Selbst-Wert und Selbstwirksamkeit, sowie die Einsicht in Abhängigkeiten und missbrauchende Beziehungen und diese Liste ließe sich sicher noch fortsetzen.
Menschen, die von psychischen Problemen betroffen sind, haben häufig die Erfahrung von Vereinzelung und mangelnder Verbundenheit. Ihre Erfahrung ist in der Regel vom jeweiligen Augenblick, der Gegenwart, abgekoppelt. Dabei leben depressive und Suchtkranke Menschen eher in der Vergangenheit. Menschen mit einer Angstthematik eher in der Zukunft, aber beide Gruppen verpassen gewissermaßen die Wirklichkeit der Gegenwart.

Phänomenologie der spirituellen Erfahrung

Anhand weiterer historischer Schriften bringt uns Herr Walach die Merkmale einer spirituellen Erfahrung näher. Dazu nutzt er die Auswertung von unzähligen Berichten aus vielen Kulturen quer durch die Geschichte.

• Einsicht
o Schlagartig „wie ein Blitz“, „Erleuchtung“
o Holistisch-ganzheitlich, die ganze Wirklichkeit betreffend

• Erfahrung von Liebe
o Oft als Liebe Gottes interpretiert, oder als eine liebevolle Zuwendung des Universums

• Erfahrung von Verbundenheit mit Allem: Menschen, Tieren, Natur
o Der Andere, das bin ich“ – „Ich und die Welt sind eins“

• Verlust der Angst vor dem Tod
o Phänomenologisch manchmal Ähnlichkeit mit Nahtoderfahrungen

• Anhaltende Wirkung, tiefgreifende Veränderung der Person

Wie gesagt finden sich diese Erscheinungen durch alle bekannten Zeiten. Dasselbe gilt für das Phänomen, dass diese Erfahrung von außen, also von anderen Menschen, oft nicht verstehbar ist. Betroffene werde als Abweichler erlebt und nicht selten auch als solche behandelt. Das gilt auch noch in der Gegenwart, denn unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wird diese Erfahrung als „abweichend“ klassifiziert.
Anders, wenn diese Erfahrung im Rahmen eines religiösen Systems gemacht wird. Die Erfahrung wird nun eher religiös oder mystisch genannt, z. B. „Satori“ im Zen Buddhismus oder „Unio mystica“ in christlichen Traditionen.

Spiritualität und Wissenschaft

Ein näherer Blick auf die spirituelle Erfahrung ergibt, dass sie primär die Erfahrung eines subjektiven Bewusstseinsakts ist. Eine Erfahrung von Wirklichkeit von innen heraus. Erst im zweiten Schritt erfolgt nun eine Interpretation, auf der wiederum sozial-politische Institutionalisierungen aufbauen. Diese sorgen für eine Kanonisierung von Schriften und Lehren, die wiederum rekursiv interpretiert und angepasst werden.

Natürlich darf bei einer wissenschaftlichen Betrachtung eine Statistik nicht fehlen. Wir sehen die Ergebnisse einer Umfrage, an der 895 deutschen Psychotherapeuten teilgenommen haben. Immerhin 65 % von ihnen glauben an eine höhere Wirklichkeit. Ein starkes Drittel bezeichnet sich als spirituell und ein Fünftel als religiös. Nach spirituellen Erfahrungen befragt, gibt nur ein gutes Drittel an, noch nie so eine Erfahrung gemacht zu haben. Ein stärkeres Drittel allerdings hat diese Erfahrung sogar als öfter als ein- oder zweimal gemacht. Eine Umfrage aus Neuseeland, Kanada und den USA erbrachte ähnliche Ergebnisse.

Spiritualität und Gesellschaft

Spiritualität scheint also etwas seit langem Bekanntes zu sein, offenbar etwas völlig Normales. Wenn das so ist, stellen sich einige Fragen:

Warum

• gibt es keine „Spiritualitätskolumne in Zeitungen, ähnlich wie „Beziehungskolumnen“?
• ist sie kein öffentliches Thema?
• ist sie gefährlich für akademische Karrieren?
• gibt es darüber so relativ wenig in der wissenschaftlichen Literatur?
• kommt sie in der Psychotherapieausbildung nicht vor?

Herr Walach hat einige Vermutungen dazu:

Weil

• Wissenschaft als Motor und Erbin der Aufklärung oft implizit eine materialistische Weltanschauung transportiert oder impliziert
• die Errungenschaft der Aufklärung, die Trennung von Staat/Öffentlichkeit und Kirche/Religion, als bedeutsam gesehen wird und eine Bedrohung befürchtet wird
• viele Spiritualität und Religion verwechseln
• die Wissenschaft keine Methodik und Systematik der „inneren Erfahrung“ entwickelt hat
• das Metaphysikverbot des Neopositivismus noch fortwirkt

Wissenschaft und Spiritualität – eine historische Betrachtung

Wissenschaft versteht Herr Walach als:

„Ein kollektiver Versuch, die Welt zu verstehen und dabei Irrtum so gut als möglich zu vermeiden.“

Für ein besseres Verständnis betrachtet der Vortragende nun noch die Geschichte der Aufklärung, denn diese ist auch die Geschichte der Wissenschaft. Die Aufklärung hat die Rationalität von der dogmatisch-moralischen Bevormundung und religiöser Kontrolle befreit. Moderne Astronomie statt geo-zentrischer Weltsicht, die Evolutionstheorie, die Psychologie, sowie die Psychoanalyse und die Skepsis. Aber, mit der Religion wurde auch die Spiritualität als Thema verbannt. Gewissermaßen ein „post-hypnotischer Befehl“ des Positivismus.

Daraus hat sich eine Dominanz eines „krypto-materialistischen Weltbilds“ entwickelt. Damit meint Herr Walach, dass der Materialismus eine implizite Voraussetzung des modernen wissenschaftlichen Weltbilds ist. Als sog. „absolute Voraussetzung“ kann der Materialismus aber nicht mehr hinterfragt werden. Er ist notwendig und gleichzeitig begrenzend, aber selbst nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Diskurses. Diese Sichtweise führte zur Betrachtung des Menschen als Maschine.

So über den Menschen zu  denken, lässt sich mindesten bis ins 17te Jahrhundert zurückverfolgen. Der bekannteste Denker und Mitbegründer war sicherlich René Descartes. Seine Sichtweise war in dieser Zeit revolutionär, denn sie war extrem erfolgreich und wurde später auch das neue Paradigma der Biologie. Dann wurde fatalerweise das Maschinen Modell auf den Geist übertragen, der so auch zur Maschine wurde. Und klammheimlich entwickelte sich der Materialismus zur impliziten Ontologie der Wissenschaft.

Spiritualität und Karriere

Mit einer weiteren Statistik verdeutlicht uns Herr Walach diesen Befund. Über neunzig Prozent der Top Wissenschaftler*innen glauben nicht an Gott oder an ein Weiterleben nach dem Tod. Wie kommt es, dass Wissenschaftler so von der obigen Statistik abweichen? Es ist ein „Destillationsprozess“, eine Auslese während der Karriere. Nur wer nicht zu diesen Themen forscht, bzw. Stellung bezieht, bekommt überhaupt eine Chance ein Top Wissenschaftler zu werden. Am Ende (also heute) erscheint es so, als sei Wissenschaft und Atheismus/Agnostizismus identisch und weiter entsteht die Atmosphäre eines impliziten Tabus in der Kultur unserer Gesellschaft.

Neuere Entwicklungen

Aber es scheint sich etwas zu verändern, denn Spiritualität wird mehr und mehr von der Wissenschaft als Thema ernstgenommen.

Neurowissenschaftlich
• Meditation wirkt auf die Struktur des Gehirns ein – es wachsen neue Zellen und neue Synapsen, und das in sehr relevanten Bereichen des Gehirns.

Medizinisch
• Spiritual Care (Palliativmedizin)
• Spiritualität als Ressource (Onkologie)

Medizin-Psychologisch
• Achtsamkeit als großer neuer Forschungszweig
• Achtsamkeitsbasierte Verfahren zur Therapie, als Prävention, zur Selbstfürsorge für Therapeuten und Ärzte

Psychologisch
• Religiöses Coping
• Religionszugehörigkeit als Resilienz Faktor (Gemeinschaft, Lebensführung, Sinnstiftung)
• Sinn und Werte als Resultat religiöser Lebensgestaltung
• Spirituelle Zugänge in der Psychotherapie

Auch zu diesen Themen gibt es bereits Statistiken. Diese zeigen, dass spirituelle Praxis und Erfahrungen die Kraft entfalten, gegen Stress zu wirken. Die Lieblingsstatistik von Herrn Walach nimmt folgendes Setting. Junge Psychotherapeuten (VT) werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe meditiert am Morgen mit einem Zen-Meister, die andere nicht. Alle gehen ihrer Arbeit nach und nach einer gewissen Zeit werden die therapeutischen Erfolge bei den Klienten überprüft. Das Ergebnis lautet: Meditierende Therapeut*innen sind viermal so erfolgreich wie ihre nicht meditierenden Kolleg*innen.
Die Lektion dieser Erkenntnisse lautet also:

„Fehlende spirituelle Praxis ist ein Risikofaktor für die psychische Gesundheit.“

Das erfolgreichste medizinische Verfahren aller Zeiten war die Einführung von Hygiene Vorschriften (ca. 1870), Was wäre, wenn eine ganze Gesellschaft damit anfinge, täglich zu meditieren?

Eine neu/alte Epistemologie

Wie schon aufgezeigt kann die herrschende Erkenntnistheorie die spirituelle Erfahrung nur als „Innenerfahrung“ ohne Wirklichkeitsbezug wahrnehmen. Das war nicht immer so. Bereits die Philosophen Spinoza und Leibniz, aber auch C.G. Jung vertraten ein komplementäres Modell von Materie und Bewusstsein, worin Körper, Materie und Information nur je ein Aspekt einer Einheitswelt sind. Der andere Aspekt ist Geist, Bewusstsein und Bedeutung. Damit ergeben sich zwei Zugänge zur einen Welt, nämlich die Sinneserfahrungen, die wissenschaftlich geprüft werden können und die Innenerfahrungen, die uns mit Sinn, Moral, Werten und evtl. der Tiefenstruktur der Wirklichkeit in Kontakt bringen kann.

Spiritualität und Psychotherapie

Herr Walach fasst zusammen:
• Spiritualität ist eine natürliche Befindlichkeit des Menschen
• Sie repräsentiert die Erfahrung der Verbundenheit
o mit sich selbst
o zu anderen
o zur Welt
• Stellt daher eine Ressource dar
o Für Psychotherapeut*innen
o Und Patient*innen

Praktisch bedeutet das:
• Die Forderung nach einer Kultur und einer Kultivierung des Bewusstseins als praktische Konsequenz
o Regelmäßige Aus-Zeit (Meditation, Sammlung, Kontemplation, Yoga … )
• Für Therapeut*innen und Patient*innen
• Die erleichtert den Zugang zu Sinnerfahrungen und Rekonstruktionen des Lebens.
Viel Beifall für diesen reichen Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet Systemische Therapieansätze

Systeme bestimmen unser Leben

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 22.10.19, von Jochen Schweitzer-Rothers, Heidelberg: „Heilung als Gemeinschaftsleistung“

Einleitung

Zum Einstieg bietet uns Herr Schweitzer vier Thesen an:
1. Die Entwicklung psychischer Störungen ist eine Gemeinschaftsleistung und ihre Heilung ebenfalls
2. Mehrpersonen-Therapiesettings fördern schnellere und nachhaltigere Veränderungen
3. Auch Einzeltherapien geschehen inmitten systemischer Kontexte, deren Nutzung sich lohnen könnte
4. Heilung ist auch eine politische Gemeinschaftsleistung

Dann bekommen wir die Struktur des heutigen Vortrags vorgestellt:
1. Kultur, Soziale Systeme, Psychotherapie: Therapie-Kulturen
2. Heilung als Gemeinschaftsleistung: Gute Gründe und Formen
3. SYMPAthische Psychiatrie
4. Systemische Therapie bei Sozialer Angst
5. Mehr-Familien-(Gruppen)-Therapie
6. Heilung als Gemeinschaftsleistung und die deutschen Psychotherapierichtlinien
7. Therapie und Politik: Zwischen Neutralität und Positionierung

Die Systemische Perspektive

Herr Schweitzer erläutert uns also zunächst den Begriff der „Kultur“. In seiner Ursprungsbedeutung bedeutet er Ackerbau, Pflege, Bearbeitung, also alles, was der Mensch gestaltend hervorbringt. Daraus haben sich bis heute zahlreiche andere Bedeutungsnuancen entwickelt, z.B. die „Normen“ einer „Hochkultur“, die Sprachspiele, bzw. Diskurse, die Praxis (Habitus) und auch das, was verbindet oder trennt, wie das bekannte Paar Leitkultur vs. Multi-Kulti.

Psychotherapie als Kulturform

Psychotherapie kann als Sub-System einer Kultur angesehen werden und auch PT kennt unterschiedliche Kulturen. Aus systemischer Sicht lassen sich vier Aspekte untersuchen:

Psychotherapie als:
1. Diskurs: Wer kommt zu Wort? Wessen Ideen setzen sich durch?
2. Habitus: Was wird getan? Was unterlassen? Welches Verhalten ist angemessen?
3. Norm: Wird eine Leitkultur angestrebt (Richtlinienverfahren) oder ist Multi-Kulti möglich?
4. Kulturelle Praxis: Wer soll wobei mitmachen? Wie oft, lange, regelmäßig und wo?

Systemische PT-Kultur

Herr Schweitzer erläutert uns nun, wie systemisch orientierte „Kollektive Psychotherapie-Kulturen“ diese Aspekte angehen.

1. Diskurse: Patienten, Angehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn, Mitbehandler … können zu Wort kommen. Die Therapeutin glaubt ihnen allen – er/sie ist allparteilich
2. Habitus: Es wird nicht nur gesprochen, sondern auch gehandelt, verhandelt, erprobt, gespielt, getröstet
3. Normen: Unterschiedliche Settings werden zielabhängig kombiniert: Einzel-, Paar-, Familien-, Kinder/Eltern-, Lehrer-Gespräche
4. Kulturelle Praxis: Therapie kann in der Praxis, Zuhause, in der Schule, der Firma, auf dem Spielplatz … stattfinden. Ort, Frequenz, Dauer und Sitzungszahl hängen von Ziel und Kontext ab

Diese Art der Herangehensweise ergibt sich aus der Einsicht, dass Menschen einen Großteil ihrer Probleme nicht alleine lösen können. Vor allem dann nicht, wenn ihnen allzu viele Ressourcen fehlen, wenn sie mit anderen verstrickt oder von ihnen abhängig sind oder sie zwar gute Ideen haben, diese aber nicht alleine umsetzen können.

Wir erfahren noch etwas über den Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken. Systeme haben eine Grenze, Netzwerke nicht. Trotzdem sind beide Beziehungsgeflechte, erstere selbstbezügliche, letztere offene.

Einige Techiken der Systemischen Praxis

Als nächstes bekommen wir einige Techniken näher erläutert, z.B. eine „Ökosystem-Landkarte“, auf der Patient*innen verschiedene Personen in ihrer relativen Nähe zu sich darstellen können. Auf so einer Karte können auch hilfreiche oder ängstigende Aspekte eingetragen werden.

Dann geht es mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte der „Ökosystemischen Tradition“ weiter. Bereits 1960 gab es erste Ansätze, die aber in den achtziger Jahre wieder ein wenig versandet sind. Herr Schweitzer mutmaßt, dass das mit der neoliberalen Politikwende zu tun hatte.

Herr Schweitzer beendet diesen Teil mit einem kleinen Überblick über die aktuellen therapeutischen Formen dieses systemischen Ansatzes. Da gibt es: Multifamilientherapie, Multisystemische Therapien, Elterncoaching, Aufsuchende Familientherapie, Gemeinwesen orientierte Familientherapie, Linking Human Systems.

SYMPA

Der Vortragende erläutert nun etwas ausführlicher die „SYMPA“ die Systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Grundversorgung. Diese setzt auf die folgenden Prinzipien:

1. Weiter Familienbegriff: „Existenzielle Bezugssysteme“
2. Kooperationsangebot: Angehörige als Mitbehandler oder/und als Mitbehandelte
3. Kontextuelles Fallverstehen: Symptome im Beziehungskontext als verständlich, zuweilen „sinnvoll“ anerkennen, eine „Störung als Gemeinschaftsleistung“ betrachten
4. Ressourcen- und Lösungsorientiert: (Er)finden von Lösungen ist wichtiger als Ergründen von Ursachen
5. Systemische Selbstreflexion: sich beim Zusammenarbeiten beobachten und daraus lernen

Systemische Praxis in der Psychiatrie

Wir sehen ein Diagramm des Behandlungsschemas der „Systemischen Akutpsychiatrie“, woraus die hohe Transparenz für alle Betroffenen ersichtlich wird. So sind sogar in der Supervision die Patient*innen und Angehörigen mit anwesend und sie können sogar bei der Verfassung des Arztbriefs mitarbeiten.
Der Vortragende beschließt diesen Teil mit statistischen Belegen für die Wirksamkeit dieses Ansatzes.

SMILE

Nun lernen wir noch „SMILE“ kennen, das sind „Systemisch inspirierte Methoden für die Interaktion und Lösung von Eskalationsmustern“. Diese Herangehensweise betrachtet sowohl die Interaktionsmuster zwischen Helfern und Patient*innen, als auch die zwischen den Helfern. Dabei wird auf die Haltung der Beteiligten geachtet, ebenso auf deren Kontakt und Kommunikation und das alles unter Berücksichtigung des Kontexts. So wird es erleichtert, Eskalationen zu vermeiden bzw. zu entschärfen oder falls sie schon stattgefunden haben, sie aufzuarbeiten.

Zu jedem Aspekt stellt das „Multi-Helfersystem“ einige Strategien vor. Am Beispiel der Haltung lauten diese:
• „Das Wir gewinnt.“ Andere Helfer mit ins Boot holen.
• „Mit Kompass zum Ziel.“ Entscheidungen zum Wohl des Betroffenen ausrichten
• „Manchmal liegen Welten dazwischen“ Unterschiede zwischen Familie, Heim und Psychiatrie akzeptieren.
• „Das schaffen wir schon!“ Stärken und Erfolge im Blick behalten.

Es gibt auch noch ein Systemisches Therapiemanual für sozial ängstliche Menschen. Darin werden Gespräche mit den Patient*innen und den Angehörigen, sowie in Gruppen von Betroffenen geführt. Verschiedene Techniken kommen zum Einsatz, z.B. sich in der Gruppe zeigen und voneinander lernen oder auch angstfördernde Glaubenssätze zu dekonstruieren. Ebenfalls hilfreich ist die grafische Darstellung von Unterstützungs- und Angstnetzwerken.

Zum Thema der Mehr-Familien-(Gruppen)-Therapie zeigt uns Herr Schweitzer einen kurzen Film, bzw. einige Bilder daraus. Familienszenen werden an heiklen Stellen angehalten, die stellvertretenden Spieler*innen frieren gewissermaßen ein. Die Zuschauer der Szene dürfen nun die Haltungen der Spieler*innen verändern, was häufig zu sehr hilfreichen Lösungen führt.

Systemische Therapie und Ethik

Zum Thema der Psychotherapierichtlinien lernen wir die sieben Grundwerte der DGSF kennen.
1. Frieden und Gewaltfreiheit
2. Freiheit von … und Freiheit zu …
3. Gleichheit und Gerechtigkeit
4. Geschwisterlichkeit und Solidarität
5. Teilhabe: Partizipation und Inklusion
6. Ausgleich – ökosystemische Balance
7. Informationelle Selbstbestimmung

Systemische Therapie und Politik

Darauf folgt zum Abschluss die Betrachtung von Therapie und Politik – Zwischen Neutralität und Positionierung. Auf die Fragestellung:

„Wie können Systemische Therapeut*innen und Berater*innen gesellschaftspolitisch handeln?“

gibt es folgende Vorschläge:

Individuell: Indem sie als Praktiker*innen ihren Klient*innen helfen
• Die politischen Kontexte ihrer Probleme zu verstehen
• Sich gegen als ungerecht Erlebtes systemkompetent zu wehren
• Und sich Bündnispartner zu suchen

Kollektiv: indem sie in ihren Verbänden
• Schlechte Zustände deutlich benennen
• Auf Verbesserung schlechter Lebensbedingungen ihrer Klient*innen drängen
• Auf Verbesserung eigener schlechter Arbeitsbedingungen drängen

Auf die Frage: „Wie kann eine politisch reflektierte Therapie- und Beratungspraxis aussehen?“ Gibt es folgende Vorschläge:
1. Reflektierte Parteilichkeit: Wie viele Veränderungsunterstützung wünscht der Klient?
2. Mit dem Klienten die politischen Kontexte seiner Probleme erkunden
3. Ermutigen, sich auf eigene Werte und Widerstandskräfte zu besinnen
4. Wo und wie kann der Klient sich gegen Ungerechtes wehren?
5. Welche Verbündeten können ihn unterstützen?
6. Wie kann er die Risiken eines mutigeren Vorgehens begrenzen?
7. Dranbleiben: ggf. langfristige niederfrequente Beratung durchhalten, evtl. auch praktische Hilfe (Mitgehen)

Die Psychosomatik entdeckt die Zeit

Psyche und Zeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 16.07.19 von Marc Wittmann, Priv.-Doz. Dr. hum. biol., Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg:
„Wie die Zeit vergeht. Psychologie und Neurobiologie des Zeitgefühls – Einblicke in die Psychopathologie“

Herr Wittmann stellt uns den Ablauf seines Vortrags vor. Er möchte uns zunächst die Grundlagen des Zeitgefühls vermitteln, dann übergehen zu „Verkörperter Zeit“, uns dann einige Außergewöhnliche Bewusstseinszustände vorstellen und zuletzt über neue Ansätze in der Psychotherapie berichten.

Wie entsteht unser Gefühl für Zeit?

Es gibt zwei Typen der Zeitwahrnehmung. Die erste betrifft das Verhalten und dreht sich um die Koordination von Wahrnehmungen und Handlungen. Der Umgang mit äußeren Ereignissen spielt sich in Zeiträumen von Millisekunden bis wenige Sekunden ab.

Die zweite Typ dreht sich um das Erleben. Wir erleben subjektive Zeit im Spektrum von Langeweile bis Zeitdruck. Es dreht sich um Zeiträume von Sekunden bist Minuten.

Wir können eine Zeitperspektive aus der Rückschau einnehmen und Vorfälle aus dem Gedächtnis abrufen. Das betrifft sowohl Urlaube, in denen uns die Zeit langsam zu vergehen scheint, als auch tägliche Routinen, in denen die Zeit scheinbar schneller fließt.
Die prospektive (im Moment erlebte) Zeitperspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf den Zeitablauf selbst. Wenn wir warten müssen scheint sie zäh zu fließen. Bei Ablenkungen wiederum vergeht die Zeit schneller.

Die subjektive Zeit ist immer noch ein Rätsel für die Wissenschaft, aber immerhin gibt es ein psychologisches Modell, das von einem Taktgeber Impulse ausgehen lässt, die über einen Schalter zu einem Akkumulator weitervermittelt und dort als Zeit gezählt werden.
Es zeigen sich auch Hinweise darauf, dass Zeitwahrnehmung mit der Aufmerksamkeit zu tun hat. Wenn ich sehr auf mich fokussiert bin, dehnt sich die Zeit, wenn ich sehr auf Handlungen fokussiert bin, fließt sie schneller. Und weiter, dass höhere Erregung die Zeit schneller vergehen lässt und Ruhe sie verlangsamt deutet sich schon an.

„Körpersignale informieren uns über den Zeitverlauf“

Herr Wittmann hat Belege aus dem dritten Jahrhundert v.u.Z. gefunden, die ebenfalls den Zusammenhang von äußeren Phänomenen und innerer Erregung nahelegen.
Dies wurde auch in einem Experiment bestätigt. Darin wurden Probanden in einem Raum ohne Ablenkung dazu gebracht, siebeneinhalb Minuten zu warten. Im Anschluss daran sollten sie schätzen, wie lange sie gewartet hatten. Das Ergebnis war, dass impulsivere Menschen aufmerksamer für die Zeit waren, dass ihnen das Warten eher unangenehm erschien und dass sie die Zeitdauer tendenziell überschätzten.

Neurowissenschaftliche Befunde

Dann werden wir noch auf das Feld der Neurobio- und Psychologie geführt. Herr Wittmann kann uns nur berichten, dass es zahlreiche Funktionsmodelle für Zeitwahrnehmung gibt, aber kein Einvernehmen darüber. Auch der Versuch, die neuronalen Korrelate im Gehirn zu finden sind bisher nicht von Erfolg gekrönt.
Allerdings gibt es neue Metastudie, die zum Ergebnis kommt, dass das supplementäre-motorische Areal, die anteriore Insula, die Basalganglien und der intraparietale Sulcus die besten Kanditen sind.
Die unterschiedlichen Ergebnisse vieler Studien lösen sich ein Stück weit auf, wenn verschiedene Zeitdauern auf verschiedene Systeme verteilt werden. Weniger als eine halbe Sekunde werden „Modalitätsabhängigen Prozessen“ zugeschlagen. Von einer halben bis wenige Sekunden dauernde Episoden den oben genannten Hirnstrukturen. Intervalle von mehreren Sekunden schließlich vom insularen Kortex.

aktuelle Ergebnisse

Herr Wittmann forscht selbst zu diesem Thema. Er möchte damit den Zusammenhang von körperlichem Selbst und subjektiver Zeit nachweisen. In seinem Versuchsdesign hören Probanden einen Ton von einer bestimmten Dauer. Nach einer Pause wird nun einen anderer Ton erzeugt und die Probanden sollen den Ton in dem Moment abstellen, an dem sie denken, er sei jetzt genauso lange ertönt wie der vorige. Als Ergebnis fand Herr Wittmann heraus, dass es tatsächlich die Insula ist, die hier ganz prominent Aktivität zeigt.
Die Insula ist dafür bekannt, dass sie physiologische Zustände wie Hitze, Kälte, Hunger, Harndrang etc. repräsentiert. Darüber hinaus noch diese Zustände interpretiert und damit zu einer Basis für komplexe menschliche Gefühle wird.

Zeit und Gefühle

Es gibt Studien zur Insula, die sich mit Emotionen, komplexen Entscheidungen, Musikwahrnehmung und Meditation befassen. Dies führt zurück zum Modell des Zeitempfindens. Als Zeitgeber entpuppen sich Körperzustände, die als „Dauer“ repräsentiert werden. Dies entspricht der „Verleiblichung der Zeit“, wie sie in der Phänomenologie verhandelt wird. Zeit ist das körperliche und gefühlte Selbst (!). Die Aufmerksamkeit spielt die Rolle des Schalters im Modell. Sie und der Grad der Erregung beeinflussen die Zeitwahrnehmung.
Wir bekommen noch ein Diagramm gezeigt, das uns klarmacht, dass sowohl bei sehr niedriger als auch bei sehr hoher Erregung, die Zeit langsamer fließt, als in den Zwischenzuständen.

Zeit und psychische Krankheit

Es gibt einige Patientengruppen, bei denen sich die Zeitwahrnehmung verändert. Dazu zählen: Depressionen, Krebserkrankte mit Angststörungen, Drogenabhängige in der Reha und Kinder mit ADHS oder Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung. Bei allen ist das Phänomen bekannt, dass es ihnen so erscheint, als wolle die Zeit nicht vergehen. Im Licht der vorhergehenden Betrachtungen wird deutlich, dass diese Betroffenen mit ihrer Aufmerksamkeit sehr bei sich sind.
Der Stand ist nun folgendermaßen zusammengefasst: Ein intensiviertes Bewusstsein meiner selbst (Körper, Gefühle) führt zu einer Intensivierung des Zeitbewusstseins. Und: Ein vermindertes Bewusstsein meiner selbst zur Schwächung des Zeitbewusstseins. Daraus folgt: Die Bewusstseinszustände von Ich und Zeit werden gemeinsam moduliert. Als alltagsbekannt Erfahrung formuliert: Wartezeiten und Langeweile gehen mit einer erhöhten Selbstwahrnehmung einher. Die Zeit dehnt sich, das Ich wird stärker wahrgenommen und ebenso die Zeit.
Ganz anders im „Flow“, in dem ein Mensch sich an seine Tätigkeit hingibt, darin vergisst er sich selbst und damit auch seine Zeitwahrnehmung.

Außergewöhnliche Bewusstseinszustände (ABZ) & Zeitwahrnehmung

Zum Begriff des Selbst gibt es noch die Differenzierung in ein „körperliches Selbst“ einerseits, gewissermaßen das Ich im hier und jetzt, und andererseits das „narrative Selbst“, das aus der eigenen Geschichte besteht und Erinnerungen und Pläne umfasst. Diese beiden Aspekte bilden sich auch neuronal ab. Der erste ist mit dem interozeptiven System und der Insula assoziiert und der andere mit dem cingulären Cortex und der kortikalen Mittellinie.
Veränderte Bewusstseinszustände können (u.a.) durch Meditation, den Floating Tank und psychodelische Drogen erreicht werden. Alle haben gemeinsam, dass sich zunächst die Zeit dehnt, also ein hoher Fokus auf das Selbst gelegt wird. Im weiteren Verlauf löst sich das Ich und damit das Zeitbewusstsein auf, dann wird ein Zustand von „Zeitlosigkeit“ erlebt.

Neue Ansätze in der Psychotherapie zu ABZ

Wir erfahren jetzt noch etwas über die klinische Anwendung dieser Erkenntnisse bzw. über die Forschung daran, wie diese Betrachtungen therapeutisch wirksam werden können.
Dass Meditation einen hilfreichen Aspekt für die Psychotherapie darstellt ist schon länger bekannt. Dass auch der Floating Tank hilfreich zur Entspannung und Symptomminderung sein kann, ist eine neuere Entdeckung.
Nach vielen Jahren des Verbots an Forschungen mit Psychodelika, wird diese nun  in verschiedenen Ländern wieder aufgenommen. Auch hier zeigen sich sehr hoffnungsvolle Effekte. Alle Methoden scheinen den Patient*innen dabei helfen zu können, ihre Selbstfixierung zu lösen und sich der Welt wieder zuwenden zu können.
Was nun noch fehlt sind valide Studien, die diese Ergebnisse festigen können.

Die Abschlussfolie ist überschrieben mit: „Was ist Zeit? Auflösung des Rätsels der subjektiven Zeit. Prospektiv/im Moment erlebend : Präsenzzeit : Körperzeit : Gefühlszeit : Ich-Zeit – Zeitbewusstsein & Ich-Bewusstsein

Die Zeit ist während des Vortrags schnell verflogen.

Die Psychosomatik erkundet Resonanz und Selbst

Selbst und andere in Resonanz

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 25.06.19 Joachim Bauer:
„Wie wir werden, wer wir sind – die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz“

Das Selbstsystem

Die Eingangsfrage lautet: Woher wissen wir eigentlich wer und wie wir sind, wenn wir von jemandem danach gefragt werden. Eine Antwort könnte heutzutage lauten: Das weiß ich von meinem neuronalen Selbstsystem (das meiste davon im frontalen Kortex – der Zone, die am wenigsten durch Gene bestimmt ist).
Herr Bauer nennt das Wissen über das Selbstsystem sehr gewiss, weil es in vielen Studien bestätigt wurde. Zum Selbstsystem gehört ein „Selbst“ das handelt, wahrnimmt etc. und ein „Selbstbeobachtungsystem“, das sich darüber Gedanken macht, wie andere uns wahrnehmen.
Dieses Selbstsystem ist offen für Mitteilungen – positive wie negative. Selbst wenn uns Freunde über Mitteilungen von anderen über uns erzählen, hat das eine tiefe Wirkung auf das Selbstsystem. Mitteilungen können langlebige Spuren darin hinterlassen. Dabei werden positive Rückmeldungen anders verarbeitet als negative.

Resonanz

Das Resonanzphänomen ist aus der Musik gut bekannt. Eine schwingende Saite in einer bestimmten Tonhöhe ist in der Lage, eine andere Saite derselben Tonhöhe zum mitschwingen zu bringen. Was schwingt nun bei uns Menschen?
Ein Babygehirn ist noch unreif, es hat nicht die Möglichkeiten eines erwachsenen Gehirns (was an der Frühgeburtlichkeit des Menschen liegt). Das Baby äußert sich also nicht gewollt und gezielt, sondern eher zufällig. Seine Äußerungen werden dann von einer hinreichend feinfühligen Bezugsperson wahrgenommen und zurückgespiegelt. Zur Erklärung dienen hier die berühmten Spiegelneuronen, die das ermöglichen. Die Rückspiegelung setzt nun erste Erfahrungen im Selbstsystem des Säuglings.
Während dieser Spiegelepisoden geschehen viele Dinge auf einmal. Ein körpersprachlicher Dialog, eine reziproke Erregung, Botschaften werden übertragen und können Spuren im jeweiligen Empfänger hinterlassen. Im Falle negativer Botschaften hat es das Baby sehr schwer, diese abzuwehren. Im Notfall schaltet es auf chronische Abwehr.
Konkret sieht das so aus, dass die „dyadische Beziehung“ durch vorhersagbare Kontakthandlungen des Elters eine sichere Bindung angebahnt wird (Kontingente Beziehung). Die Interaktionen werden durch Augenkontakt begleitet, Äußerungen des Babys zeitnah beantwortet, dabei hat die Stimme eine angemessene Tonalität, auch die Qualität der Berührungen ist feinfühlig genug, und die Pflegehandlungen laufen in positiver Atmosphäre ab, wichtig dabei ist genügend Zeit für den dyadischen Kontakt.

Schwierige Resonanzen

Diese Fülle von Faktoren zeigt schon, dass in dieser Beziehung auch viel schief gehen kann. Das ist besonders fatal, weil das Baby noch kein Selbst in eigentlichen Sinne hat. Es erfährt durch die Art und Weise wie es behandelt wird, dass es selbst ist, und auch wie es selbst ist.
Herr Bauer würzt seinen Vortrag noch mit ein paar Ergänzungen. So erfahren wir, dass Babyschreie in Erwachsenen Angst auslösen. Diese wird in aller Regel aber nicht gespürt, sondern durch Pflegehandlungen am Baby bewältigt. Wer als Baby diese Erfahrung nicht genügend gemacht hat, wird später Probleme damit bekommen, Babys angemessen zu versorgen, ja,  es kann sich sogar eine Angst vor der Angst entwickeln.
Jedenfalls brauchen Babys in der Regel 18 Monate lang angemessene emotionale Versorgung, bis sie fähig werden, sich selbst zu regulieren. Diese Fähigkeit wiederum stärkt die Widerstandskraft enorm. Die frühen Lebenserfahrungen finden auf jeden Fall ihren Weg ins Körpergedächtnis (auch dafür gibt Zonen im Gehirn). Vorsprachlichen Erfahrungen fließen später auch ins sprachliche Selbstbild ein. Dieses entwickelt sich etwa zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat.
An mehreren Stellen des Vortrags beschwört Herr Bauer die absolut sichere wissenschaftlich Erkenntnis, dass Kinder unter zwei Jahren nur in einer Kita mit einem Betreuungsschlüssel von eins zu drei gut versorgt werden können.

Ich, Du und Wir im Gehirn

Wenn wir über uns selbst nachdenken nutzen wir das Selbstsystem. Wir benutzen es auch, wenn wir über bedeutsame und nahe Andere nachdenken. Anders allerdings, wenn wir über fremde und ferne Andere nachdenken Dann nutzen wir andere Systeme und ebenso, wenn wir über Gruppen nachdenken. So entstehen verschiedene Mischformen von Ich und Wir – von viel wir und wenig ich; oder viel ich und wenig wir. Das lässt sich mit Aufnahmen und Berechnungen sehr gut zeigen. Dabei werden dann auch kulturelle Unterschiede sichtbar. Das typisch westlich-europäische Gehirn läuft eher im „viel ich, wenig wir“ Modus. Ganz im Gegensatz zum typisch chinesischen Gehirn, das im „viel wir, wenig ich“ Modus erzogen wurde.

Phänomene zwischen Selbst und Nicht-Selbst

Dass es vorkommt, dass sich ein Selbst über seine Körpergrenzen hinaus ausdehnt ist ein schon länger bekanntes Phänomen. Menschen identifizieren sich mit ihrem Besitz, mit Dingen oder einer virtuellen Identität. Mitunter geschieht das aus dem Grund, dass sich das Selbst nicht gut genug erscheint. Daraus können dann auch krankheitswertige Entwicklungen ableiten – z.B. Depressionen, interpersonale Abhängigkeiten und Narzissmus.
Ein wenig anders liegen die Dinge bei früh traumatisierten Menschen. Nicht selten tragen sie sog. Täterintrojekte in ihrem Selbstsystem. Es fällt ihnen schwer, diese fremden Anteile von ihren eigenen zu unterscheiden. Auch in diesem Fall können sich krankheitswertige Entwicklungen anbahnen.

Das Selbst als innerer Arzt

Das Selbstsystem hat Verbindung zu nahezu allen körperlichen Systemen – auch zum Vegetativum. Wer sich also gut um sich kümmert und das gute Leben pflegt (Eudaimonie), hat gute Chance auf ein langes und gesundes Leben. Menschen, die eher auf den schnellen Spaß ausgerichtet sind (Hedonie) wird das eher selten widerfahren.
An dieser Stelle dann noch der Appell an die Ärzte, dass sie ihre Diagnosen verantwortungsvoll mitteilen, dass sie versuchen sollen, das Selbst mit ins Boot der Therapie zu holen und nicht mit der Diagnose auf den Patienten zu schießen.
Viel Applaus für Herr Bauer

Die Psychosomatik erkundet Trauma und Persönlichkeitsstörung

Das frühe Trauma und die erwachsene Persönlichkeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 30.04.19 Wolfgang Wöller:
„Persönlichkeitsstörungen und Trauma“

Missbrauch, Trauma und Persönlichkeitsstörung

Zur Einstimmung ins Thema präsentiert uns Herr Wöller eine Statistik aus dem Jahr 2010. Danach sind zwischen 12 und 14,9 % aller Mitmenschen davon betroffen, dass sie als Kinder körperliche, sexualisierte oder emotionale Misshandlungen erleiden mussten, knapp 3 % sogar schwerste Misshandlungen. Herr Wöller berichtet weiter, dass auch andere Untersuchungen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen seien. Er beklagt, dass dieses Phänomen ein epidemisches Ausmaß habe. Auch, dass es diese Gewalt schon immer und in jeder Gesellschaft gegeben habe, dass es aber eine Sensibilisierung der Gesellschaft brauche, um sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Die Wucht von solchen Erfahrungen hinterlässt häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung. Es gibt aber auch andere Traumafolgenstörungen, die weniger bekannt sind. Dazu zählen: Depressive Störungen, dissoziative Störungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen, Substanzabhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen, v.a. die Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS). Vor allem letztere ist eine häufige Folge von Gewalterfahrung in der Kindheit.
Eine Persönlichkeitsstörung lässt sich besonders deutlich in Störungen der interpersonellen Kommunikation aufweisen. Die hohe Anzahl von interpersonellen Konflikten und Verwicklungen, die deutliche Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Neigung zu dysfunktionalem oder (auto)destruktiven Verhaltens.
Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und BPS ist gut erforscht – 75 % der BPS Betroffenen hat solche Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht. Aber es können auch andere Formen von Persönlichkeitsstörung aus der Gewalterfahrung erwachsen – Dissoziale, Paranoide, Schizoide oder Ängstlich-Vermeidende. Weiter sind ca. 50 % der BPS Betroffene auch noch zusätzlich von PTBS und dissoziativen Störungen heimgesucht.

Symptome von BPS

Schaut man sich die Problembereiche der Betroffenen genauer an, findet man: Maladaptive Verhaltensmuster, die auch in der therapeutischen Situation zum Tragen kommen. Die Patient*innen verhalten sich feindselig, entwertend oder vorwurfsvoll, was die Gefahr eines Therapieabbruchs mit sich bringt. Sie können die Beziehung allerdings ebenso in abhängig-idealisierend gestalten, was eine ungute Abhängigkeitsentwicklung begünstigt. Mit einer Geschichte, die Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen beinhaltet, wird die Gefahr, auch als Erwachsener (re)traumatisiert zu werden größer. Und sogar Alltagsbelastungen können subjektiv traumawertig werden. Das können Erfahrungen von Alleingelassen werden, Bedrohungen der Identität oder Beschämung sein.

Modelle von Persönlichkeitsstörung

Herr Wöller erläutert nun, mit welchen Modellen sich Psychotherapie und Psychiatrie dem Phänomen Persönlichkeitsstörung annähern. Es gibt dazu verschiedene Möglichkeiten, so die „Psychodynamischen Modelle“, die Neurobiologischen Modelle, das Strukturmodell und die Bindungstheoretischen Modelle (natürlich auch verhaltenstherapeutische, aber Herr Wöller kommt aus der Psychoanalyse).
Auch die psychologische Forschung kann Beiträge zum Phänomen machen. So ist inzwischen gut bekannt, dass die soziale Wahrnehmung von Betroffenen verzerrt ist – sie haben es schwer, einen neutralen Gesichtsausdruck zu erkennen, nehmen ihn eher als bedrohlich wahr. Das kann dazu führen, dass sie undifferenzierte traumatische Affektzustände geraten – dass also Zustände von Leere, Verlassenheit, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Scham und Schuldgefühl in ihnen toben, ohne dass sie der Situation zuordenbar wären.
Die untauglichen Versuche, dieses Chaos irgendwie zu beherrschen gehen dann in Richtung eines Selbstschädigenden Verhaltens, in Suchtverhalten, Risikoverhalten oder auch in Fressatacken mit anschließendem Erbrechen.
Die traumabedingten Funktionsdefizite zeigen sich als Unfähigkeit, Gefahren vorherzusehen, nicht für sich sorgen zu können, sich nicht abgrenzen zu können, sich nicht schützen zu können, hilflos zu sein und handlungsunfähig. Das begünstigt natürlich die Wahrscheinlichkeit wieder zum Opfer zu werden.
Aber natürlich haben sich die Betroffenen auch dahingehend organisiert, dass sie zu ihrem Schutz versuchen, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erzwingen, dass sie versuchen, Beziehungspartner moralisch unter Druck zu setzten, dass sie erpressen, drohen, beschuldigen oder sich unangemessen verführerisch verhalten.

Neurobiologische Beiträge

Die neurobiologische Forschung hat inzwischen nachgewiesen, dass die neurologischen Folgen von PTBS und BPS nahezu identisch sind. Und auch die „erfahrungsabhängige Hirnentwicklung“ machen die Symptome plausibel. Gerade in der frühen Lebenszeit müssen bestimmte Bereiche lernen, gewisse Funktionen zu erfüllen. Z.B. muss der präfrontale Cortex lernen, Gefühle zu regulieren. Dazu braucht das Kind aber notwendig eine genügend gute Bindungsperson. Eine Bindungsperson, die einerseits Zuneigung zeigt und andererseits Gewalt ausübt, ist dazu denkbar ungeeignet.
Hoffnung macht hier alleine die Einsicht, dass neuronale Verbindungen ein Leben lang offen für Veränderungen sind. Dazu braucht es vielfach aktivierte neue Muster, die geübt und durchgearbeitet werden müssen.

Bindungsstörungen und BPS

Die Bindungsforschung hat herausgefunden, dass BPS hoch korreliert mit „unsicher-ambivalentem“ und „unsicher-desorganisierten“ Bindungsmuster ist. Auch andere Persönlichkeitsstörungen weisen auf die zentrale Rolle der Bindungsprägung hin.

Phasenorientiertes Therapiekonzept

Herr Wöller stellt uns das Modell vor, das an seiner Klinik für die Therapie verwendet wird. Es geht darum:

1. Sicherheit, Halt und die Stärkung der Bewältigungskompetenz
2. Emotionsregulierung und Selbstfürsorge
3. Mentalisierung und die Entwicklung stabiler Repräsentanzen
4. Schonende Traumabearbeitung
5. Konfliktzentriertes Arbeiten an maladaptiven Verhaltensweisen

In der therapeutischen Beziehung ist darauf zu achten, dass da, wo früher Bedrohung und Unsicherheit herrschten, heute Sicherheit erfahren werden kann. Wo früher der Kontrollverlust Alltag war, heute Kontrollmöglichkeiten erfahren werden. Wo Verwirrung und Intransparenz erlebt wurden, heute Aufklärung und Transparenz geboten wird und wo die Erfahrung des Verlassen-Werdens immer wieder gemacht wurde, die reale Präsenz eines Mitmenschen genutzt werden kann.
Sicherheit hat die Aspekte der äußeren Sicherheit –  z.B.  ob es noch Kontakte zu Täter*innen gibt. Es geht um die soziale Sicherheit und v.a. um das Gefühl von Sicherheit in der therapeutischen Situation.
Damit zusammen hängt auch das Bedürfnis nach Kontrolle. Das Kontrollbedürfnis des Patienten muss respektiert werden. Er/sie braucht Wahlmöglichkeiten und sein Einverständnis für Interventionen sollte immer wieder neu eingeholt werden.

Ressourcen

Wie wichtig gerade bei traumatisierten Patient*innen der Aufbau und die Pflege von Ressourcen sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Ressourcen versteht Herr Wöller so: „Letztlich alles, was von einer bestimmten Person (ohne selbstschädigend zu sein) in einer bestimmten Situation wertgeschätzt wird oder als hilfreich erlebt wird, kann als eine Ressource betrachtet werden.“ Die Patient*innen werden ermutigt, ihre inneren Zustände (States) aktiv zu verändern, z.B. durch positive Aktivitäten, Aktivierung positiver Erinnerungsbilder und imaginative Techniken.
Auch das Strukturmodell kann hier hilfreich sein. Es wird z.B. eingesetzt um die Affektwahrnehmung und –Differenzierung zu fördern. Alte Gefühle von aktuellen zu unterscheiden und die alten Anteile per Imagination wegzupacken. Weiter geht es darum die Selbstfürsorge zu stärken – die inneren Verbote zu überwinden. Gut bewährt hat sich in diesem Zusammenhang auch die sog. „Arbeit mit dem inneren Kind“. Dabei lernen die Patient*innen die symbolische Nachbeelterung auf einer „inneren Bühne“.

Verlauf der Therapie

Eine Therapie beginnt damit, dass klar umschriebene und gut erinnerbare Traumen oder belastende Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit durchgearbeitet werden. Dazu zählen auch persönlichkeitsspezifische Alltagsstressoren mit traumwertigen Belastungsgraden. Später können klar erinnerte Traumen der Kindheit bearbeitet werden. Und zuletzt die unscharf erinnerten Traumen. Häufig braucht es dann noch eine Zeit von „Konfliktorientierter Arbeit“. Die Arbeit an unbewussten Konflikten, deren Klarifizierung, Konfrontation, Deutung von unbewussten Inszenierungen zur Abwehr früher Ängste. Ebenso die Analyse früher Abwehrmechanismen, die thematische Fokussierung auf Identität und Intimität, ggf. durch die Nutzung des Übertragungsphänomens.
Persönlichkeitsstörungen können nicht ursächlich therapiert werden. Aber Psychotherapie ist in der Lage, die Lebensqualität der Betroffenen erheblich zu verbessern. Das lässt sich nicht nur in den Erfahrungen der Patient*innen finden, sondern sogar neurobiologisch nachweisen – Psychotherapie verändert das Gehirn in seiner biologischen Struktur.
Das übervolle Audi-Max applaudiert kräftig nach diesem gehaltvollen Vortrag.