Die Psychosomatik macht einen Ausflug in die Medienwissenschaft

Medienwissenschaft und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.06.18
Von Prof. Bernhard Pörksen „Die neue Macht der Lüge. Meinungsbildung und Desinformation im digitalen Zeitalter“

Herr Pörksen spricht frei, ohne Powerpoint und mit nur wenigen Stichwortzetteln in der Hand. Er führt uns mit einer kleinen Geschichte ins Thema ein. Es ist die Geschichte eines amerikanischen Radioreporters, der vor allem durch seine Verschwörungstheorien, die Leugnung des Klimawandels und seine Anhängerschaft zu D. Trump bekannt ist. Als 2017 der Hurrikan „Irma“ Kurs auf Florida nahm, erklärte er das zu einer Fake-News. Er blieb in seinem Studio sitzen und man weiß nicht genau, was ihm zugestoßen ist. Allerdings musste er eine Zeit lang seine Sendung aussetzen, was er auf geheime Maßnahmen zurückführte. Mit diesem „Superlativ von Seltsamkeit“ führt uns Herr Pörksen zu der Frage, was Realität eigentlich sei. Diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Letztlich wäre der Satz: „Realität ist das, was nicht verschwindet, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Die wohl beste Näherung an eine Definition.

Postfaktisches Zeitalter?

Angeblich, so Herr Pörksen weiter, leben wir im „Postfaktischen Zeitalter“. Er bekundet seine Skepsis gegen diese Benennung. Zum Ersten wechseln Zeit-Diagnosen recht schnell, und so bleibt es für ihn fraglich, ob diese Bezeichnung treffend sein kann. Zum Zweiten suggeriert diese Benennung, dass es einmal ein „Faktisches Zeitalter“ gegeben hätte. Aber wann soll das gewesen sein? Die Politik war schon immer ein Pfuhl von Lüge und Propaganda. Zum Dritten empfindet er den Ausdruck als resignativ – es ist eh zu spät, wir können nichts mehr ändern.
Also möchte uns Herr Pörksen eine tiefergehende Zeitdiagnose anbieten, die auch „Ambivalenz fähiger“ sein soll. Er benennt die Ausgangslage als eine „tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur“ – Boden und Wände wackeln also tüchtig – wie ist es dazu gekommen?

  1. Neue Verbreitungstechniken – z.B. gefälschte E-Mails, die als Massensendungen an unzählige Empfänger versendet werden und deren Lügen fast nicht mehr aus der Welt zu bringen sind.
  2. Neue Sichtbarkeit – zum heutigen Zeitpunkt gibt es bereits ca. 3 Milliarden Smartphones. In der Öffentlichkeit ist also quasi immer jemand mit einer Kamera dazu bereit, das nächstbeste Filmchen von wem auch immer zu drehen und sofort ins Netz zu stellen.
  3. Neue Manipulationsanfälligkeit der Öffentlichkeit – einerseits gibt es mehr Möglichkeiten für alle, Informationen bereit zu stellen, aber das erhöht auch die Möglichkeiten, Fälschungen zu verbreiten, die mitunter schwer als solche zu durchschauen sind.
  4. Neue Anreize – die Netzgemeinschaft steht auf Hypes, auf Extrem und auf Zuspitzungen. Die Klickraten werden gemessen und Marktakteure springen auf Trends auf und erhöhen so noch die Aufmerksamkeit.
  5. Neue Ungewissheit – die Flut von Informationen steigt immer höher, aber anstatt, dass uns das mehr Mündigkeit verleiht verunsichert dieses Zuviel viele Menschen.
  6. Neue Geschwindigkeit – dank Smartphones und Internet erleben wir weit entferntes quasi in Echtzeit. Das journalistische Spannungsfeld von „Schnelligkeit“ vs. „Genauigkeit“ kommt zugunsten der ersteren in ein Ungleichgewicht.

Was also tun?

Herr Pörksen referiert uns diese Punkte mit zahlreichen Beispielen. Was soll man nun von dieser Diagnose halten? Sich selbst erlebt der Vortragende zwischen den Polen von Apokalyptik und Euphorie wechselnd – zum Fatalismus neigt er nicht. Was kann getan werden, um mit diesen Verschiebungen fertig zu werden? Wie kann man Desinformation bekämpfen, ohne auf demokratische Grundwerte zu verzichten? Er unterstützt die Idee, dass die journalistischen Maximen von möglichst vielen Menschen erworben werden. Z.B. Prüfe erst und schreibe später! Höre auch die andere Seite! Sei skeptisch gegenüber anderen und dir selbst! Sei transparent in deinen Absichten!

Wie könnte das befördert werden? Herr Pörksen sieht drei Richtungen, in denen das bewerkstelligt werden kann.

  1. Journalistische Dialogfähigkeit – eine neue Kultur von Kommunikation zwischen Journalisten und Konsumenten
  2. Plattformregulierung – Inhaber von Internet Plattformen sollen kontrolliert werden – es bräuchte so etwas wie einen „Plattform Rat“.
  3. Bildung – es braucht ein Schulfach über Medienkompetenz, sowie Fähigkeiten zu einer Macht- und Medienanalyse

Mit drei Schlusssätzen (die einzigen Sätze, die er dann tatsächlich abliest) fasst er seinen Vortrag zusammen:

Wir, das Publikum, müssen medienmündig werden,

    1. Weil unser Miteinander von korrekten Informationen lebt
      Weil der Informationsraum neu definiert worden ist
      Weil wir medienmächtig geworden sind

Es gibt tosenden Beifall für Herrn Pörksen

Die Psychosomatik erkundet das Zuhören

Tiefes Zuhören als Intervention

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 15.05.18
Von Prof. Tilman Habermas: „Die Rolle des Zuhörers beim Erzählen: Eltern und Therapeuten“

Herr Habermas gehört der seltenen Spezies „Professor für Psychoanalyse“ an. Sein Vortrag soll allerdings weniger psychoanalytisch als vielmehr psychologischer Art sein. Er interessiert sich und forscht schon seit längerer Zeit über das Erzählen – insbesondere über Lebenserzählungen, mit deren Hilfe Menschen ihre Identität formen. Von der monologisierenden Form ist er inzwischen zur dialogischen fortgeschritten und nun forscht er seit neuestem über die Rolle des Zuhörers beim Erzählen.

Was ist eine Erzählung?

Herr Habermas stellt uns zunächst vor, was eine Erzählung ausmacht. Dazu erinnert er daran, dass Erzählungen etwas Alltägliches sind, dass sie ständig stattfinden und dabei auch verschiedene Funktionen erfüllen. Auf individueller Ebene bringt man seine Mitmenschen auf den neuesten Stand, was die eigenen Erlebnisse betrifft, sucht aber auch nach Teilhabe an den emotionalen Aspekten der Erzählung. Auf kollektiver Ebene geht es um kollektive Identitäten von Familiengeschichten, Firmengeschichten, bis hin zu nationalen Epen der Staatsgründung. Immer geht es dabei darum, eine gemeinsame Realität herzustellen. Aber Geschichten dienen auch der Unterhaltung, denn sie können die Zuhörer etwas lehren, können aber auch zu etwas verführen und von etwas überzeugen. Erzählungen dienen der Selbstdarstellung, sowie der Erklärung menschlichen Verhaltens, das sie rechtfertigen oder entschuldigen wollen.
Weiter besitzen Erzählungen eine innere Struktur, die einen strikten zeitlichen Ablauf aufweist, in dem nichts vertauscht werden darf. Außerdem gehört zu einer Erzählung eine Bewertung über das Erzählte. Erzählt werden in der Regel nur außergewöhnliche Vorkommnisse und zwar in folgender Reihenfolge. Zunächst kommt eine Ankündigung, dass nun etwas erzählt werde. Dann wird kurz der Hintergrund und der Kontext erläutert, darauf folgt die eigentliche Geschichte mit ihrer Komplikation. Weiter geht es mit den Handlungen, die daraufhin ausgeführt werden. Schließlich folgt das happy oder unhappy-end. Das Ende der Erzählung besteht dann meist aus „der Moral von der Geschichte“.

Die Rolle des Zuhörers

Welche Rolle spielen Zuhörer bei so einer Erzählung? Zunächst muss vereinbart werden, dass der/die Erzähler*in nun etwas erzählen darf. Der Erzähler darf nun seinerseits Interesse an seiner Erzählung erwarten. Dies wird durch Blickkontakt, Hmm-Lauten, Nicken und ähnliche Zeichen signalisiert. Zum Ende der Erzählung wird der/die Zuhörer*in einzelne Worte wiederholen, seine Bewertungen benennen (krass ey!) und evtl. mit einer eigenen, ähnlichen Geschichte aufwarten.
Eine spezielle Form der Erzählung ist die, des Sich-Anvertrauens mit einem Problem. Hier lässt sich ein Anteilnahme Muster erwarten. Die Zuhörer drücken aus, dass sie das Erzählte ebenfalls ungewöhnlich finden und dass sie dem Erzähler Glauben schenken. Sie bringen ihr Mitgefühl zum Ausdruck und explorieren die Erzählung weiter, sie trösten der Erzähler, zeigen sich solidarisch mit ihm/ihr und warten häufig mit Ratschlägen auf. Dabei gilt die Regel, dass je schwerwiegender das erzählte Ereignis war, sich die Zuhörer umso mehr zurückhalten.

Zuhörer gestalten Geschichten mit

Herr Habermas kommt nun zu seiner Kernthese, die lautet: „Zuhörende haben eine zwar wichtige, aber recht passive Rolle beim Erzählen. Es gibt jedoch Situationen, in denen sie eine wesentlich aktivere Rolle spielen. Und darunter sind sehr spezielle Situationen, in denen Zuhörende aktiv nicht nur die Geschichte mit-erzählen und verändern, sondern auch die Person des Erzählenden formen, indem sie aktiv zuhören und mit erzählen.“ Zwei solcher Situationen sind die Gespräche zwischen Eltern und ihren Kindern und die Situation von Therapeut und Patient. Beiden Fällen gemeinsam ist der Unterschied zwischen Sprecher/Hörer bezüglich der Autorität und der Kompetenz. Allerdings gibt es natürlich auch Unterschiede in den Situationen. Eltern haben einen Erziehungsauftrag, sie bringen Kindern bei, wie Erzählen funktioniert, wie die Erlebnisse zu verstehen sind und wie man richtig empfindet und reagiert. Therapeuten hingegen haben einen Therapieauftrag. Sie bringen Patienten bei, wie sie Erlebnisse und sich selbst verstehen können.

Eltern-Kind Gespräch

Ein kleiner Exkurs zur Eltern-Kind Situation verdeutlicht, das Vorschulkinder vor allem das Erzählen an sich erlernen, während Jugendliche beim Erzählen lernen, ihre Emotionen zu bewältigen. Das lässt sich anhand eines drei-phasigen Modells darstellen, auf dessen erster Stufe das Kind eine Fähigkeit noch nicht besitzt, aber einen fähigen Elternteil. Auf der zweiten Stufe übt das Kind die Fähigkeit in Zusammenarbeit mit dem Elter ein, um auf der dritten Stufe, die autonome Fähigkeit entwickelt hat.
Die Art und Weise, wie Eltern auf die Erzählungen der Vorschulkinder eingehen, hat durchaus Folgen für die Entwicklung der Erzählfähigkeit, die Gedächtnisleistung, die Fähigkeit andere Perspektiven einnehmen zu können und sogar die Bindungsqualität. Eltern können ihre kleinen Kinder durch Fragen unterstützen. Das geht mit geschlossenen Fragen, sog. W-Fragen oder mit offenen Fragen und durch die Auswertung des Erzählten.
Ab dem etwa neunten Lebensjahr können Kinder bereits recht gut erzählen. Trotzdem können Eltern auch hier noch hilfreich sein, indem sie vor allem dabei helfen, die emotionalen Aspekte des Erzählten zu integrieren.

Gefühle und Bedeutungen von und in Erzählungen

Es folgt ein Beispiel einer solchen Unterhaltung zwischen Mutter und Kind. Herr Habermas arbeitet daran heraus, dass die Mutter die zeitliche Perspektive erweitert, indem sie an ähnliche Situationen erinnert, dadurch die Gefühle verstärkt und einen Lerneffekt aus der Geschichte entstehen lässt. Die Mutter ergänzt und verändert auch die Motive der Beteiligten und stellt alternative Erklärungen zur Verfügung. Sie verallgemeinert die Situation und bietet einen Abstand zur Erfahrung. Auch die Umdeutung des Erlittenen wird aus der Passivität in die Aktivität uminterpretiert. Andere Möglichkeiten bestehen noch darin, die Persönlichkeit der Beteiligten als Erklärung anzunehmen. Das wären z.B. biografische Empfindlichkeiten, die eine Rolle spielen könnten und überhaupt kann die Persönlichkeiten durch biografische Erfahrungen erklärt werden.
Insgesamt geht die Mutter weniger auf die Ereignisse und Handlungen ein, als vielmehr auf die Motive und die Bewertungen, indem sie darauf abhebt, warum die Beteiltigten so gehandelt haben und wie das zu bewerten ist?

Therapeut-Patient Gespräch

Ähnlich den Eltern haben Therapeuten „die Aufgabe, die Fähigkeiten der Klienten zu verbessern, insbesondere ihre Fähigkeiten zur Introspektion, Reflexion und Bewältigung von kritischen Erlebnissen.“
Anders als Eltern haben Therapeut*innen die erzählten Ereignisse nicht miterlebt Sie haben acuh keine erzieherische Aufgabe. In der Regel dürfen sie (kaum) werten, denn sie sollen auf das Erleben des Patienten fokussieren, allerdings dürfen sie die Motive in Frage stellen und deuten.
Herr Habermas geht nun der Frage nach, welche Rolle das Erzählen in psychodynamischen Therapien spielt. Zunächst stellt er fest, dass es nicht so sehr darum geht, falsche Geschichten zu zerlegen oder das Patient*innen nur frei assoziieren. So gut wie immer finden die Mitteilungen der Klienten eine Erzählform für ihre Anliegen. Dazu stellt Herr Habermas folgende These auf: „Psychodynamische Psychotherapie lässt sich beschreiben als Arbeit am Erzählen, mit dem Ziel, dass möglichst alle relevanten Perspektiven eingeschlossen werden.“

Techniken therapeutischen Zuhörens

Zum Beleg der These will er beschreiben, wie Therapeuten aktiv zuhörend die Erzählungen vervollständigen. Dazu erläutert er vorab die klassischen Interventionen der psychoanalytischen Ichpsychologie. Diese bestehen aus Klärung der unklaren und fehlenden Teile, gefolgt vom Konfrontieren mit Fehlendem, mit Inkonsistentem, mit Auffälligkeiten und dem Deuten von z.B. Ängsten und abgewehrten Motiven, sowie der Emotionen. Wie beziehen sich nun diese Interventionen auf Geschichten?
Dazu bekommen wir noch zwei Gesprächsausschnitte vorgeführt, in denen die Anwendung der Interventionen die Geschichten vervollständigen, und dadurch die Emotionen und Motive geklärt werden. Daraus leitet Herr Habermas ab, auf welche Teile der Geschichte sich Therapeuten bevorzugt beziehen. Es sind verschiedene Teile, die aber immer mit Emotionen zu tun haben. Es geht dabei um Emotionen, die ein Motiv für Abwehr sein können.

Und die Moral von der Geschichte?

„Erzählungen sind ein zentrales Medium um Handlungen und Emotionen von Menschen zu verstehen.
Deshalb ist das Erzählen mit Eltern so wichtig für das Erlernen sozio-kognitiver und sozio-emotionaler Fähigkeit
Deshalb ist das Erzählen mit Therapeuten so wichtig für das Verstehen neurotischer Verzerrungen und Unglücks.“

Die Psychosomatik erforscht das Zusammenspiel von Genen und Umwelt

Gene oder Umwelt?

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 08.05.18 Von Dr. med. Derek Spieler:            „Nature or Nurture – Ausgewählte Aspekte zur Genetik und Epigenetik seelischer Erkrankungen“

Einstimmung

Herr Spieler beginnt seinen Vortrag mit einem Bild von René Margritte, das den Betrachter verwirrt, weil nicht zu bestimmen ist, ob es darauf Tag oder Nacht ist. Ähnlich, so Herr Spieler, geht es der Medizin mit der Frage nach genetischen oder umweltbedingten Krankheitsgeschichten. Bereits der Titel des Vortrags sei eine Provokation, weil das „Oder“ ein „entweder – oder“ nahelegt, das keinesfalls gegeben sei. Immer gibt es eine genetische Disposition, die immer in einer Interaktion, mit einer ebenfalls immer gegenwärtigen Umwelt, steht. Als Metapher bietet er den Segen von Thetis für ihren Sohn Achilles an. Sie hält ihn in den Fluss Styx, um ihn unverwundbar zu machen, aber sie muss ihn dabei an der Ferse festhalten, so dass er an dieser Stelle verwundbar bleibt. Eine seriöse Schätzung lautet im Moment, dass zu ca. 20% Gene am Krankheitsgeschehen beteiligt sind, und der Rest durch die Lebensweise bestimmt wird.

Genetische Einflüsse

Seit das menschliche Genom im Jahr 2001 vollständig sequenziert wurde, hat die Erforschung genetischer Krankheitsursachen einen gewaltigen Aufschwung erfahren. In breit angelegten Studien kam heraus, dass etwa jedes tausendste Basenpaar (von 3,3 Milliarden) Variationen aufwies. Nun konnte erforscht werden, welche Variationen mit bestimmten Erkrankungen assoziiert sind. Dazu wurden große Gruppen von Betroffenen (am Beispiel von Depressionen und Schizophrenie) mit Gruppen unauffälliger Menschen verglichen und auf diese Art festgestellt, an welchen Stellen die Erbsubstanz verändert war. Für die Depressionen und die Schizophrenie zeigte sich, dass es 44 bzw. 108 auffällige Veränderungen im Genom gab.
Mit diesem Vorwissen wurde es nun möglich, die Betroffenen auch mit bildgebenden Verfahren zu untersuchen. So konnte erforscht werden, wie die veränderten Gene sich auf Bau und Funktion des Nervensystems auswirken. Eine spezielle Veränderung lässt sich recht eindeutig mit dem „Anterioren Cingulären Cortex“ dem ACC in Verbindung bringen, eine Gehirnstruktur, die an emotionalen Bewertungen und Gedächtnisfunktionen beteiligt ist.

Umwelteinflüsse

Es ist bekannt, dass Menschen, die in Städten wohnen, ein höheres Risiko tragen, an einer Schizophrenie zu erkranken, als Menschen, die in ländlichen Regionen leben. Dieses Risiko steigt mit der Größe der Stadt und mit der Anzahl von Jahren, die man insbesondere als Kind in der Stadt verbracht hat. Auch hier konnte mit bildgebenden Verfahren aufgeklärt werden, welche Auswirkungen die Stressoren einer Großstadt auf Funktion und Bau des Nervensystems hat. Zum Einen verändert sich die Funktion des Angstzentrums, der Amygdala und zum Anderen konnten auch Veränderungen am ACC festgestellt werden. Hier treffen sich also die Auswirkungen angeborener und erworbener Merkmale.

Gene und Trauma

Eine weitere Gehirnstruktur, der Hippocampus, der eine zentrale Rolle für das Gedächtnis und die Alzheimer Demenz spielt, konnte mit diesen neuen Methoden ebenfalls erforscht werden. So gibt es Genvarianten, die ein großes Volumen für diese Struktur begünstigen und die Gefahr von Alzheimer mindern. Wenn Menschen nun traumatische Erfahrungen machen, kann im ungünstigsten Fall das Volumen des Hippocampus abnehmen. Je nach Vorgeschichte können manche Menschen aber auch an diesen Erfahrungen wachsen, bzw. wächst das Volumen des Hippocampus sogar an.

Epigenetik

Diese noch recht junge Disziplin handelt von der Regulation der Gentätigkeit abhängig von den Umwelterfahrungen. Eine Art dieser Regulation besteht in der sog. Methylierung des Cytosins. Eine solche Methylierung dämpft die Aktivität des betroffenen Basenpaars, was für sich kein Problem darstellt. Auch hier war es mit Hilfe der Sequenzierung möglich, die Methylierung in Abhängigkeit von den Lebensumständen zu erfassen. Herr Spieler nennt als Beispiel die Alkoholabhängigkeit, von der inzwischen bekannt ist, dass sie ein typisches Methylierungsmuster erzeugt, das nun wiederum zur sicheren Diagnose verwendet werden kann. Ein weiterer Forschungssektor in diesem Bereich ist die Auswirkung von Depressionen der Mutter auf das Baby. Auch hier konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Zusammenhang aufgedeckt werden.

Fazit

Wie auch immer unsere genetische Ausstattung aussieht, wir können nichts an ihr ändern. Wir können aber darauf achten, wie wir unser Leben führen und Herr Spieler ist der Ansicht, dass die Lebensführung die wichtigste Rolle für die Krankheitsvorsorge darstellt.

Ich war sehr zufrieden mit diesem klar gehaltenen Vortrag, der mit wenigen Folien auskam.

Psychosomatik und Sprache

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 06.02.18 von Carl Eduard Scheidt, Prof. Dr. MA – Uni Freiburg
„Sprechen über sich – Zur narrativen Konstruktion von Identität“

Sprechen und erzählen

Sprache ist für Menschen selbstverständlich. Wir benutzen sie ständig, um uns verständlich zu machen und zwar sowohl in unseren Gedanken als auch im Austausch mit anderen. Sprechen wird auch als soziales Handeln betrachtet. Wir appellieren damit, stellen etwas fest oder drücken unsere Gefühle damit aus.

Sprache ist auch das Medium der Erzählung und eine Erzählung hat eine raumzeitliche Struktur. Das umfasst einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. In der Mitte kommt es in der Regel zu Komplikationen und am Ende steht eine Bewertung oder Schlussfolgerung.

Eine Erzählung findet in der Gegenwart statt. Sie bezieht sich dabei auf etwas in der Vergangenheit. Das ‚erzählende Ich‘ der Gegenwart berichtet von dem ‚erzählten Ich‘ der Vergangenheit. In einem gewissen Sinn rekonstruiert das erzählende Ich sich selbst durch die Erzählung.

Traumatische Erfahrungen können diese Rekonstruktion empfindlich stören, denn die Erzählung kann uns helfen Gefühle und Umstände in unser Selbstbild zu integrieren.

Durch das Erzählen erweitern wir unser Weltwissen und pflegen dabei auch noch unsere Beziehung zum Zuhörer. Die erzählte Geschichte kann zu einem Teil unserer Identität werden.

Erzählung und Identität

Was aber ist nun Identität? Die Identität wird nicht mehr einfach als ‚dieses Ding‘ betrachtet, das eindeutig für sich existiert. Vielmehr ist die aktuelle Perspektive darauf die, dass sie konstruiert werden muss. Diese Konstruktion besitzt mehrere Dimensionen, die je nach Situation verwendet werden kann.

Wenn Menschen in existenziell umwälzende Situationen geraten, z.B. eine Krebserkrankung, der Ausbruch einer Psychose oder die Entdeckung der eigenen Homosexualität, wird das die bisherige Identität erschüttern.

In so einem Fall bekommen Erzählungen ganz neue Aufgaben. Sie müssen es schaffen, das Fortbestehen der Identität zu sichern. Es braucht neue Erzählungen für die Übereinstimmung mit sich selbst. Sie können auch dazu dienen, Anerkennung und soziale Resonanz zu fordern und manchmal dienen sie auch der Selbstrechtfertigung. Gerade wenn Schuldgefühle eine Rolle spielen, wird es wichtig, sich mit der Schuld erzählerisch auseinanderzusetzen, um so seinen Selbstwert zu schützen und auch die Gelegenheit zur Selbstreflexion zu nutzen.

psychische Aspekte

Wir hören nun einige Beispiele von biografischen Erzählungen. Herr Scheidt weist uns auf die verschiedenen Funktionen der Erzählung in diesen Geschichten hin.

Schon die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, enthält Beziehungsbotschaften. Dafür werden hauptsächlich körpersprachlichen Mittel eingesetzt.

Wichtig für die ‚Identitätsarbeit‘ sind die Bilder bzw. die Vorstellungen von Bildern, die andere sich von einem machen. Hier vermischen sich bewusste und unbewusste Inhalte. Meine Vorstellung davon, wie ich gerne wäre, muss in Einklang mit dem Bild gebracht werden, das sich andere von mir machen. Und auch meine Annahmen darüber, wie andere mich sehen, muss mit dem versöhnt werden, wie andere mich tatsächlich sehen.

Diese Erwägungen sind nicht spannungsfrei. Wenn die Person allerdings über ein stabiles Selbstbild verfügt und sich auch vorstellen kann, dass der andere ebenfalls über ein eigenes Erleben verfügt (TOM), stehen die Chancen gut, dass dieser Prozess gelingen wird.

Ein weiterer Aspekt ist der Einfluss des Hörers auf die Geschichte. Dies ist besonders bei Paaren relevant, die üblicherweise über eine Co-Konstruktion ihrer Beziehung erschaffen haben.

Wissenschaftliche Zugänge

Es gibt natürlich auch Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit von Erzählen. Die Hypothesen zur Wirkkraft sind:

  • Auflösen von Blockaden
  • Kognitives Durcharbeiten
  • Selbstregulation
  • Soziale Integration
  • Selbstdarstellung

Vermutlich werden es individuelle Mischverhältnisse dieser Prozesse sein, die im Einzelfall wirken. Das wird auch durch neurowissenschaftliche Studien bestärkt.

Die Gender Forschung hat herausgefunden, dass sich männliche von weiblichen Erzählstilen unterscheiden. Dies ist wohlgemerkt der sozialen Konstruktion zu verdanken und nicht den Genen. Männliche Erzählungen orientieren sich bevorzugt an Fakten und sie schlussfolgern am liebsten. Frauen orientieren sich eher an Emotionen, deshalb fragen sie nach und deuten das Gehörte.

Dieser Befund lässt sich mit den entwicklungspsychologischen Theorien von Jaques Lacan und Daniel Stern vergleichen. Der erstere nimmt an, dass das Baby sich in einem psychischen Chaos befindet. Der andere sieht die heranwachsende Ordnung als Motor des psychischen Erwachens.

Erzählen und Krankheit

Es gibt etliche psychische Krankheitsbilder, in denen die Erzählfähigkeit eingeschränkt oder gehemmt ist.

  • Identitätsstörungen
  • Affektive Störungen
  • Persönlichkeitsstörungen

Sprechen und erzählen kann hier zu einer wertvollen Intervention werden. Wenn es z.B. in der Therapie zu Störungen des Erzählflusses kommt, kann das auf eine psychische Belastung hinweisen. Ebenso das plötzliche Verstummen oder die Weigerung, schmerzhafte Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

Hier besteht die therapeutische Aufgabe darin, Wege anzubieten, wie das Unsagbare doch noch ausgedrückt werden kann.

Ich fand Herrn Scheidt beeindruckend in seiner Ruhe und Klarheit. Ich habe die Dichte und Konsistenz des Vortrags sehr genossen.

Die Psychosomatik untersucht ein „kleines“ Gefühl

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 28.11.17 von Alexandra Pontzen, Univ.-Prof. Dr. phil., Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Germanistik, Universität Duisburg-Essen
„Große Gefühle – Klägliches Leiden – Literatur und Peinlichkeit“

Ich denke, jeder Mensch kennt das Gefühl der Peinlichkeit – peinlich, peinlich das Missgeschick, der falsche Satz zur unpassenden Zeit, das Vergessen, Versagen, Verloren-Haben. Ist Peinlichkeit deshalb ein großes Gefühl? Frau Pontzen stellt diese Frage an den Beginn ihres flotten und reichhaltigen Vortrags.

von Peinlichkeit wird man überfallen

Wir verspüren Peinlichkeit schmerzlich als Hitzegefühl, Erröten, Unruhe und vermeiden den Blickkontakt – allerdings: Hat die Peinlichkeit immer mit der Vorstellung eines Beobachters zu tun, der/die wahrnimmt, was wir Peinliches angestellt haben. Wir erwarten, dass wir dafür wahrscheinlich ausgelacht oder verachtet werden. In der Peinlichkeit trifft sich die persönliche Psyche mit den verinnerlichten sozialen Regeln und Erwartungen. Peinlich ist, wer sich nicht an diese ungeschriebenen Regeln hält oder halten kann.

Peinlichkeit in der Literatur

Dabei wird auch deutlich, warum ausgerechnet eine Literaturwissenschaftlerin über dieses Thema so viel zu berichten weiß, denn diese ungeschriebenen Regeln für die „feinen Unterschiede“ werden in der Wissenschaft kaum erforscht. In der Literatur hingegen werden sie ständig verarbeitet und damit explizit. Angereichert mit zahlreichen Beispielen aus der Literatur, führt uns Frau Pontzen durch verschiedene Aspekte der Peinlichkeit.

Ein wissenschaftlicher Blick auf die Peinlichkeit

Zunächst liegt es nahe, dass das Sprechen über Peinlichkeit peinlich werden kann und zwar für Sprecher*in und Zuhörer*innen. Es würde auch niemand einen langweiligen Vortrag über Humor erwarten. Also ist es hilfreich, Peinlichkeit zunächst aus wissenschaftlicher Distanz zu betrachten. Peinlich ist eine Figur der Abweichung, die aufgezeigt wird. Es geht also um ästhetisch-kommunikative Aspekte, die optisch erfasst und leiblich erlebt werden können. Dabei sind immer die persönliche Perspektive und eine (auch imaginäre) Zuschauerperspektive ineinander verschränkt.
Persönlich erleben wir peinliche Erinnerungen als nicht-steuerbar. Sie tauchen auf und beeinflussen das Erleben. Dabei neigt das Leiden an der Peinlichkeit dazu, überproportional zum Anlass aufzutrumpfen. Als Referenzen für Peinlichkeit stehen eine Reihe von binären Kategorien bereit: Gut – Böse, Schön – Hässlich, Richtig – Falsch, Üblich – Unüblich.
Anthropologisch betrachtet steht Peinlichkeit in der Reihe der Gefühle von: Schuld, Scham, Peinlichkeit, Verlegenheit. Die Reihung macht auch die Intensität der Gefühle deutlich und aus dieser Sicht ist Peinlichkeit kein „großes Gefühl“. Sie hat dennoch die Kraft, große Gefühle erheblich zu stören, wenn man sich z. B. vor dem Menschen, in den man verliebt ist, lächerlich macht, kann die Verliebtheit in Gefahr geraten.

Peinlichkeit aus der Sicht der Soziologie

Aus soziologischer Perspektive lässt sich Peinlichkeit als Kulturleistung sehen. Die Kulturen schaffen es, ihre Normen und Werte in die Psyche der Individuen zu transportieren – ob dies eher eine nach innen verlegte Sozialangst und Gerichtsbarkeit ist, wie Norbert Elias das sieht, oder die Kultur der „feinen Unterschiede“ wie Pierre Bourdieu sie konzipiert hat oder die Verletzung der „vorgestellten idealen Situation“ wie Erving Goffman theoretisiert. Peinlichkeit ermöglicht Skandale zu vermeiden, was sie wiederum zu einer Qualität macht.

Peinlichkeit und Ethnologie

Auch ethnologisch gibt es Betrachtungen zur Peinlichkeit z.B. die Unterscheidung in Schuld- und Schamkulturen. In den einen wird auf äußere Sanktionen gegen Abweichungen reagiert und in den anderen mit inneren. Eine andere Unterscheidung wäre Peinlichkeits- vs. Lächerlichkeitskulturen. Hier ist die Leitdifferenz die Perspektive der Zeugen der Peinlichkeit und deren Schmerz über die peinliche Situation. Lächerlichkeit führt zum Kulturausschluss, denn ein Mensch macht sich unmöglich. Hier finden sich auch Bezüge zum Fremdschämen.

Peinlichkeit und Psychologie

Psychisch ist Peinlichkeit eine Art von Bewusstseinsverdoppelung. Das Bewusstsein erlebt sich und beobachtet zugleich das Erlebte aus einer imaginären Position (wem das bewusst wird, verdreifacht sich das sogar). Im Erleben bzw. im Vorstellen der Peinlichkeit verliert die Zeit ihren üblichen Verlauf. Die Vorstellung reicht in die Zukunft, evtl. bis in eine ferne Zukunft, in der immer noch die Peinlichkeit von heute erinnert wird. Peinlichkeit ist so betrachtet auch ein selbsterzeugtes (poietisches) Gefühl. Indem ich im Geist die Zuschauerperspektive aufrufe, entsteht die Peinlichkeit. Eine Form kreativer Einbildungskraft.

Am Ende gibt es noch einen kurzen Streifzug durch die Literatur mit vielen Beispielen zum Thema.
Das Dienstagskolloquium bietet immer wieder Perspektiven, die nicht aus Medizin oder Psychologie kommen und wie fast immer, war auch dieser Beitrag eine große Bereicherung für mich. Peinlichkeit scheint eine Übergangsmöglichkeit vom persönlichen Erleben in den sozialen Raum zu sein. Oder anders ausgedrückt – was uns peinlich ist, gibt uns Auskunft darüber, welche sozialen Normen wir verinnerlicht haben.