Die Psychosomatik erkundet Rituale

Rituale strukturieren das Leben

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.11.19 von William Sax, Heidelberg:
„Ritual als Therapie“

Einleitung

Professor Sax beginnt mit dem Gedanken, dass psychische Gesundheit ein global wünschenswertes Ziel sei. Aber was bedeutet „psychische Gesundheit“? Wer definiert das und wie wird es definiert? Er berichtet über das „Movement for global mental health“, eine Organisation, die den Mangel an Psychiatern in ärmeren Weltgegenden als Verletzung der Menschenrechte betrachtet. Die Mitgliedsorganisationen fordern mehr Psychiater für Arme.
Aber darin liegen auch potenzielle Probleme. Je nach Kultur, in der moderne psychiatrische Mittel zum Einsatz kommen, können diese Mittel auch Schaden anrichten. Darüber hinaus ist nicht klar, welchen Interessen diese Art von Intervention dient. Der rein materialistische Zugang zu psychischen Erkrankungen birgt Risiken und macht blind für andere Arten des Umgangs mit psychischen Erkrankungen.

Rituale und Therapie

Es gibt weltweit Heilungstraditionen, ritueller und religiöser Art, mit denen ein Großteil von Problemen aller Art – auch psychischer Krankheit – behandelt werden. Das trifft nicht nur auf Kulturen des globalen Südens zu, sondern auch auf die USA und Europa. Erstaunlicherweise gibt es dazu so gut wie keine Forschungen. Ein der weniger Studien, die in Indien durchgeführt wurde, zeigt, dass ca. 80% der psychischen Probleme mit einem traditionellen Verfahren behandelt wurde. Leider fehlen hier die Studien über Wirksamkeit und Erfolgsdauer der Behandlungen.
Herr Sax vollzieht noch einmal den Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds nach. Wie schon gesagt führte die Dominanz der materialistischen Weltauffassung dazu, dass in einem ersten Schritt die Seele verschwand und in einem zweiten der Geist zum Gehirn reduziert wurde. Diese Entwicklung hat einerseits eine große Menge an wertvollem Wissen gewonnen, es andererseits allerdings unmöglich gemacht, in der Psychiatrie nach Sinn und Bedeutung zu fragen. Weiter noch führt diese Art den Menschen als Maschine zu betrachten dazu, dass die Menschen diese Sichtweise übernehmen und sich selbst ebenso als Maschinen betrachten.

Rituale

Was ist ein Ritual? Zahlreiche Anthropologen und Ethnologen sind sich nach jahrzehntelanger Diskussion nicht darüber einig geworden, wie ein Ritual zu definieren wäre. Für Ritual Anwender sind die Vollzüge eine „Technik“, und nicht eine „Heilung“, es wird also schon schwierig, wenn Wissenschaftler versuchen, sich mit Ritualteilnehmern über die Handlungen auszutauschen.

Rituale können sehr, sehr unterschiedlich auftreten, denn sie dauern kurz oder länger (manchmal Jahre), sind vorübergehend, gelegentlich oder regelmäßig und dabei mehr oder weniger aufwendig. In der Regel sind sie Ausdrucksstark und zur Verblüffung der Wissenschaft nicht instrumentell. Das ist ein Merkmal eines vormodernen Weltbilds und damit unvereinbar mit modernen Wissenschaften.

Dass Rituale wirken, ist vielfach belegt, aber wie wirken sie? Dazu gibt es, mangels Definition, kaum Antworten. Wirken sie ähnlich wie Kräutertränke, geht es um wiedergefundenes Vertrauen, wird die Welt neu geordnet? Man könnte alle Hypothesen bejahen, aber hätte noch keine befriedigende Antwort.

Familie und Ritual

Herr Sax zeigt uns einen kurzen Filmausschnitt aus einer indischen Provinz, wo er einem Orakel beiwohnte. Der Gang zum Orakel ist in der Regel der erste Schritt, wenn ein Familienmitglied unerklärliche Symptome zeigt. Das Orakel versetzt sich in Trance und befragt die Familie: „Ist die Familie vereint?“ Und falls nicht: „Ist es möglich, dass die Familie sich vereinen kann?“ Damit berücksichtigt das Orakel, dass die allermeisten Fälle von unerklärlichen Krankheiten auf Familienstreitigkeiten zurückgehen.
Die Familienverbände sind in dieser Weltgegend oft die einzige Quelle von Moral und materiellen Ressourcen. Man opfert sich immer wieder für einzelne Familienmitglieder auf. Dabei entstehen auch Neid und Missgunst, Rachegelüste, Kränkungen u.v.m.

Die moralischen Gebote des Hinduismus oder auch des Islam verbieten nun, Rache zu nehmen, insbesondere verbieten sie die Nutzung von schwarzer Magie. Aber offenbar wird dieses Verbot nicht immer eingehalten. Für westlich sozialisierte Menschen erstaunlich ist, dass schwarzmagische Flüche offenbar tatsächlich Wirkung entfalten und zwar bis hin zum Tod des Verfluchten.

Kosten des Rituals

Aber falls die Familie sich vereinigen kann, wird ein aufwändiges und teures Ritual verordnet. Die ganze Familie, auch weit entfernt wohnende Mitglieder, müssen daran teilnehmen. Die Zeit der gemeinsamen Vorbereitung zur Durchführung des Rituals bringt die Familie wieder zusammen und schafft so die Möglichkeit einer Veränderung.

Auch in muslimischen Kulturen gibt es ähnliche Verfahren. Dort sind es eher „Dschinns“, das sind unsichtbare Wesen, die aus rauchlosem Feuer erschaffen sind, die im Auftrag des einen Menschen von einem anderen Menschen Besitz ergreifen. Es gibt verschieden Wege, diese Dämonen zu exorzieren und es gibt unterschiedlich seriöse Exorzisten, die diese Fähigkeit besitzen. Auch hier bekommen wir einen kleinen Film gezeigt.

Der Vorzug der Besessenheit ist, dass die Kranken von einer Krankheitsschuld entlastet werden. In muslimischen Kulturen wird der Dschinn dann möglichst gefangen und getötet. Anders in Hindu Kulturen. Dort werden die Dämonen nach Möglichkeit versöhnt. Diese Art der Herangehensweise ermöglicht den Kranken die Einsicht, wie sie sich verletzlich gemacht haben.

Nachwort

Es gibt also einen gewaltigen Bereich von sozio-psychischen Phänomenen, die von der Wissenschaft, insbesondere der medizinischen Wissenschaft, ausgeblendet werden. Ein ähnliches Schicksal wie die Placebo oder Homöopathie Forschung, denn damit lassen sich keine Karrieren starten.

Herr Sax macht uns klar, dass viele wissenschaftlich Verfahren der Vergangenheit heute als unwissenschaftlich gelten und dass sicher auch in der Zukunft viele heutige wissenschaftliche Methoden als unwissenschaftlich entlarvt werden dürften. Das Phänomen „Gesundheit“ (das sich übrigens auch nicht definieren lässt) ist mit so vielen Aspekten verbunden, dass die Reduktion auf die materiellen Aspekte eine Art selbstverordneter Blindheit gleichkommt.
Es kommt darauf an, Geist und Körper wieder zusammenzuführen und wenn dabei die Seele auch noch eine Rolle spielen darf, wäre das wohl kein Fehler.

Die Psychosomatik erkundet die Spiritualität

Psychotherapie und Spiritualität

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 29.10.19 von Harald Walach, Berlin:
„Spiritualität, Verbundenheit und Psychotherapie“

Erfahrung

Herr Walach stellt uns zu Beginn ein Zitat von John Duns Scotus aus dem fünften Jahrhundert vor: „Wer eine Erfahrung gemacht hat, hat täuschungsfreie Kenntnis“. Mit dieser Definition beginnt er, uns einen Begriffsapparat vorzustellen, der dabei helfen soll, seinen Denkansatz nachzuvollziehen.
In aktueller Sprache formuliert ist Erfahrung:

„Eine kognitiv-affektive Einsicht, die nicht notwendigerweise kategorial einzuordnen ist, aber normalerweise in kategorialem Rahmen ausgedrückt wird, damit sie kommunizierbar wird.“

Hier wird schon deutlich, dass Herr Walach nicht nur Psychologe sondern auch Philosoph ist.
Dass Erfahrungen mehrdeutig sein können, wird durch das Foto eines Papageis veranschaulicht, denn erst bei sehr genauem Hinsehen wird deutlich, dass es sich bei dem Bild um eine kunstvoll bemalte Frau handelt. Eine Erfahrung besteht also aus einer emotional-affektiven und kognitiven Einsicht, der zweitens ein Handlungsimpuls folgt.

Spiritualität

Der nächste Begriff, den Herr Walach definiert, ist „Spiritualität“. Es geht dabei darum, das Leben auf Ziele und Wirklichkeit, über die Belange des eigenen Ichs hinaus, auszurichten.
Spiritualität ist aber auch eine Haltung, die meistens aus einer Erfahrung stammt, einer eigenen Erfahrung oder einer kulturell vermittelten.
Zur Abgrenzung definiert er nun noch „Religion“. Diese ist ein System von Interpretationen bzw. Geschichten, Ritualen und Handlungsschemata, bzw. ethischen Normen. Darin drücken sich spirituelle Erfahrungen aus und haben das eigentliche Ziel, solche Erfahrungen neu zu ermöglichen.
Was ist nun aber eine spirituelle Erfahrung? Es ist die Erfahrung einer absoluten, transzendenten, über das eigene Ich und seine unmittelbaren Belange und Bedürfnisse hinausgehende Wirklichkeit.

Veränderung und Psychotherapie

Das Ziel einer Psychotherapie ist u. a. eine emotional-affektiv getragene kognitive Einsicht in dysfunktionale Verhaltens- und Beziehungsmuster. Sie ermöglicht neue, verändernde Bindungserfahrungen, Erfahrungen von Selbst-Wert und Selbstwirksamkeit, sowie die Einsicht in Abhängigkeiten und missbrauchende Beziehungen und diese Liste ließe sich sicher noch fortsetzen.
Menschen, die von psychischen Problemen betroffen sind, haben häufig die Erfahrung von Vereinzelung und mangelnder Verbundenheit. Ihre Erfahrung ist in der Regel vom jeweiligen Augenblick, der Gegenwart, abgekoppelt. Dabei leben depressive und Suchtkranke Menschen eher in der Vergangenheit. Menschen mit einer Angstthematik eher in der Zukunft, aber beide Gruppen verpassen gewissermaßen die Wirklichkeit der Gegenwart.

Phänomenologie der spirituellen Erfahrung

Anhand weiterer historischer Schriften bringt uns Herr Walach die Merkmale einer spirituellen Erfahrung näher. Dazu nutzt er die Auswertung von unzähligen Berichten aus vielen Kulturen quer durch die Geschichte.

• Einsicht
o Schlagartig „wie ein Blitz“, „Erleuchtung“
o Holistisch-ganzheitlich, die ganze Wirklichkeit betreffend

• Erfahrung von Liebe
o Oft als Liebe Gottes interpretiert, oder als eine liebevolle Zuwendung des Universums

• Erfahrung von Verbundenheit mit Allem: Menschen, Tieren, Natur
o Der Andere, das bin ich“ – „Ich und die Welt sind eins“

• Verlust der Angst vor dem Tod
o Phänomenologisch manchmal Ähnlichkeit mit Nahtoderfahrungen

• Anhaltende Wirkung, tiefgreifende Veränderung der Person

Wie gesagt finden sich diese Erscheinungen durch alle bekannten Zeiten. Dasselbe gilt für das Phänomen, dass diese Erfahrung von außen, also von anderen Menschen, oft nicht verstehbar ist. Betroffene werde als Abweichler erlebt und nicht selten auch als solche behandelt. Das gilt auch noch in der Gegenwart, denn unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten wird diese Erfahrung als „abweichend“ klassifiziert.
Anders, wenn diese Erfahrung im Rahmen eines religiösen Systems gemacht wird. Die Erfahrung wird nun eher religiös oder mystisch genannt, z. B. „Satori“ im Zen Buddhismus oder „Unio mystica“ in christlichen Traditionen.

Spiritualität und Wissenschaft

Ein näherer Blick auf die spirituelle Erfahrung ergibt, dass sie primär die Erfahrung eines subjektiven Bewusstseinsakts ist. Eine Erfahrung von Wirklichkeit von innen heraus. Erst im zweiten Schritt erfolgt nun eine Interpretation, auf der wiederum sozial-politische Institutionalisierungen aufbauen. Diese sorgen für eine Kanonisierung von Schriften und Lehren, die wiederum rekursiv interpretiert und angepasst werden.

Natürlich darf bei einer wissenschaftlichen Betrachtung eine Statistik nicht fehlen. Wir sehen die Ergebnisse einer Umfrage, an der 895 deutschen Psychotherapeuten teilgenommen haben. Immerhin 65 % von ihnen glauben an eine höhere Wirklichkeit. Ein starkes Drittel bezeichnet sich als spirituell und ein Fünftel als religiös. Nach spirituellen Erfahrungen befragt, gibt nur ein gutes Drittel an, noch nie so eine Erfahrung gemacht zu haben. Ein stärkeres Drittel allerdings hat diese Erfahrung sogar als öfter als ein- oder zweimal gemacht. Eine Umfrage aus Neuseeland, Kanada und den USA erbrachte ähnliche Ergebnisse.

Spiritualität und Gesellschaft

Spiritualität scheint also etwas seit langem Bekanntes zu sein, offenbar etwas völlig Normales. Wenn das so ist, stellen sich einige Fragen:

Warum

• gibt es keine „Spiritualitätskolumne in Zeitungen, ähnlich wie „Beziehungskolumnen“?
• ist sie kein öffentliches Thema?
• ist sie gefährlich für akademische Karrieren?
• gibt es darüber so relativ wenig in der wissenschaftlichen Literatur?
• kommt sie in der Psychotherapieausbildung nicht vor?

Herr Walach hat einige Vermutungen dazu:

Weil

• Wissenschaft als Motor und Erbin der Aufklärung oft implizit eine materialistische Weltanschauung transportiert oder impliziert
• die Errungenschaft der Aufklärung, die Trennung von Staat/Öffentlichkeit und Kirche/Religion, als bedeutsam gesehen wird und eine Bedrohung befürchtet wird
• viele Spiritualität und Religion verwechseln
• die Wissenschaft keine Methodik und Systematik der „inneren Erfahrung“ entwickelt hat
• das Metaphysikverbot des Neopositivismus noch fortwirkt

Wissenschaft und Spiritualität – eine historische Betrachtung

Wissenschaft versteht Herr Walach als:

„Ein kollektiver Versuch, die Welt zu verstehen und dabei Irrtum so gut als möglich zu vermeiden.“

Für ein besseres Verständnis betrachtet der Vortragende nun noch die Geschichte der Aufklärung, denn diese ist auch die Geschichte der Wissenschaft. Die Aufklärung hat die Rationalität von der dogmatisch-moralischen Bevormundung und religiöser Kontrolle befreit. Moderne Astronomie statt geo-zentrischer Weltsicht, die Evolutionstheorie, die Psychologie, sowie die Psychoanalyse und die Skepsis. Aber, mit der Religion wurde auch die Spiritualität als Thema verbannt. Gewissermaßen ein „post-hypnotischer Befehl“ des Positivismus.

Daraus hat sich eine Dominanz eines „krypto-materialistischen Weltbilds“ entwickelt. Damit meint Herr Walach, dass der Materialismus eine implizite Voraussetzung des modernen wissenschaftlichen Weltbilds ist. Als sog. „absolute Voraussetzung“ kann der Materialismus aber nicht mehr hinterfragt werden. Er ist notwendig und gleichzeitig begrenzend, aber selbst nicht das Ergebnis eines wissenschaftlichen Diskurses. Diese Sichtweise führte zur Betrachtung des Menschen als Maschine.

So über den Menschen zu  denken, lässt sich mindesten bis ins 17te Jahrhundert zurückverfolgen. Der bekannteste Denker und Mitbegründer war sicherlich René Descartes. Seine Sichtweise war in dieser Zeit revolutionär, denn sie war extrem erfolgreich und wurde später auch das neue Paradigma der Biologie. Dann wurde fatalerweise das Maschinen Modell auf den Geist übertragen, der so auch zur Maschine wurde. Und klammheimlich entwickelte sich der Materialismus zur impliziten Ontologie der Wissenschaft.

Spiritualität und Karriere

Mit einer weiteren Statistik verdeutlicht uns Herr Walach diesen Befund. Über neunzig Prozent der Top Wissenschaftler*innen glauben nicht an Gott oder an ein Weiterleben nach dem Tod. Wie kommt es, dass Wissenschaftler so von der obigen Statistik abweichen? Es ist ein „Destillationsprozess“, eine Auslese während der Karriere. Nur wer nicht zu diesen Themen forscht, bzw. Stellung bezieht, bekommt überhaupt eine Chance ein Top Wissenschaftler zu werden. Am Ende (also heute) erscheint es so, als sei Wissenschaft und Atheismus/Agnostizismus identisch und weiter entsteht die Atmosphäre eines impliziten Tabus in der Kultur unserer Gesellschaft.

Neuere Entwicklungen

Aber es scheint sich etwas zu verändern, denn Spiritualität wird mehr und mehr von der Wissenschaft als Thema ernstgenommen.

Neurowissenschaftlich
• Meditation wirkt auf die Struktur des Gehirns ein – es wachsen neue Zellen und neue Synapsen, und das in sehr relevanten Bereichen des Gehirns.

Medizinisch
• Spiritual Care (Palliativmedizin)
• Spiritualität als Ressource (Onkologie)

Medizin-Psychologisch
• Achtsamkeit als großer neuer Forschungszweig
• Achtsamkeitsbasierte Verfahren zur Therapie, als Prävention, zur Selbstfürsorge für Therapeuten und Ärzte

Psychologisch
• Religiöses Coping
• Religionszugehörigkeit als Resilienz Faktor (Gemeinschaft, Lebensführung, Sinnstiftung)
• Sinn und Werte als Resultat religiöser Lebensgestaltung
• Spirituelle Zugänge in der Psychotherapie

Auch zu diesen Themen gibt es bereits Statistiken. Diese zeigen, dass spirituelle Praxis und Erfahrungen die Kraft entfalten, gegen Stress zu wirken. Die Lieblingsstatistik von Herrn Walach nimmt folgendes Setting. Junge Psychotherapeuten (VT) werden in zwei Gruppen aufgeteilt. Die eine Gruppe meditiert am Morgen mit einem Zen-Meister, die andere nicht. Alle gehen ihrer Arbeit nach und nach einer gewissen Zeit werden die therapeutischen Erfolge bei den Klienten überprüft. Das Ergebnis lautet: Meditierende Therapeut*innen sind viermal so erfolgreich wie ihre nicht meditierenden Kolleg*innen.
Die Lektion dieser Erkenntnisse lautet also:

„Fehlende spirituelle Praxis ist ein Risikofaktor für die psychische Gesundheit.“

Das erfolgreichste medizinische Verfahren aller Zeiten war die Einführung von Hygiene Vorschriften (ca. 1870), Was wäre, wenn eine ganze Gesellschaft damit anfinge, täglich zu meditieren?

Eine neu/alte Epistemologie

Wie schon aufgezeigt kann die herrschende Erkenntnistheorie die spirituelle Erfahrung nur als „Innenerfahrung“ ohne Wirklichkeitsbezug wahrnehmen. Das war nicht immer so. Bereits die Philosophen Spinoza und Leibniz, aber auch C.G. Jung vertraten ein komplementäres Modell von Materie und Bewusstsein, worin Körper, Materie und Information nur je ein Aspekt einer Einheitswelt sind. Der andere Aspekt ist Geist, Bewusstsein und Bedeutung. Damit ergeben sich zwei Zugänge zur einen Welt, nämlich die Sinneserfahrungen, die wissenschaftlich geprüft werden können und die Innenerfahrungen, die uns mit Sinn, Moral, Werten und evtl. der Tiefenstruktur der Wirklichkeit in Kontakt bringen kann.

Spiritualität und Psychotherapie

Herr Walach fasst zusammen:
• Spiritualität ist eine natürliche Befindlichkeit des Menschen
• Sie repräsentiert die Erfahrung der Verbundenheit
o mit sich selbst
o zu anderen
o zur Welt
• Stellt daher eine Ressource dar
o Für Psychotherapeut*innen
o Und Patient*innen

Praktisch bedeutet das:
• Die Forderung nach einer Kultur und einer Kultivierung des Bewusstseins als praktische Konsequenz
o Regelmäßige Aus-Zeit (Meditation, Sammlung, Kontemplation, Yoga … )
• Für Therapeut*innen und Patient*innen
• Die erleichtert den Zugang zu Sinnerfahrungen und Rekonstruktionen des Lebens.
Viel Beifall für diesen reichen Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet Systemische Therapieansätze

Systeme bestimmen unser Leben

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 22.10.19, von Jochen Schweitzer-Rothers, Heidelberg: „Heilung als Gemeinschaftsleistung“

Einleitung

Zum Einstieg bietet uns Herr Schweitzer vier Thesen an:
1. Die Entwicklung psychischer Störungen ist eine Gemeinschaftsleistung und ihre Heilung ebenfalls
2. Mehrpersonen-Therapiesettings fördern schnellere und nachhaltigere Veränderungen
3. Auch Einzeltherapien geschehen inmitten systemischer Kontexte, deren Nutzung sich lohnen könnte
4. Heilung ist auch eine politische Gemeinschaftsleistung

Dann bekommen wir die Struktur des heutigen Vortrags vorgestellt:
1. Kultur, Soziale Systeme, Psychotherapie: Therapie-Kulturen
2. Heilung als Gemeinschaftsleistung: Gute Gründe und Formen
3. SYMPAthische Psychiatrie
4. Systemische Therapie bei Sozialer Angst
5. Mehr-Familien-(Gruppen)-Therapie
6. Heilung als Gemeinschaftsleistung und die deutschen Psychotherapierichtlinien
7. Therapie und Politik: Zwischen Neutralität und Positionierung

Die Systemische Perspektive

Herr Schweitzer erläutert uns also zunächst den Begriff der „Kultur“. In seiner Ursprungsbedeutung bedeutet er Ackerbau, Pflege, Bearbeitung, also alles, was der Mensch gestaltend hervorbringt. Daraus haben sich bis heute zahlreiche andere Bedeutungsnuancen entwickelt, z.B. die „Normen“ einer „Hochkultur“, die Sprachspiele, bzw. Diskurse, die Praxis (Habitus) und auch das, was verbindet oder trennt, wie das bekannte Paar Leitkultur vs. Multi-Kulti.

Psychotherapie als Kulturform

Psychotherapie kann als Sub-System einer Kultur angesehen werden und auch PT kennt unterschiedliche Kulturen. Aus systemischer Sicht lassen sich vier Aspekte untersuchen:

Psychotherapie als:
1. Diskurs: Wer kommt zu Wort? Wessen Ideen setzen sich durch?
2. Habitus: Was wird getan? Was unterlassen? Welches Verhalten ist angemessen?
3. Norm: Wird eine Leitkultur angestrebt (Richtlinienverfahren) oder ist Multi-Kulti möglich?
4. Kulturelle Praxis: Wer soll wobei mitmachen? Wie oft, lange, regelmäßig und wo?

Systemische PT-Kultur

Herr Schweitzer erläutert uns nun, wie systemisch orientierte „Kollektive Psychotherapie-Kulturen“ diese Aspekte angehen.

1. Diskurse: Patienten, Angehörige, Freunde, Kollegen, Nachbarn, Mitbehandler … können zu Wort kommen. Die Therapeutin glaubt ihnen allen – er/sie ist allparteilich
2. Habitus: Es wird nicht nur gesprochen, sondern auch gehandelt, verhandelt, erprobt, gespielt, getröstet
3. Normen: Unterschiedliche Settings werden zielabhängig kombiniert: Einzel-, Paar-, Familien-, Kinder/Eltern-, Lehrer-Gespräche
4. Kulturelle Praxis: Therapie kann in der Praxis, Zuhause, in der Schule, der Firma, auf dem Spielplatz … stattfinden. Ort, Frequenz, Dauer und Sitzungszahl hängen von Ziel und Kontext ab

Diese Art der Herangehensweise ergibt sich aus der Einsicht, dass Menschen einen Großteil ihrer Probleme nicht alleine lösen können. Vor allem dann nicht, wenn ihnen allzu viele Ressourcen fehlen, wenn sie mit anderen verstrickt oder von ihnen abhängig sind oder sie zwar gute Ideen haben, diese aber nicht alleine umsetzen können.

Wir erfahren noch etwas über den Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken. Systeme haben eine Grenze, Netzwerke nicht. Trotzdem sind beide Beziehungsgeflechte, erstere selbstbezügliche, letztere offene.

Einige Techiken der Systemischen Praxis

Als nächstes bekommen wir einige Techniken näher erläutert, z.B. eine „Ökosystem-Landkarte“, auf der Patient*innen verschiedene Personen in ihrer relativen Nähe zu sich darstellen können. Auf so einer Karte können auch hilfreiche oder ängstigende Aspekte eingetragen werden.

Dann geht es mit einem kleinen Ausflug in die Geschichte der „Ökosystemischen Tradition“ weiter. Bereits 1960 gab es erste Ansätze, die aber in den achtziger Jahre wieder ein wenig versandet sind. Herr Schweitzer mutmaßt, dass das mit der neoliberalen Politikwende zu tun hatte.

Herr Schweitzer beendet diesen Teil mit einem kleinen Überblick über die aktuellen therapeutischen Formen dieses systemischen Ansatzes. Da gibt es: Multifamilientherapie, Multisystemische Therapien, Elterncoaching, Aufsuchende Familientherapie, Gemeinwesen orientierte Familientherapie, Linking Human Systems.

SYMPA

Der Vortragende erläutert nun etwas ausführlicher die „SYMPA“ die Systemtherapeutische Methoden psychiatrischer Grundversorgung. Diese setzt auf die folgenden Prinzipien:

1. Weiter Familienbegriff: „Existenzielle Bezugssysteme“
2. Kooperationsangebot: Angehörige als Mitbehandler oder/und als Mitbehandelte
3. Kontextuelles Fallverstehen: Symptome im Beziehungskontext als verständlich, zuweilen „sinnvoll“ anerkennen, eine „Störung als Gemeinschaftsleistung“ betrachten
4. Ressourcen- und Lösungsorientiert: (Er)finden von Lösungen ist wichtiger als Ergründen von Ursachen
5. Systemische Selbstreflexion: sich beim Zusammenarbeiten beobachten und daraus lernen

Systemische Praxis in der Psychiatrie

Wir sehen ein Diagramm des Behandlungsschemas der „Systemischen Akutpsychiatrie“, woraus die hohe Transparenz für alle Betroffenen ersichtlich wird. So sind sogar in der Supervision die Patient*innen und Angehörigen mit anwesend und sie können sogar bei der Verfassung des Arztbriefs mitarbeiten.
Der Vortragende beschließt diesen Teil mit statistischen Belegen für die Wirksamkeit dieses Ansatzes.

SMILE

Nun lernen wir noch „SMILE“ kennen, das sind „Systemisch inspirierte Methoden für die Interaktion und Lösung von Eskalationsmustern“. Diese Herangehensweise betrachtet sowohl die Interaktionsmuster zwischen Helfern und Patient*innen, als auch die zwischen den Helfern. Dabei wird auf die Haltung der Beteiligten geachtet, ebenso auf deren Kontakt und Kommunikation und das alles unter Berücksichtigung des Kontexts. So wird es erleichtert, Eskalationen zu vermeiden bzw. zu entschärfen oder falls sie schon stattgefunden haben, sie aufzuarbeiten.

Zu jedem Aspekt stellt das „Multi-Helfersystem“ einige Strategien vor. Am Beispiel der Haltung lauten diese:
• „Das Wir gewinnt.“ Andere Helfer mit ins Boot holen.
• „Mit Kompass zum Ziel.“ Entscheidungen zum Wohl des Betroffenen ausrichten
• „Manchmal liegen Welten dazwischen“ Unterschiede zwischen Familie, Heim und Psychiatrie akzeptieren.
• „Das schaffen wir schon!“ Stärken und Erfolge im Blick behalten.

Es gibt auch noch ein Systemisches Therapiemanual für sozial ängstliche Menschen. Darin werden Gespräche mit den Patient*innen und den Angehörigen, sowie in Gruppen von Betroffenen geführt. Verschiedene Techniken kommen zum Einsatz, z.B. sich in der Gruppe zeigen und voneinander lernen oder auch angstfördernde Glaubenssätze zu dekonstruieren. Ebenfalls hilfreich ist die grafische Darstellung von Unterstützungs- und Angstnetzwerken.

Zum Thema der Mehr-Familien-(Gruppen)-Therapie zeigt uns Herr Schweitzer einen kurzen Film, bzw. einige Bilder daraus. Familienszenen werden an heiklen Stellen angehalten, die stellvertretenden Spieler*innen frieren gewissermaßen ein. Die Zuschauer der Szene dürfen nun die Haltungen der Spieler*innen verändern, was häufig zu sehr hilfreichen Lösungen führt.

Systemische Therapie und Ethik

Zum Thema der Psychotherapierichtlinien lernen wir die sieben Grundwerte der DGSF kennen.
1. Frieden und Gewaltfreiheit
2. Freiheit von … und Freiheit zu …
3. Gleichheit und Gerechtigkeit
4. Geschwisterlichkeit und Solidarität
5. Teilhabe: Partizipation und Inklusion
6. Ausgleich – ökosystemische Balance
7. Informationelle Selbstbestimmung

Systemische Therapie und Politik

Darauf folgt zum Abschluss die Betrachtung von Therapie und Politik – Zwischen Neutralität und Positionierung. Auf die Fragestellung:

„Wie können Systemische Therapeut*innen und Berater*innen gesellschaftspolitisch handeln?“

gibt es folgende Vorschläge:

Individuell: Indem sie als Praktiker*innen ihren Klient*innen helfen
• Die politischen Kontexte ihrer Probleme zu verstehen
• Sich gegen als ungerecht Erlebtes systemkompetent zu wehren
• Und sich Bündnispartner zu suchen

Kollektiv: indem sie in ihren Verbänden
• Schlechte Zustände deutlich benennen
• Auf Verbesserung schlechter Lebensbedingungen ihrer Klient*innen drängen
• Auf Verbesserung eigener schlechter Arbeitsbedingungen drängen

Auf die Frage: „Wie kann eine politisch reflektierte Therapie- und Beratungspraxis aussehen?“ Gibt es folgende Vorschläge:
1. Reflektierte Parteilichkeit: Wie viele Veränderungsunterstützung wünscht der Klient?
2. Mit dem Klienten die politischen Kontexte seiner Probleme erkunden
3. Ermutigen, sich auf eigene Werte und Widerstandskräfte zu besinnen
4. Wo und wie kann der Klient sich gegen Ungerechtes wehren?
5. Welche Verbündeten können ihn unterstützen?
6. Wie kann er die Risiken eines mutigeren Vorgehens begrenzen?
7. Dranbleiben: ggf. langfristige niederfrequente Beratung durchhalten, evtl. auch praktische Hilfe (Mitgehen)

Die Psychosomatik entdeckt die Zeit

Psyche und Zeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 16.07.19 von Marc Wittmann, Priv.-Doz. Dr. hum. biol., Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg:
„Wie die Zeit vergeht. Psychologie und Neurobiologie des Zeitgefühls – Einblicke in die Psychopathologie“

Herr Wittmann stellt uns den Ablauf seines Vortrags vor. Er möchte uns zunächst die Grundlagen des Zeitgefühls vermitteln, dann übergehen zu „Verkörperter Zeit“, uns dann einige Außergewöhnliche Bewusstseinszustände vorstellen und zuletzt über neue Ansätze in der Psychotherapie berichten.

Wie entsteht unser Gefühl für Zeit?

Es gibt zwei Typen der Zeitwahrnehmung. Die erste betrifft das Verhalten und dreht sich um die Koordination von Wahrnehmungen und Handlungen. Der Umgang mit äußeren Ereignissen spielt sich in Zeiträumen von Millisekunden bis wenige Sekunden ab.

Die zweite Typ dreht sich um das Erleben. Wir erleben subjektive Zeit im Spektrum von Langeweile bis Zeitdruck. Es dreht sich um Zeiträume von Sekunden bist Minuten.

Wir können eine Zeitperspektive aus der Rückschau einnehmen und Vorfälle aus dem Gedächtnis abrufen. Das betrifft sowohl Urlaube, in denen uns die Zeit langsam zu vergehen scheint, als auch tägliche Routinen, in denen die Zeit scheinbar schneller fließt.
Die prospektive (im Moment erlebte) Zeitperspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf den Zeitablauf selbst. Wenn wir warten müssen scheint sie zäh zu fließen. Bei Ablenkungen wiederum vergeht die Zeit schneller.

Die subjektive Zeit ist immer noch ein Rätsel für die Wissenschaft, aber immerhin gibt es ein psychologisches Modell, das von einem Taktgeber Impulse ausgehen lässt, die über einen Schalter zu einem Akkumulator weitervermittelt und dort als Zeit gezählt werden.
Es zeigen sich auch Hinweise darauf, dass Zeitwahrnehmung mit der Aufmerksamkeit zu tun hat. Wenn ich sehr auf mich fokussiert bin, dehnt sich die Zeit, wenn ich sehr auf Handlungen fokussiert bin, fließt sie schneller. Und weiter, dass höhere Erregung die Zeit schneller vergehen lässt und Ruhe sie verlangsamt deutet sich schon an.

„Körpersignale informieren uns über den Zeitverlauf“

Herr Wittmann hat Belege aus dem dritten Jahrhundert v.u.Z. gefunden, die ebenfalls den Zusammenhang von äußeren Phänomenen und innerer Erregung nahelegen.
Dies wurde auch in einem Experiment bestätigt. Darin wurden Probanden in einem Raum ohne Ablenkung dazu gebracht, siebeneinhalb Minuten zu warten. Im Anschluss daran sollten sie schätzen, wie lange sie gewartet hatten. Das Ergebnis war, dass impulsivere Menschen aufmerksamer für die Zeit waren, dass ihnen das Warten eher unangenehm erschien und dass sie die Zeitdauer tendenziell überschätzten.

Neurowissenschaftliche Befunde

Dann werden wir noch auf das Feld der Neurobio- und Psychologie geführt. Herr Wittmann kann uns nur berichten, dass es zahlreiche Funktionsmodelle für Zeitwahrnehmung gibt, aber kein Einvernehmen darüber. Auch der Versuch, die neuronalen Korrelate im Gehirn zu finden sind bisher nicht von Erfolg gekrönt.
Allerdings gibt es neue Metastudie, die zum Ergebnis kommt, dass das supplementäre-motorische Areal, die anteriore Insula, die Basalganglien und der intraparietale Sulcus die besten Kanditen sind.
Die unterschiedlichen Ergebnisse vieler Studien lösen sich ein Stück weit auf, wenn verschiedene Zeitdauern auf verschiedene Systeme verteilt werden. Weniger als eine halbe Sekunde werden „Modalitätsabhängigen Prozessen“ zugeschlagen. Von einer halben bis wenige Sekunden dauernde Episoden den oben genannten Hirnstrukturen. Intervalle von mehreren Sekunden schließlich vom insularen Kortex.

aktuelle Ergebnisse

Herr Wittmann forscht selbst zu diesem Thema. Er möchte damit den Zusammenhang von körperlichem Selbst und subjektiver Zeit nachweisen. In seinem Versuchsdesign hören Probanden einen Ton von einer bestimmten Dauer. Nach einer Pause wird nun einen anderer Ton erzeugt und die Probanden sollen den Ton in dem Moment abstellen, an dem sie denken, er sei jetzt genauso lange ertönt wie der vorige. Als Ergebnis fand Herr Wittmann heraus, dass es tatsächlich die Insula ist, die hier ganz prominent Aktivität zeigt.
Die Insula ist dafür bekannt, dass sie physiologische Zustände wie Hitze, Kälte, Hunger, Harndrang etc. repräsentiert. Darüber hinaus noch diese Zustände interpretiert und damit zu einer Basis für komplexe menschliche Gefühle wird.

Zeit und Gefühle

Es gibt Studien zur Insula, die sich mit Emotionen, komplexen Entscheidungen, Musikwahrnehmung und Meditation befassen. Dies führt zurück zum Modell des Zeitempfindens. Als Zeitgeber entpuppen sich Körperzustände, die als „Dauer“ repräsentiert werden. Dies entspricht der „Verleiblichung der Zeit“, wie sie in der Phänomenologie verhandelt wird. Zeit ist das körperliche und gefühlte Selbst (!). Die Aufmerksamkeit spielt die Rolle des Schalters im Modell. Sie und der Grad der Erregung beeinflussen die Zeitwahrnehmung.
Wir bekommen noch ein Diagramm gezeigt, das uns klarmacht, dass sowohl bei sehr niedriger als auch bei sehr hoher Erregung, die Zeit langsamer fließt, als in den Zwischenzuständen.

Zeit und psychische Krankheit

Es gibt einige Patientengruppen, bei denen sich die Zeitwahrnehmung verändert. Dazu zählen: Depressionen, Krebserkrankte mit Angststörungen, Drogenabhängige in der Reha und Kinder mit ADHS oder Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung. Bei allen ist das Phänomen bekannt, dass es ihnen so erscheint, als wolle die Zeit nicht vergehen. Im Licht der vorhergehenden Betrachtungen wird deutlich, dass diese Betroffenen mit ihrer Aufmerksamkeit sehr bei sich sind.
Der Stand ist nun folgendermaßen zusammengefasst: Ein intensiviertes Bewusstsein meiner selbst (Körper, Gefühle) führt zu einer Intensivierung des Zeitbewusstseins. Und: Ein vermindertes Bewusstsein meiner selbst zur Schwächung des Zeitbewusstseins. Daraus folgt: Die Bewusstseinszustände von Ich und Zeit werden gemeinsam moduliert. Als alltagsbekannt Erfahrung formuliert: Wartezeiten und Langeweile gehen mit einer erhöhten Selbstwahrnehmung einher. Die Zeit dehnt sich, das Ich wird stärker wahrgenommen und ebenso die Zeit.
Ganz anders im „Flow“, in dem ein Mensch sich an seine Tätigkeit hingibt, darin vergisst er sich selbst und damit auch seine Zeitwahrnehmung.

Außergewöhnliche Bewusstseinszustände (ABZ) & Zeitwahrnehmung

Zum Begriff des Selbst gibt es noch die Differenzierung in ein „körperliches Selbst“ einerseits, gewissermaßen das Ich im hier und jetzt, und andererseits das „narrative Selbst“, das aus der eigenen Geschichte besteht und Erinnerungen und Pläne umfasst. Diese beiden Aspekte bilden sich auch neuronal ab. Der erste ist mit dem interozeptiven System und der Insula assoziiert und der andere mit dem cingulären Cortex und der kortikalen Mittellinie.
Veränderte Bewusstseinszustände können (u.a.) durch Meditation, den Floating Tank und psychodelische Drogen erreicht werden. Alle haben gemeinsam, dass sich zunächst die Zeit dehnt, also ein hoher Fokus auf das Selbst gelegt wird. Im weiteren Verlauf löst sich das Ich und damit das Zeitbewusstsein auf, dann wird ein Zustand von „Zeitlosigkeit“ erlebt.

Neue Ansätze in der Psychotherapie zu ABZ

Wir erfahren jetzt noch etwas über die klinische Anwendung dieser Erkenntnisse bzw. über die Forschung daran, wie diese Betrachtungen therapeutisch wirksam werden können.
Dass Meditation einen hilfreichen Aspekt für die Psychotherapie darstellt ist schon länger bekannt. Dass auch der Floating Tank hilfreich zur Entspannung und Symptomminderung sein kann, ist eine neuere Entdeckung.
Nach vielen Jahren des Verbots an Forschungen mit Psychodelika, wird diese nun  in verschiedenen Ländern wieder aufgenommen. Auch hier zeigen sich sehr hoffnungsvolle Effekte. Alle Methoden scheinen den Patient*innen dabei helfen zu können, ihre Selbstfixierung zu lösen und sich der Welt wieder zuwenden zu können.
Was nun noch fehlt sind valide Studien, die diese Ergebnisse festigen können.

Die Abschlussfolie ist überschrieben mit: „Was ist Zeit? Auflösung des Rätsels der subjektiven Zeit. Prospektiv/im Moment erlebend : Präsenzzeit : Körperzeit : Gefühlszeit : Ich-Zeit – Zeitbewusstsein & Ich-Bewusstsein

Die Zeit ist während des Vortrags schnell verflogen.

Die Psychosomatik entdeckt den Clown

Der Clown in Kultur und Psyche

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 10.01.19
„Sind wir alle Clowns?“ von Richard Weihe Prof. Dr. habil., Accademia Teatro Dimitri, Verscio/CH, mit Wilson Raúl Vargas Torres, Berlin/Tromsø

Schon in der Anmoderation taucht die Frage auf, was denn der Clown mit dem Thema der Vortragsreihe zu tun haben könnte. Bekannt ist natürlich, dass Humor heilsam wirkt – die Klinik Clowns legen davon Zeugnis ab – aber wir mussten warten, was uns Herr Weihe darüber sagen möchte.

Kulturgeschichte des Clowns

Der Vortrag beginnt mit einer kleinen Kulturgeschichte des Clowns. Vom Wortstamm her bedeutet „Clown“ so viel wie ein dümmlicher, bäurischer, ungeschickter Mensch, der keine Manieren kennt. Erst mit Shakespeare bekam der Clown eine Rolle. Auf der Bühne war er für Witze und Humor, Komik und Narretei zuständig. Damit wurde der Unterschied vom „natürlichen Clown“ zum „künstlichen Clown“ etabliert.
Erst um ca. 1800 tauchte der heutzutage bekannte Clown zum ersten Mal auf. Er entstand aus der Harlekin Figur der Commedia del Arte. Es dauerte noch einmal fast hundert Jahre bist der erste „Dumme August“ aus Versehen (man könnte sagen aus Schusseligkeit) erfunden wurde. Die letzte Neuerung stellt der „Grusel Clown“ dar – 1980 war der Clown „Pennywise“ im Film „Es“ zu sehen und zu fürchten.
Zu den klassischen Bezeichnungen „Weißer Clown“ mit Kegelhut und immer besserwisserisch, dem „Roten Clown“ mit roter Nase und großen Schuhen, benennt Herr Weihe nun auch noch den „Schwarzen Clown“, eben jene Horror Clowns, die nun in der Kultur herumgeistern.
Der Weiße Clown steht für das Rationale des Menschen, für das was man tun soll und was sich gehört. Der Rote Clown, so Herr Weihe, steht für die eher chaotische Triebseite und für den professionellen Umgang mit Scheitern.

Die Kunst des Clowns

Wie funktioniert die Clownerie? Wie schaffen es Clowns, ihren Auftrag – die Zuschauer zum Lachen zu bringen – zu erfüllen? Zunächst einmal geht es um „die kleinste Maske der Welt“ – die rote Nase. Sie schafft ein Spannungsverhältnis zwischen der Figur des Clowns und dem Menschen, der diese Rolle spielt. Jederzeit wissen die Zuschauer, dass sich hinter der Maske ein Mensch verbirgt. Diese doppelte Identität ist die Grundlage für die Gegensätze, die ein Clown auf die Bühne bringt.

Herr Weihe hat sieben verschiedene Clownsspiele identifiziert, die uns seine Ex-Schüler Wilson Torres demonstriert.
1. Körperspiel – der tollpatschige Clown, der stolpert und stürzt erfordert vom Menschen hinter der Maske akrobatisches Können.
2. Sprechspiel – der stammelnde, um Worte ringende Clown erfordert eine große Sprach- und Stimmbeherrschung des Spielers
3. Generationsspiel – das kindlich, alberne Gehabe des Clowns wird von einem erwachsenen Menschen dargeboten
4. Ausbruchsspiel – die ganze Palette dramatischer Gefühlsausbrüche wird willkürlich und technisch vom Spieler produziert
5. Invasionsspiel – das Überschreiten persönlicher Grenzen – Verwuscheln von Haaren etwa – wird von einem zivilisierten Spieler ausgeführt
6. Genderspiel – die Verwandlung des Geschlechts wird durch Kleidung und Gestik spielerisch dargestellt
7. Sittlichkeitsspiel – der Clown verstößt immer wieder gegen die Vorstellungen von Anstand und Sitte, obwohl er sie genau kennt und als Bürger auch einhält.

Viele Clowns erstreben die Verschmelzung von Rolle und Person, möchten den Clown und den Menschen dahinter verschmelzen. Der Schweizer Clown Dimitri hat es sogar geschafft, seinen Künstlernamen (der auch sein Vorname war) zu seinem Nachnamen ändern zu lassen.

Was hat der Clown mit mir zu tun?

Dann führt uns Herr Weihe eine Röntgenaufnahme vor, die einen Menschen mit kegelförmigem Hinterkopf (Weißer Clown), einer kugelrunden Nase (Roter Clown) und kräftigen Kieferknochen (Schwarzer Clown) zeigt. Der Clown ist kein Homo Sapiens sondern eher eine Homo Inscitus (unverständig). Aus dieser Sicht fragt der Vortragende noch einmal: „Sind wir alle Clowns?“ Und bejaht dies, unter der Voraussetzung, dass wir erkennen, dass wir es alle einmal waren. Und: „Nicht der Clown ist der Doofe, sondern der Mensch.“

Damit kommt Herr Weihe zum Schluss seines Vortrags. Er verwendet dazu die „kinetische Signatur“ des Clowns, das Stolpern. Menschen stolpern und sie stolpern unter anderem deshalb, weil sie in zwei Arten von Tempo unterwegs sind. Das Tempo des technischen Fortschritts, der Fortschritt der Menschheit (Weißer Clown), das für den Einzelnen oft zu schnell wird. Er hat die zu großen Schuhe des Roten Clowns an den Füßen und kommt nicht mit. Er stolpert und holt sich dabei die blutig, rote Nase.

Fazit

Zu den Schlussfolgerungen, was diese Einsichten mit „Körper – Seele – Geist“ zu tun haben schweigt sich Herr Weihe aus. Ich kann hier also nur meine eigenen Gedanken anbieten.
Der Clown ist ein Spiegel des Menschen, insofern er uns das zeigen kann, was wir an uns nicht mögen, unser Scheitern, unser Unverständnis und unsere Begrenztheit.
Der Clown bietet uns an dieser Stelle eine Versöhnung mit diesen ungeliebten Eigenschaften an. Die Möglichkeit, über uns selbst zu lachen (ein Merkmal übrigens, das für Victor Frankl den Menschen überhaupt erst ausmacht).
Der Clown ist eine „Landkarte“ des Inneren des Menschen. Die Über-Ich Figur des Weißen Clowns versucht mit Strenge die Es-Figur des schusseligen Roten Clowns zum richtigen Verhalten zu erziehen, und scheitert regelmäßig damit. Für mich eine Aufforderung, nicht allzu streng mit sich selbst zu sein, sich das Recht zu nehmen, Regeln selbst zu überprüfen und Spaß und Neugier nicht zu kurz kommen zu lassen. (Denn bei zu viel Frust bekommt womöglich der Schwarze Clown seinen Auftritt).
Der Clown weist uns auf die Widersprüchlichkeiten des Lebens hin, und dass diese Widersprüche sich auch immer wieder miteinander versöhnen, und ineinander übergehen können. Albernheit kann in Ernst umschlagen, Schnelligkeit in Langsamkeit, Grenzen sind variabel u.v.m. Widersprüche sind also keine Gegensätze, die sich ausschließen sondern zwei Pole, die einander ergänzen und erst gemeinsam ein stimmiges Bild ergeben.