Die Psychosomatik erkundet das Selbst II

Zwei Masken
John Hain auf Pixabay

Bericht vom 18.06.24 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Kristina Musholt Prof. Dr., Kognitive Anthropologie, Institut für Philosophie, Universität Leipzig:

„Wie ich werde, wer ich bin: zur Entwicklung des Selbst in der Interaktion mit Anderen“

Frau Musholt stellt sich uns als analytische Philosophin vor und präsentiert uns zunächst die Gliederung, mit der sie uns durch den Vortrag führen möchte. Sie benennt dazu folgende Punkte:

Verschiedene Selbstbegriffe

Stufen der Selbst-Fremd-Differenzierung

Die 2.-Person-Persperktive/Social Scaffolding

Die Rolle der Sprache

Die Rolle der Emotionen

Die zwei Seiten der Sozialisation

Sie nimmt nun auch gleich ihr Fazit vorweg, nämlich das Plädoyer für die zwei Seiten der Sozialisation – als Voraussetzung für die Individuation – aber auch als mögliche Einschränkung der Individuation.

Arten von Selbstbewusstsein

Körperbewusstsein

Unser Körperwissen ist nahezu ständig und ohne Worte präsent. Wir spüren uns einfach und diese basale Selbstgewissheit ist der Ausgangspunkt für weitere Arten des Selbstbewusstseins.

„Ich“-Gedanken

Sobald Worte hinzukommen, kommt auch das Wörtchen „Ich“ ins Spiel, nämlich sobald ich über mich selbst spreche.

Selbst-Konzept/autobiografisches Narrativ

Ab einem gewissen Alter entwickeln Menschen eine Erzählung über sich selbst, eine Geschichte über unsere Eigenarten und Werte, eine Lebensgeschichte.

Rationalität

In der Philosophie bezeichnet man auch gerne die Fähigkeit zur Vernunft als Selbstbewusstsein.

Selbstwissen

Das Selbstwissen ist nicht das gleiche wie das Wissen um andere. Das typische Beispiel dafür ist die Erfahrung von Schmerz. Dieser stellt eine unangenehme Form von unmittelbarem Wissen dar, das wiederum unteilbar mit anderen Menschen ist. Ein anderer Mensch kann mir mitteilen, dass er Schmerzen hat, aber dies ist eben ein anderer Erkenntniszugang, weshalb der Philosoph Ernst Tugendhat dieses Phänomen „Epistemische Asymmetrie“ nennt.

Andere Arten von Selbstwissen

Eine explizitere Art von Selbstwissen illustriert die Vortragende mit dem Orakel von Delphi. Dort tauchen Fragen auf, wie: Was bin ich für ein Mensch? Was ist mir wichtig im Leben? Welche Werte habe ich? Solches Wissen über sich ist schwerer zu erlangen und braucht notwendig andere. Das wird auch als triviales vs. substanzielles Selbstwissen genannt.

Kein Selbstbewusstsein ohne andere

Wir brauchen andere für unser Selbstwissen, sogar für das triviale Selbstwissen des Schmerzes, denn wir leben in verkörperten Interaktionen und zwar vom ersten Moment unserer Existenz an. Die Erfahrungen in diesen Interaktionen formen unser Selbstverhältnis wesentlich mit – ob ich liebevoll oder nachlässig, vorhersehbar oder zufällig versorgt worden bin. Diese frühen Erfahrungen formen bereits das Körperbewusstsein.

Ich-Gedanken

Auch Ich-Gedanken erfordern Kontakt mit anderen. Bevor ein Mensch lernt, „Ich“ zu sich zu sagen, erlebt er zahlreiche sprachliche Interaktionen. Ein Ich kann erst im Kontrast zu einem anderen Menschen einer anderen Perspektive entstehen. Dieser Multiperspektivismus ist eine menschliche Grunderfahrung.

Selbstkonzept

Auch diese Fähigkeit, sich selbst Prädikate zuzuschreiben, kann nur durch Interaktion mit anderen erworben werden. Dies liegt einfach daran, dass sprachliches Bewusstsein zwangsläufig sozial eingewoben ist.

Stufen der Selbst – Fremd-Differenzierung

Nun folgt ein kleiner Überblick über die Entwicklungspsychologie. Angeboren ist die menschliche Fähigkeit, von Geburt an den Gesichtsausdruck eines Gegenübers zu spiegeln. Säuglinge bevorzugen auch schon deutlich die Stimulierung durch andere Menschen.

Neun-Monats-Revolution

Im Alter von 9 -15 Monaten findet die sog. Neun-Monats-Revolution statt. Das Kind entwickelt die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit – eine Fähigkeit, die Menschen ganz speziell entwickeln.

Soziale Referenz

Im Alter von 8 – 24 Monaten entwickelt das Kind eine Fülle von neuen Fähigkeiten. Es besteht den Spiegeltest, kann sich also selbst im Spiegel erkennen und entwickelt damit eine Vorstufe der Theory of Mind – ein implizites Wissen, dass andere Menschen eine Perspektive auf mich haben.

Es entwickelt auch „Selbstbewusste/Sekundäre“ Emotionen wie Schüchternheit, aus dem Wissen, dass der andere mich sieht und Unterschiede in Wünschen oder Geschmäckern werden realisiert. Das Kind beginnt selektiv zu imitieren, zeigt Empathie zu Mitmenschen, kann also schon eine andere Perspektive übernehmen. Sog. „Turn-taking Activities“, also gemeinsame Tätigkeiten, mit geteilten Aufgabe, werden möglich.

Ab ca. vier Jahre

Um die Zeit des vierten Lebensjahres entwickeln Kinder die Fähigkeit sog. False-Belief Aufgaben zu lösen. Es geht dabei um die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, welche Überzeugungen ein anderer Mensch auf der Grundlage seines Hintergrundwissens haben muss. Das Kind gewinnt auch die Fähigkeit, andere bewusst zu täuschen und ganz allgemein die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Die erlangten Fähigkeiten, über sich und anderer nachdenken zu können, entwickeln sich ein Leben lang weiter. Dabei gehen die früheren Stufen nicht verloren. Wir bekommen noch einen tabelarischen Überblick.

Die 2.-Person Perspektive

Andere begegnen uns nicht als Objekte, sondern als Personen, als „Du“. D.h. sie begegnen uns als jemand, der uns zu etwas auffordern und nach Gründen für unser Verhalten fragen kann ( z. B. Fichte, Mead, Habermas, Levinas).

Anders ausgedrückt: Als Personen begegnen wir uns im Raum der Gründe d. h. im Raum der geteilten Normativität (Sellars). Wir spielen das Spiel uns gegenseitig Gründe zu geben und zu nehmen (Brandom).

„A person, perhaps, is best seen as one who was long enough dependent upon other persons to acquire the essential arts of personhood. Persons essentially are second  persons, who grow up with other persons.“ Annette Baier

Eine Person zu werden braucht also andere Personen, um das Miteinander im Raum der Gründe zu erlernen

Scaffolding

Scaffolding bedeutet so etwas wie ‚Gerüstbau‘ und befasst sich mit der Frage, wie Kinder in den Raum der Gründe eingeführt werden können. Dies erfordert eine aktive Strukturierung sozialer Interaktion (social scaffolding) von Seiten der Erwachsenen.

Sprache und Affektivität für Scaffolding

Wir lernen nun das „Sustained Shared Thinking (SST)“ ein Modell, mit dem die Vortragende selbst schon geforscht hat. Darin geht es darum, sich in der Welt der Gründe zu bewegen – Gründe abzuwägen, andere Gründe gelten lassen zu können …

Bewährt haben sich „interaktive Dialoge mit einer spezifisch explikativen Dimension“. Dieser ist charakterisiert durch:

  1. Anbieten einer Erklärungshypothese (Ich denke …, Ich vermute …)
  2. Signalisieren eines reduzierten epistemischen Status und das Explizitmachen der Quellen und Gründe für die angebotene Hypothese
  3. Aufforderung an das Kind, sich am gemeinsamen Denkprozess zu beteiligen

Wir bekommen ein anschauliches Beispiel für eine solche Interaktion, das nun auch noch semantisch erläutert wird.

Semantische Faktoren

  1. Macht inferenzielle (schlussfolgernde) Beziehungen explizit (Brandom)
  2. Über das Überprüfen und Einfordern epistemischer Validität
  3. Lädt zur Suche nach Gründen ein
  4. Durch SST werden genau die Eigenschaften von Sprechakten eingeübt, die wesentlich für das Navigieren im „Raum der Gründe“ sin

Narrative Identität

Theorien narrativer Identität zufolge lernen wir, wer wir sind, indem wir die eigene Biografie erzählen und damit zugleich interpretieren, einordnen und so unserem Selbst zu einer gewissen Kontinuität und Einheit, gerade angesichts stetiger äußerer und innerer Veränderungsprozesse verhelfen (Schechtman, Henning, Crone). Einzelne Aspekt werden gerne besonders hervorgehoben. Die Erzählung von Lebensepisoden können so die bevorzugten Eigenschaften hervorheben.

Hier vermischen sich dann auch Erzählungen von anderen über uns und auch die kulturellen Geschichten und Narrative fließen in die Selbsterzählung ein.

Nun möchte Frau noch auf die Rolle der Gefühle eingehen.

Affektivität

Soziale Interaktionen sind in aller Regel affektiv besetzt – wir finden die Dinge, die wir erleben, irgendwie.

Ein Kind lernt während Episoden sozialer Interaktion welche Objekte und Situationen welche Art von emotionaler Antwort einfordern, wie Emotionen identifiziert und benannt werden, aber auch welche Verhaltensdispositionen im Zusammenhang mit einer emotionalen Reaktion sozial angemessen sind.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Social referencing. In einer unbekannten Situation nutzt das Kind die mimischen und emotionalen Signale der Bezugsperson zur Orientierung.

Die Rolle der Emotionen

Kinder müssen lernen, die Emotionen richtig zu benennen und mit ihnen umzugehen. Das gelingt, indem sie den Ausdruck und das Erleben von Emotionen durch die Bezugsperson miterleben (funktionale Kopplung) – das Kind ist dabei, wenn die Bezugsperson in einzelnen Situationen emotional reagiert. Dabei gibt es sowohl kulturelle als auch familiäre Differenzen.

Darüber hinaus sind Emotionen so etwas wie kognitive Rahmen, die unsere Wahrnehmung der Welt, insbesondere der sozialen Welt, strukturieren. Emotionen können geradezu als Quelle unserer praktischen Gründe verstanden werden. Die Wut, die ich z. B. verspüre, wenn ich eine Ungerechtigkeit wahrnehme.

Gefühle werden neuerdings philosophisch nicht mehr als scharf getrennt von Kognitionen gedacht. Vielmehr wird ihnen so etwas wie ein Hinweischarakter für Kognitionen zugestanden – die Vernunft braucht Emotionen, um zu verstehen, was eine Interaktion bedeutet.

Zwischenfazit

Das Verstehen unserer Selbst und anderer) ist das Resultat einer Praxis (Wissen-Wie), die uns dazu befähigt, die normativ strukturierte soziale Welt zu navigieren. Wir werden in die soziale Praxis einsozialisiert, was körperliche, emotionale und kognitive Aspekte hat.

Implikationen für die Psychopathologie

Dies hat interessante Implikationen für bestimmte psychopathologische Phänomene, wie z. B. die Autismus-Spektrum-Diagnose. Frau Musholt argumentiert, dass nicht nur Betroffene die neurotypischen Menschen schlechte verstehen, sondern dass es auch umgekehrt ein schlecht Verstehen gibt. Sie deutet an, dass diagnostisch früher reagiert werden könnten, wenn das Verhalten der Kinder weniger Signale zur Prosozialität zeigt.

Die zwei Seiten der Sozialisation

Die Vortragende fasst ihre Gedanken so zusammen: Sozialisation befähigt uns zur Selbstbildung und gründeresponsiven Handlungsfähigkeit. Autonomie ist also immer abhängig von anderen (> relationale Autonomie).

Sozialisation kann aber auch einengend wirken. Hier dient das zeitgenössische Afghanistan als Beispiel, denn dort werden insbesondere Frauen sehr stark unterdrückt und eingeengt. Man muss natürlich nicht nur an solche extremen Beispiele denken, auch in unserer Kultur gibt es noch eine Menge von sozialen Normen, die individuelle Entfaltungen erschweren oder behindern.

Illegale Gefühle

Hier können sog. „disruptive“ Emotionen hilfreich werden. Sei es das ein Mensch aus äußeren oder inneren Gründen sein. Der falsche Weg macht sich emotional bemerkbar und diese mitunter heftigen Gefühle weisen uns letztlich den richtigen Weg.

Solche „illegalen Gefühle“ („outlaw emotions“) bieten neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen, indem sie alternative interpretative Rahmen zur Verfügung stellt.

Emotionen haben das Potenzial dazu, unser evaluatives Verständnis unseres Selbst und der sozialen Welt zu verbessern, auch dann – oder manchmal sogar vor allem dann – wenn sie sich gegen unsere „rationalen“ Überzeugungen wenden.

Aber ganz einfach ist das natürlich nicht – je nach der eigenen emotionalen Geschichte müssen wir unsere Gefühle auch überprüfen – Reflexion bleibt wichtig.

Fazit

Das Verstehen unserer Selbst, anderer und der Welt ist das Resultat affektiv aufgeladener sozialer Interaktionen.

Sozialisation ermöglicht Selbstbildung und autonomes Handeln, kann unsere Autonomie zugleich einschränken.

Daraus folgt, dass wir uns fragen sollten, wie wir unsere sozialen und kulturellen Praktiken so gestalten können, dass Personen sich bestmöglichentwickeln können. Dazu gehört auch das Kultivieren emotionaler Flexibilität.

Ein interessanter Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet Systemische Therapie

Systemische Welt

Bericht vom 02.05.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Elisabeth Wagner Dr., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie, Lehranstalt für Systemische Familientherapie Wien: „Wohin entwickelt sich die Systemische Therapie?“

Frau Wagner erläutert uns den roten Faden ihres Vortrags:

Kontext meiner persönlichen Erfahrung

Kontext Untersuchung der Wirksamkeit systemischer Therapie

Kontext Psychotherapieforschung – Äquivalenzparadoxon, allgemeine Wirkfaktoren

Entwicklung der Systemischen Psychotherapie – gestern – heute – morgen

Veranschaulichung des „spezifisch Systemischen“ anhand zweier Fallgespräche

Synergetik als neue Metatheorie

Persönliche Erfahrung

Wir erfahren, dass Frau Wagner Psychiaterin und Lehrtherapeutin für Systemische Therapie in Österreich ist. Dort ist die Therapielandschaft wesentlich bunter als in Deutschland und nun folgen einige spezifisch österreichische Details zu zugelassenen PT Verfahren und zur Zulassung als Psychotherapeut*in dort.

In Deutschland wurde 2008 die SysT als PT Verfahren anerkannt. Sie sieht sich folgendermaßen: „Systemische Therapie und Beratung wird als transdisziplinärer und multiprofessioneller Ansatz verstanden, womit man sich bewusst von der berufsständischen Einengung des psychotherapeutischen Professionalisierungsprozesses auf den „psychologischen Psychotherapeuten“ absetzt.“

Kontext Untersuchung der Wirksamkeit systemischer Therapie

Psychotherapie ist wirksam und in großen Studien hat sich herausgestellt, dass alle Therapieverfahren ähnlich wirksam sind. Dieser Umstand ist als Äquivalenzparadox bekannt – auch Dodo Effekt genannt (wenn alle gewonnen haben, brauchen auch alle einen Preis).

Frau Wagner plädiert dafür, dass man mit der günstigsten Therapie beginnen könnte. Das kann auch heißen, dass der am schnellsten verfügbare Therapieplatz vergeben werden kann.

Sie macht uns mit einiger Beispielen vertraut, bei denen solche Strategien sehr erfolgreich waren.

Das Äquivalenzparadoxon

Gibt es nun noch weitergehende Schlussfolgerung aus dem Äquivalenzparadoxon? Z.B. die Frage: Wohin sich die PT entwickeln sollte? Hier gibt es den Gedanken, dass sich die Psychotherapie vereinheitlichen könnte (s.u.).

Oder wäre es nicht sinnvoller, störungsspezifische PTen zu fördern. Es gibt allerdings bereits zahlreiche Störungsspezifische Ansätze für z.B. affektive Erkrankung 32 verschiedene – muss ein Therapeut die dann alle erlernen?

Frau Wagner legt Wert darauf, dass SysT keine „Störungen“ behandelt. Der „Gegenstand“ von systemischer Therapie ist das subjektive Leid und der individuelle Veränderungswunsch. Dieses subjektive Leid kann die Form einer psychiatrisch klassifizierbaren Störung annehme, muss es aber nicht.

Aktuell wird aber trotzdem versucht die Systemische Sichtweise mit Störungsspezifischer Therapie zu integrieren.

Weitere Schlussfolgerungen: Allgemeine Psychotherapie?

Der Psychotherapieforscher K. Grawe meint, dass sich Wirkfaktoren identifizieren lassen und dass unterschiedliche Schulen, unterschiedliche Wirkfaktoren nutzen. Er sieht die Zukunft so, dass alle Wirkfaktoren schulübergreifend realisiert werden sollen. Therapieschulen seien ein ohnehin überholtes Konzept.

Frau Wagner denkt allerdings, dass Multiperspektivität dem Gegenstand des Psychischen angemessen ist! Es geht vielmehr um ein adäquates Verständnis der Heterogenität von therapeutischen Blickwinkeln. Sie meint, dass psychisches Funktionieren nicht in einem Konzept umfassend darstellbar ist. Jedes Modell gibt den Blick auf gewisse Zusammenhänge frei und lässt andere im Dunkeln

Die multiperspektivische Sicht verspricht Erkenntnisgewinn gerade durch die Einnahme verschiedener Perspektiven. Der Perspektivwechsel ermöglicht es auch, die impliziten Setzungen der eigenen Methode in den Blick zu bekommen.

Es scheint also hilfreich, über den Rand der eigenen Therapierichtung hinaus zu schauen. Dann lassen sich Ähnlichkeiten der Schulen feststellen und ebenso widersprüchliche Grundannahmen und voneinander abweichende therapeutische Haltungen. Nicht alles kann dabei übersetzt werden, aber die Vorteile überwiegen doch.

Aktuelle Entwicklungen Systemischer Therapie.

Due Effekte unterschiedlicher PT-Methoden sind ähnlicher, als die ihnen zugrundeliegenden Theorien. Es müssen als auch unspezifische und allgemeine Wirkfaktoren Bedeutung haben.

Zu diesen zählen:

  • Positive Erwartungshaltung bekämpft Demoralisierung (sozial legitimierter Kontext verspricht qualifizierter Hilfe)
  • Angebot einer vertrauensvollen, emotional unterstützenden Beziehung
  • Plausibles Erklärungsschema für die Problematik und nachvollziehbares Therapierational für die Lösung
  • In Übereinstimmung mit dem Erklärungsschema und therapeutische „Rituale“, die zu neuen Einsichten, Einstellung- und Verhaltensänderungen führen

Die „allgemeinen Wirkfaktoren nach K. Grawe:

  • Klärungsperspektive
  • Bewältigungsperspektive
  • Ressourcenperspektive
  • Problemaktualisierung

Heutzutage gilt für viele Therapiemethoden, dass sie sich methodenfremder Konzepte bedienen, bzw. Techniken integrieren. Z.B. Mentalisierung für die Tiefenpsychologien oder Schematherapie in der Verhaltenstherapie. Die allgemeinen Wirkprinzipien werden also zunehmend realisiert.

Das Modell der allgemeinen Wirkfaktoren bietet sich auch als Reflexionstool an. Es ist damit möglich, Priorisierungen und Marginalisierungen einzelner Wirkfaktoren in einer Methode kritisch zu betrachten.

Es kann auch dazu dienen, die Verständigung zwischen den Therapieschulen zu erleichtern.

Sie ist allerdings nicht als „Supertherapie“, die alle anderen Therapiemethoden ablöst, gedacht, sondern als eine „Rahmentheorie“ innerhalb derer sich die verschiedenen Traditionen verorten können.

Damit wird eine gemeinsame Reflexionsbasis für mehrere Therapiemethoden geschaffen, auf der die Reflexion konkreter therapeutischer Prozesse stattfinden kann.

Geschichte des Systemischen Therapie(n)

Wir erfahren, dass es die „Systemische Therapie“ nicht gibt. Es gibt „Keine einheitliche, inhaltlich konsistente Arbeitsphilosophie, sondern eine Vielzahl von Konzepten und theoretischen Modellen, die gemeinsame Grundorientierungen und -haltungen aufweisen.“ Und: Zwischen den einzelnen systemischen Konzepten bestehen teilweise theoretische Unvereinbarkeiten.

Das gilt aber ebenso für psychodynamische Ansätze und für die Verhaltenstherapie, die sich ebenfalls zu sehr unterschiedlichen Verfahren ausdifferenziert haben.

Die Entwicklungsgeschichte der SysT beginnt mit z.B. mit Virginia Satir und der Einführung des Systembegriffs. Sie setzt sich mit dem Prinzip der Zirkularität von kommunikativen Prozessen fort. Konzepte der Kybernetik und Feedbackschleifen werden kommunikativ begründet.

Dann kam es zur „Konstruktivistischen Wende“. Begriffe wie „Nicht-Instruierbarkeit“ oder „bescheidene Expertenschaft werden eingeführt. Die soziale Systemtheorie von Luhmann wird berücksichtigt.

Diese Entwicklung führte dazu, dass das Theoretisieren über psychische Prozesse lieber vermieden wird. Alles, was bei Forschungen dieser Richtung herauskommen kann, sagt mehr über die Forschung aus, als über das Beforschte.

Was ist das Spezifische an zeitgenössischer SysT?

Sie ist wesentlich an der Lebenswelt orientiert. Es geht also um die Unterstützung bei der konstruktiven Auseinandersetzung mit anstehenden Lebensproblemen. Dabei werden nach Möglichkeit wichtige Andere mit einbezogen. Die Therapie ist ziel- und zukunftsorientiert. Sie richtet sich nach dem Auftrag der Patient*innen und verwendet möglichst deren schon vorhandenen Ressourcen. Dabei ist die Grundhaltung veränderungsoptimistisch geprägt. Die Bearbeitung belastender biographischer Erfahrungen tritt in den Hintergrund.

Frau Wagner schildert uns nun zwei Fallvignetten, die diese Aspekte gut illustrieren und im Anschluss bekommen wir noch einen Buchtipp für Angehörige psychische erkrankter Menschen „Psychische Störungen verstehen“ von Elisabeth Wagner

Synergetik als neue Metatheorie?

Für den Ausblick in die Zukunft nutzt Frau Wagner die Theorie nicht-linearer dynamischer Systeme. Dieser kompliziert klingende Begriff kommt aus der Theorie der Selbstorganisation. Diese ihrerseits soll erklären helfen, wie überhaupt etwas entstehen kann. In komplexen Systemen kann spontan Ordnung entstehen. Dieses Phänomen kann nun auf psychisches Erleben angewandt werden. Unser biologisches Da-Sein ist derart komplex, dass sich daraus eben psychische Erleben spontan ergeben kann.

Dieses kybernetisch-systemische Sichtweise hat Konsequenzen. So ist damit die Zukunft nicht voraussagbar und die Vergangenheit lässt sich aus der Gegenwart nicht erschließen. Ähnliche Ursachen können unterschiedliche Wirkungen haben und unterschiedliche Ursachen können ähnliche Wirkung haben.

Das ist der Preis, der für das Verlassen der kausalen Perspektive zu bezahlen ist.

Das liegt auch daran, dass Systemtheorie mit Psychotherapie zunächst nichts zu tun hat. Sie wurde in und für die Biologie, Chemie, Physik und Soziologie entwickelt. Sie ist eine Perspektive, die auf die Beziehungen schaut und dabei die verbundenen Elemente wenig berücksichtigt.

Aus dieser Tradition wird versucht, psychische Prozesse unter der Perspektive der Selbstorganisation zu verstehen. Psychische Vorgänge sind affektiv – kognitive Prozesse, eine Abfolge von sich wiederholenden bzw. sich selbst organisierenden Operationen.

Durch Aufschaukelungen und Feedbackschleifen können sich über diese Wechselwirkungen hoch dysfunktionale psychosoziale Muster ergeben, ohne dass dies auf eine bestimmte eindeutig zuordenbare Ursache zurückzuführen ist.

Probleme (psychische Störungen etc.) entstehen nicht als Folge von eindeutig identifizierbaren „Ursachen“ sondern als Resultat vielfältiger zirkulärer Prozesse in biologischen, psychischen und sozialen Systemen.

Dazu gibt es ein Gedankenexperiment von Gregory Bateson. Ein Kind hasst Spinat. Seine Mutter glaubt aber, dass Spinat sehr gesund ist. Nun verspricht sie dem Kind ein Eis als Belohnung fürs Spinatessen. Frage: Was müssten sie über dieses System wissen, damit sie vorhersagen können, dass das Kind später: Spinat lieben oder hassen wird, Eis lieben oder hassen wird und seine Mutter lieben oder hassen wird?

Nicht-Instruierbarkeit

Mit diesem Begriff wird ausgesagt, dass sich selbstorganisierende Systeme nicht vorhersehbar von außen beeinflussen lassen, also auch nicht psychische Systeme.

Das Ergebnis von Selbstorganisationsprozessen ist nur zum Teil ereignisabhängig, denn Ereignisse hinterlassen keinen „neuronalen Fußabdruck“. Erleben ist nicht zufällig, aber auch nicht determiniert durch Ereignisse.

Eine Bahnung vollzieht sich im Hinblick auf das Erleben nicht auf die Ereignisse. Psychische Störungen können als Reproduktion problematischer Zustände verstanden werden. Damit ist die Vergangenheit nicht Ursache sondern die Wiederholung ist die Ursache.

Es scheint dann sinnvoller auf die mit der „Erlebnisverarbeitung“ assoziierten psychischen Prozesse zu schauen und weniger auf Erlebnisse an sich. Welche Muster der Selbstorganisation haben sich im psychischen System etabliert?

Das ist gar nicht so verschieden von anderen Perspektiven, in denen ähnliche Überlegungen angestellt werden. Z.B.:

Psychodynamische Therapie: Abwehrmechanismen, Strukturelle Beeinträchtigungen

Oder Verhaltenstherapie: dysfunktionale Überzeugungen, problematische Denkstile, Schemakonformes, schemavermeidendes oder überkompensierendes Verhalten

Systemische Therapie: Aufmerksamkeitsfokussierung, Ressourcenaktivierung, „Problemgesättigte Narrative“, dysfunktionale FDV-Programme

Ein sehr dichter und inhaltvoller Vortrag ist zu Ende – ich fand ihn sehr bereichernd.

Hier geht’s zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet die Schematherapie

Illustration des Therapieeffekts

Bericht vom 09.05.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Eckhard Roediger Dr., Leiter des Instituts für Schematherapie, Frankfurt am Main: „Neue Entwicklungen in der Schematherapie: Die Einbeziehung der metakognitiven Perspektive und des Körpers“

Herr Roediger stellt uns die Struktur seines Beitrags vor:

  1. Empirie
  2. Konzeptuelle Veränderungen
  3. Praktische Demonstration

Einleitung

Wir erfahren zunächst, dass Schematherapie keine eigenständige Methode ist, sondern eine Spezialtherapie für Persönlichkeitsstörungen, also für Menschen, die in Interaktionen eher unflexibel sind und Schwierigkeiten haben, sich anzupassen.

Schematherapie (ST) ist eine der vier anerkannten Borderline-Therapien. Die anderen sind: Die Übertragungsfokussierte Therapie, die Mentalisierungsbasierte PT und die Dialektisch-Behaviorale PT.

Die Studienlage

Die Schematherapie wirkt, wenn die Therapeut*innen die Techniken richtig anwenden. Das bedeutet, dass Nachschulungen in der spezifischen Technik, den Outcome der Therapie erhöhen. Schematherapie ist zudem nicht Borderline spezifisch sondern im ganzen Spektrum (Cluster A, B, C) der Persönlichkeitsstörungen wirksam.

Vergleichsstudien, die ST mit anderen Therapiemethoden für die Borderline PS verglichen haben, ergeben ein sehr positives Bild für die ST.

ST weist in diesen Studien geringere Drop-Out Raten und bessere Follow-Up Effekte als alle anderen Therapieverfahren auf. Außerdem erreichen erfolgreiche Patient*innen eine höhere Lebenszufriedenheit als Patient*innen, die mit anderen Therapien ebenfalls erfolgreich behandelt worden sind. Die positiven Effekte der Therapie stiegen sogar mit der Zeit an.

Weitere Vergleichsstudien von Therapien z.B. als kombinierte Gruppen- und Einzeltherapie und Paartherapie erbrachten ähnliche Ergebnisse.

Herr Roediger denkt, dass insbesondere die Imagination als zentrale Technik der ST dies begünstigt. Auch das Einüben von „Self-Compassion“ (Selbst-Mitgefühl) trägt zu dem Ergebnis bei und die Fähigkeit zur Meta-Kognition gehört für ihn ebenso dazu. Die Klienten Erleben, Erklären und Erzählen dann neu.

Konzeptuelle Entwicklungen

Historisch kann man drei Stufen der ST identifizieren. Vor dreißig Jahren entwickelte Jeffrey Young einen ersten Ansatz. Er beschrieb bereits die Schemata – man könnte diese als komplexe Reiz-Reaktionsmuster verstehen, für die ein bestimmtes Bewältigungsmuster entwickelt wurde – ein Modus des Umgangs.

Ein zweiter Ansatz kann auf Arntz/Jacob zurückgeführt werden. Darin werden die Umgangsmodi als „Teil-Selbst“ betrachtet. Es gibt darin eher wenig Schema Bezug und wird als Therapie für maladaptives Verhalten verwendet.

Was Herr Roediger uns heute vorstellt, ist der zeitgenössischer Ansatz. Es geht um eine kontextuelle und prozessbasierte Schematherapie, die sich einer modernen Begrifflichkeit bedient.

Dieser aktuelle Ansatz vereint das unmittelbare Körpererleben mit der Imagination. Dadurch wird das episodische Gedächtnis erreicht und man umgeht so die Narrationen (Erzählungen), die darum herum konstruiert wurde.

Zentrale Elemente der Schematherapie

Das Therapiemodell der ST dient als Grundlage für die Fallkonzeption und Therapieplanung. Es soll möglichst einfach und anschlussfähig sein.

Die spezifische therapeutische Beziehung orientiert sich an der Eltern-Kind-Beziehung. So kann sich eine hohe emotionale Dynamik im Beziehungsfeld entwickeln und das Ziel der Nachbeelterung kommt eher in Reichweite.

Die zeitgenössische ST verwendet erlebnisaktivierende Techniken, die durch Imagination das emotionale Erleben von kritischen Dialogen eindrücklich reinszenieren. Die Episode wird emotional nacherlebt und in der erwachsenen Position aufgelöst und dekonstruiert.

Einfaches Therapiemodell

Das heutige Erscheinungsbild der Klient*innen ist geformt von kindlicher Erfahrung. Es ist der Schmerz des Kindes, dessen Bindungs- und/oder Autonomiebedürfnis frustriert wurde. Diese Erfahrung brennt sich tief ein. Das verletze Bindungsbedürfnis wird als Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Anderen verinnerlicht. Die Beeinträchtigung der Autonomieentwicklung führt zu Selbstverständnis als inkompetenter Versager.  

Bindung und Autonomie betrachtet Herr Roediger als die fundamentalen Pole der Persönlichkeit. Die frühen Erfahrungen bilden Schemata, die sich in Situationen, die Bindungs- oder autonomierelevant sind, aktivieren.

Die erste Komponente des aktivierten Schemas macht sich als Basisemotion (Angst, Trauer) körperlich bemerkbar. Der bevorzugte Ort dafür ist im Bauch- und Brustbereich. Die sozialen Gefühle wie Schuld, Verachtung oder Scham werden eher im Hals, Brust oder Kopfbereich wahrgenommen.

Nun kommt eine zweite Komponente ins Spiel. Diese ist der „Innere Kritiker“ (die Stimme im Kopf), der sich aus den übernommenen Bewertungen anderer geformt hat. Sätze wie: „Du taugst halt nichts.“ Können hier auftauchen.

Diese beiden Komponenten stehen inkonsistent und unvereinbar nebeneinander. Sie spielen auf der „hinteren Bühne“, die von außen nicht sichtbar ist. Äußerlich sichtbar ist die soziale Rolle, welche die „bisher beste Lösung“ dieses Schemas darstellt. Nicht selten weist diese bereits klinische Symptome auf.

In der Therapie wird nun ein Stuhl angeboten, auf dem die Basisemotion erlebt werden kann. Auf einem anderen Stuhl kann dann der innere Kritiker seine Bewertungen abgeben. Nun kommt aber ein aktueller und kompetenter Erwachsener (Beobachterperspektive) hinzu, der hilft, diese Bewertungen zu überprüfen und zu überarbeiten.

Die Beobachterposition ist auch der Ort der Metakognitionen – des Nachdenkens über das Denken. Von dort aus ist es in aller Regel leicht, den Kritiker zu verurteilen und wegzuschicken. Ebenfalls aus dieser Position wird das Kind-Erleben getröstet und verstanden. Die Emotionen des Kindes werden angenommen und verstanden.

Schematheorie

Die Übersicht über das Spektrum verschiedener Schemata wurde aus dem berühmten „Still-Face Experiment“ von Tronnick abgeleitet. Darin lassen sich gut die verschiedenen Strategien erkennen, die so manchen Mitmenschen noch im Erwachsenenalter Probleme bereiten. Es geht um das Kontinuum von Ängstlichkeit, Unterwerfung für die Regulation der Bindungsorientierung vs. Ärger, Externalisierung für die Regulation der Autonomie.

Daraus ergeben sich vier Lösungsversuche: Unterordnung/Aufopferung – Passive Gefühlsvermeidung (Erstarrung) – Aktive Selbstberuhigung (Flucht) – Überkompensation/Dominanz (Kampf)

Diese Lösungsversuche lassen sich auf mit der Polyvagal Theorie von Steven Porges erklären. Der Sympathikus aktiviert die Flucht/Kampf Seite, der dorsale Vagus die Unterordnung und Erstarrung und der ventrale Vagus erlaubt den angemessenen erwachsenen Umgang mit den Herausforderungen.

Um den erwachsenen Umgang mit Herausforderungen zu stärken, hilft es, sich in Achtsamkeit zu üben. Die Fähigkeit zu schulen, Abstand zu automatischen Gedanken und Bewertungen herstellen zu können.

Damit zusammen hängen auch solche Fragen wie: Wo will ich hin? Was sind meine Werte und Bedürfnisse? Darüber nachzudenken und uns evtl. mit anderen auszutauschen fördert einen konstruktiven Lebensstil und erleichtert es, das Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Bindungsorientierung auszubalancieren.

Man kann dies auch einen offenen Stil nennen: offen wahrnehmen, zentriert neubewerten, engagiert handeln.

Die Praxis

Für die praktische Anwendung genügen zwei Stühle. Der eine ist für die konfrontierende Position. Auf dieser wird das Schema aktiviert. Es kann vom inneren Kritiker, einem Täter, Stellvertreter, Therapeut besetzt werden.

Der zweite Stuhl ist für die imaginative Position. Hier wird mit geschlossenen Augen die Szene imaginiert und die Gefühle des Körpers wahrgenommen. Diese Position wird vom Therapeuten betreut und fürsorglich unterstützt. Der Therapeut bereitet mit seinem Verständnis die Fähigkeit zum Selbst-Mitgefühl vor.

Dann geht es in die Beobachterrolle. Das ist der erwachsene und kompetente Mensch, der (meist mit offenen Augen) die Szene beobachtet und neu bewerten kann. Mitgefühl für das Kind empfindet und Ärger auf Täter und Kritiker. Diese Wertungen sind tief in unserer Menschlichkeit verankert und zuverlässig abzurufen.

Zum Abschluss demonstriert Herr Roediger das Vorgehen mit einer Freiwilligen. Das wirkt natürlich etwas künstlich, ist aber dennoch sehr eindrucksvoll. Die Struktur des Vorgehens ähnelt sich in allen Stunden.

Ich fand dies einen sehr gut gehaltenen und interessanten Vortrag, der mir viel Inspiration geschenkt hat.

Hier geht’s zum Vortrag: