Die Psychosomatik erkundet Einsamkeit

Allein oder einsam - jedenfalls nur ein Mensch

Bericht vom 08.11.22 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Dirk Scheele vom Lehrstuhl für Social Neuroscience an der Fakultät für Psychologie von der Ruhr-Universität Bochum: „Soziale Isolation und Einsamkeit: Neurobiologische Mechanismen, gesundheitliche Folgen und Bewältigung“

Herr Scheele präsentiert uns zunächst die Struktur seines Vortrags. Die vier Punkte lauten:

  • Der Mensch als soziales Wesen
  • Definition und Verständnis von Einsamkeit
  • Konsequenzen und Mechanismen von Einsamkeit
  • Bewältigung und Interventionen

Der Mensch als soziales Wesen

Viele Menschen kennen das Phänomen, wenn sie in Gegenständen wie Bäumen oder Wolken, aber auch in Bauwerken menschliche Gesichter erblicken (Pareidolie). Das liegt unter anderem daran, dass unsere Wahrnehmung besonders auf menschliche Gesichter eingerichtet ist. Etwas weniger bekannt ist die Neigung, in allen möglichen Interaktionen z.B. Interaktionen von abstrakten Figuren wie Dreiecke, Kreise etc. als menschliche Interaktionen zu deuten (Anthropomorphisierung). Diese beiden Wahrnehmungsverzerrungen kommen bei einsamen Menschen häufiger vor.

Nun gehen wir der Frage nach, was denn so wertvoll am sozialen Kontakt ist. Der Vortragende nennt hier den Umstand, dass sozialer Kontakt Stress reduziert (reduzieren kann). Als Beispiel bekommen wir den Trierer Stresstest. Ein Setting, in dem ein Jury einem Vortrag zuhört, aber der/die Getestete muss noch zusätzlich Rechenaufgaben im Kopf lösen – an sich schon nicht einfach, bekommt man zusätzlich eine Rückmeldung bei Fehlern und muss von vorne anfangen. Soziale Unterstützung im Vorfeld oder auch bei dieser Prüfung reduziert die Stresshormone (Cortisol) erheblich. Diese Wirkung ist auch dem Hormon Oxytocin zu verdanken, das insbesondere bei Berührungen ausgeschüttet wird.

Herr Scheele führt die berühmten Harlow’schen Versuche mit Affen an, um ein angeborenes Bedürfnis nach Berührung zu postulieren. Zur Erinnerung: Kleine Äffchen werden von ihren Müttern getrennt und bekommen zwei Ersatzmütter – eine aus Draht und eine, die ein Frotteetuch bietet. Dann können beide Mütter noch mit einer Flasche ausgestattet werden. Harlows Messung war nun, wie lange die Äffchen bei den Ersatzmüttern blieben – mit oder ohne Nahrung. Das Ergebnis war eindeutig nicht von der Nahrung abhängig, die Äffchen mochten die Frottemutter eindeutig lieber und länger.

Berührung vermittelt also soziale Unterstützung und dies kann auch mit moderneren Methoden bewiesen werden. Ein Proband in der „Röhre“ bekommt leichte Stromschläge, entweder alleine oder mit einer fremden Person, die die Hand hält oder einer vertrauten Person, die die Hand hält. Die Befragung ergibt, dass der Schmerz mit einer vertrauten Berührung weniger unangenehm wahrgenommen wird. Das ließ sich dann auch durch die Messung des Oxytocins objektivieren.

Definition und Verständnis von Einsamkeit

Einsamkeit könnte man als Diskrepanz zwischen gewünschter und erlebter sozialer Verbundenheit. Dabei ist zu beachten, dass Einsamkeit subjektiv erlebt wird und nicht von außen beobachtet werden kann. Eine weitere Differenzierung besteht zwischen emotionaler und sozialer Einsamkeit. Also gibt es einen Menschen, mit dem ich mich emotional austauschen kann und/oder über welche sozialen Netzwerke verfüge ich.

Ein objektives Maß wäre die soziale Isolation. Hier wird ausgezählt, wieviel Beziehungen, Interaktionen und soziale Rollen zur Verfügung stehen. Einsamkeit und soziale Isolation haben miteinander zu tun, unterscheiden sich aber erheblich. Ich kann sozial isoliert leben und mich nicht einsam dabei fühlen. Ich kann Familie haben, berufstätig sein und mich dennoch einsam fühlen.

Die Sprache stellt uns folgende Möglichkeiten zur Verfügung: Alleine sein, was meist positiv gemeint ist. Ruhe haben, um sich ungestört etwas widmen zu können. Das liegt schon recht nah beim selbstgewählten Alleinsein (Solitude), das ebenfalls positiv gefärbt ist. Eindeutig negativ gefärbt ist allerdings Verlassenheit.

Prävalenz von Einsamkeit

Einsamkeit ist keine Krankheit, aber man kann sie ähnlich wie Krankheiten statistisch erfassen. Eine Studie von 2018 zeigt, dass in den USA und GB jeweils ein knappes Viertel der Befragten angab, dass Einsamkeit ein Problem sei. In Japan sagten das nur neun Prozent. Aber in allen drei Regionen gaben vier bis fünf Prozent an, dass Einsamkeit ein großes Problem sei.

Mögliche Gründe für Einsamkeit

Hier ergaben große Befragung als Hauptgrund den Verlust eines geliebten Menschen an. An zweiter Stelle standen dann körperliche Probleme. Psychische Erkrankungen oder Scheidungen und Umzüge standen auf den hinteren Rängen.

Einsamkeit über die Lebensspanne

Wie lange dauern eigentlich Episoden von Einsamkeit? Auch diese Frage wurde erforscht und das etwas überraschende Ergebnis lautet, dass Einsamkeit ganz ähnlich wie Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Offenheit, Gewissenhaftigkeit) sehr zeitstabil sind. Denn können Wandlungen beobachtet werden. Relativ häufig fühlen sich Menschen in der späten Adoleszenz und im höheren Lebensalter einsam. Aber das Gefühl kann in jedem Lebensalter auftreten. Einen gewissen Schutz vor Einsamkeit bieten eine feste Arbeit und eine ebensolche Beziehung

Einsamkeit in der Pandemie

Eine Auszählung der Google-Suchen zu Langeweile, Einsamkeit und Traurigkeit vor und nach einem Lockdown ergab, dass nur die Langeweile signifikant zunahm. Die Maßnahme hat nicht zu einer Welle von Einsamkeit geführt.

Soziale Medien und Einsamkeit

Auch über diesen Zusammenhang kann man viel in den sozialen Medien finden. Tatsächlich gibt es einen gewissen Effekt. Wer nämlich negative Erfahrungen im Netz macht, fühlt sich danach merklich einsamer – ein Effekt, der nicht bei positiven Erfahrungen auftritt, also nicht zu weniger Einsamkeit.

Konsequenzen und Mechanismen von Einsamkeit

In einer der größten und an der längsten dauernden Studie kam heraus, dass mangelhafte soziale Integration und soziale Unterstützung ein ebenso hohes Sterblichkeitsrisiko erzeugen wie z.B. Rauchen. Ein gutes soziales Netzwerk und Beziehungen vermindern die Sterblichkeit um 50%.

Psychische Gesundheit und Einsamkeit

Diese beiden Aspekte sind ebenfalls hoch korreliert. Chronische Einsamkeit macht sowohl für Depressionen als auch für Angststörungen anfällig. Depression und Angsterkrankungen stellen ebenfalls einen Risikofaktor für Einsamkeitsgefühle dar.

Einsamkeit und Gedächtnis

Auch hier gibt es starke Befunde, die belegen, dass chronische Einsamkeit sowohl das Gedächtnis, als auch die exekutiven kognitiven Fähigkeiten vermindern. Tatsächlich führt chronische Einsamkeit zu einer Verminderung der Gehirnsubstanz.

Einsamkeit als Risiko für die Gesellschaft

Hier präsentiert uns der Vortragende zwei Zitate von Hannah Arendt: „Der Totalitarismus nutzt die Isolation, um den Menschen die menschliche Gesellschaft zu entziehen.“ Und: „In diesem Prozess wendet sich jeder Einzelne in seiner einsamen Isolation gegen alle anderen und gegen sich selbst. Er wird anfällig für die organisierte Einsamkeit.“

Mechanismen von Einsamkeit

Es scheint Korrelationen zwischen der Größe der Amygdala (Mandelkern) und der Größe des sozialen Netzwerks zu geben. Allerdings sind diese Befunde schwierig einzuordnen. Es gibt wohl mehrere Faktoren, die zur Einsamkeit beitragen. Einige davon wären eine verzerrte sensorische Wahrnehmung, verzerrte Kognitionen, beeinträchtige Interaktionen und Hyperaktivität auf Bedrohungsreize. All das lässt sich jedenfalls bei wahrgenommener sozialer Isolation feststellen.

Nun erfahren wir noch, was die Neurobiologie dazu herausgefunden hat. In einem sehr aufwändigen Setting werden hoch einsame und nicht einsame Menschen verglichen. Sie spielen ein Vertrauensspiel im fMRT, so dass ihre neuronale Aktivität erfasst werden kann. Im Vertrauensspiel kann man Geld verschenken und darauf hoffen, dass der Beschenkte etwas von dem Geld der Schenkerin zurückgibt, aber wissen kann man es nicht. Dann erfolgt ein positives Gespräch (standardisiert). Darin werden weitere Parameter gemessen z.B. den Abstand den die Probanden einnehmen, der Puls, der Speichel, die Stimmung … Dann wird noch der Gesprächspartner (ein Versuchsleiter) befragt, für wie vertrauenswürdig er seine Probandin eingeschätzt hat.

Das Ergebnis ist, dass hoch einsame Menschen weniger Vertrauen aufbringen und verminderte Reaktionen im positiven Gespräch zeigen. Die Einschätzungen der Versuchleiter*innen zur Vertrauenswürdigkeit waren überdurchschnittlich häufig zutreffend – hoch einsame Menschen wirken wenig vertrauenserweckend.

Ein neurologischer Befund dazu ist, dass die anteriore Insula – eine Region, die mit Vertrauen assoziiert ist, wenig aktiv ist und in sich weniger Verbindungen aufweist. Das könnte dazu führen, dass die Bauchgefühle, die uns sagen, wie wir einen Menschen finden, nicht mehr weiterverarbeitet werden. Aber hier ist noch viel Forschungsarbeit nötig.

Bewältigung und Intervention

Es gibt vier Hauptrichtungen, mit denen versucht wird der Einsamkeit und der sozialen Isolation entgegenzuwirken. Es sind: Die Verbesserung der Möglichkeiten für soziale Kontakte. Die Verbesserung der sozialen Fähigkeiten. Die Verstärkung der sozialen Unterstützung. Die Auseinandersetzung mit maladaptiver sozialer Kognition. Soweit genügend Studien vorhanden sind, lauten die Ergebnisse, dass die Verbesserung der Möglichkeiten für soziale Kontakte am besten gegen soziale Isolation hilft. Also Veranstaltungen, Treffen, Gelegenheiten sich mit anderen zu treffen.

Gegen Einsamkeit hat sich die Auseinandersetzung mit den maladaptiven sozialen Kognitionen als am hilfreichsten herausgestellt. Diese kann dann durchaus auch die Form einer Psychotherapie annehmen.

Auch auf der politischen Ebene ist man inzwischen für das Thema sensibilisiert – insbesondere die Einsamkeit von Senioren soll vermindert werden. Dazu wurde und wird Geld bereitgestellt, das jetzt nur noch sinnvoll investiert werden muss.

Hier geht es zum Vortrag