Die Psychosomatik erkundet das Selbst II

Zwei Masken
John Hain auf Pixabay

Bericht vom 18.06.24 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Kristina Musholt Prof. Dr., Kognitive Anthropologie, Institut für Philosophie, Universität Leipzig:

„Wie ich werde, wer ich bin: zur Entwicklung des Selbst in der Interaktion mit Anderen“

Frau Musholt stellt sich uns als analytische Philosophin vor und präsentiert uns zunächst die Gliederung, mit der sie uns durch den Vortrag führen möchte. Sie benennt dazu folgende Punkte:

Verschiedene Selbstbegriffe

Stufen der Selbst-Fremd-Differenzierung

Die 2.-Person-Persperktive/Social Scaffolding

Die Rolle der Sprache

Die Rolle der Emotionen

Die zwei Seiten der Sozialisation

Sie nimmt nun auch gleich ihr Fazit vorweg, nämlich das Plädoyer für die zwei Seiten der Sozialisation – als Voraussetzung für die Individuation – aber auch als mögliche Einschränkung der Individuation.

Arten von Selbstbewusstsein

Körperbewusstsein

Unser Körperwissen ist nahezu ständig und ohne Worte präsent. Wir spüren uns einfach und diese basale Selbstgewissheit ist der Ausgangspunkt für weitere Arten des Selbstbewusstseins.

„Ich“-Gedanken

Sobald Worte hinzukommen, kommt auch das Wörtchen „Ich“ ins Spiel, nämlich sobald ich über mich selbst spreche.

Selbst-Konzept/autobiografisches Narrativ

Ab einem gewissen Alter entwickeln Menschen eine Erzählung über sich selbst, eine Geschichte über unsere Eigenarten und Werte, eine Lebensgeschichte.

Rationalität

In der Philosophie bezeichnet man auch gerne die Fähigkeit zur Vernunft als Selbstbewusstsein.

Selbstwissen

Das Selbstwissen ist nicht das gleiche wie das Wissen um andere. Das typische Beispiel dafür ist die Erfahrung von Schmerz. Dieser stellt eine unangenehme Form von unmittelbarem Wissen dar, das wiederum unteilbar mit anderen Menschen ist. Ein anderer Mensch kann mir mitteilen, dass er Schmerzen hat, aber dies ist eben ein anderer Erkenntniszugang, weshalb der Philosoph Ernst Tugendhat dieses Phänomen „Epistemische Asymmetrie“ nennt.

Andere Arten von Selbstwissen

Eine explizitere Art von Selbstwissen illustriert die Vortragende mit dem Orakel von Delphi. Dort tauchen Fragen auf, wie: Was bin ich für ein Mensch? Was ist mir wichtig im Leben? Welche Werte habe ich? Solches Wissen über sich ist schwerer zu erlangen und braucht notwendig andere. Das wird auch als triviales vs. substanzielles Selbstwissen genannt.

Kein Selbstbewusstsein ohne andere

Wir brauchen andere für unser Selbstwissen, sogar für das triviale Selbstwissen des Schmerzes, denn wir leben in verkörperten Interaktionen und zwar vom ersten Moment unserer Existenz an. Die Erfahrungen in diesen Interaktionen formen unser Selbstverhältnis wesentlich mit – ob ich liebevoll oder nachlässig, vorhersehbar oder zufällig versorgt worden bin. Diese frühen Erfahrungen formen bereits das Körperbewusstsein.

Ich-Gedanken

Auch Ich-Gedanken erfordern Kontakt mit anderen. Bevor ein Mensch lernt, „Ich“ zu sich zu sagen, erlebt er zahlreiche sprachliche Interaktionen. Ein Ich kann erst im Kontrast zu einem anderen Menschen einer anderen Perspektive entstehen. Dieser Multiperspektivismus ist eine menschliche Grunderfahrung.

Selbstkonzept

Auch diese Fähigkeit, sich selbst Prädikate zuzuschreiben, kann nur durch Interaktion mit anderen erworben werden. Dies liegt einfach daran, dass sprachliches Bewusstsein zwangsläufig sozial eingewoben ist.

Stufen der Selbst – Fremd-Differenzierung

Nun folgt ein kleiner Überblick über die Entwicklungspsychologie. Angeboren ist die menschliche Fähigkeit, von Geburt an den Gesichtsausdruck eines Gegenübers zu spiegeln. Säuglinge bevorzugen auch schon deutlich die Stimulierung durch andere Menschen.

Neun-Monats-Revolution

Im Alter von 9 -15 Monaten findet die sog. Neun-Monats-Revolution statt. Das Kind entwickelt die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit – eine Fähigkeit, die Menschen ganz speziell entwickeln.

Soziale Referenz

Im Alter von 8 – 24 Monaten entwickelt das Kind eine Fülle von neuen Fähigkeiten. Es besteht den Spiegeltest, kann sich also selbst im Spiegel erkennen und entwickelt damit eine Vorstufe der Theory of Mind – ein implizites Wissen, dass andere Menschen eine Perspektive auf mich haben.

Es entwickelt auch „Selbstbewusste/Sekundäre“ Emotionen wie Schüchternheit, aus dem Wissen, dass der andere mich sieht und Unterschiede in Wünschen oder Geschmäckern werden realisiert. Das Kind beginnt selektiv zu imitieren, zeigt Empathie zu Mitmenschen, kann also schon eine andere Perspektive übernehmen. Sog. „Turn-taking Activities“, also gemeinsame Tätigkeiten, mit geteilten Aufgabe, werden möglich.

Ab ca. vier Jahre

Um die Zeit des vierten Lebensjahres entwickeln Kinder die Fähigkeit sog. False-Belief Aufgaben zu lösen. Es geht dabei um die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, welche Überzeugungen ein anderer Mensch auf der Grundlage seines Hintergrundwissens haben muss. Das Kind gewinnt auch die Fähigkeit, andere bewusst zu täuschen und ganz allgemein die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Die erlangten Fähigkeiten, über sich und anderer nachdenken zu können, entwickeln sich ein Leben lang weiter. Dabei gehen die früheren Stufen nicht verloren. Wir bekommen noch einen tabelarischen Überblick.

Die 2.-Person Perspektive

Andere begegnen uns nicht als Objekte, sondern als Personen, als „Du“. D.h. sie begegnen uns als jemand, der uns zu etwas auffordern und nach Gründen für unser Verhalten fragen kann ( z. B. Fichte, Mead, Habermas, Levinas).

Anders ausgedrückt: Als Personen begegnen wir uns im Raum der Gründe d. h. im Raum der geteilten Normativität (Sellars). Wir spielen das Spiel uns gegenseitig Gründe zu geben und zu nehmen (Brandom).

„A person, perhaps, is best seen as one who was long enough dependent upon other persons to acquire the essential arts of personhood. Persons essentially are second  persons, who grow up with other persons.“ Annette Baier

Eine Person zu werden braucht also andere Personen, um das Miteinander im Raum der Gründe zu erlernen

Scaffolding

Scaffolding bedeutet so etwas wie ‚Gerüstbau‘ und befasst sich mit der Frage, wie Kinder in den Raum der Gründe eingeführt werden können. Dies erfordert eine aktive Strukturierung sozialer Interaktion (social scaffolding) von Seiten der Erwachsenen.

Sprache und Affektivität für Scaffolding

Wir lernen nun das „Sustained Shared Thinking (SST)“ ein Modell, mit dem die Vortragende selbst schon geforscht hat. Darin geht es darum, sich in der Welt der Gründe zu bewegen – Gründe abzuwägen, andere Gründe gelten lassen zu können …

Bewährt haben sich „interaktive Dialoge mit einer spezifisch explikativen Dimension“. Dieser ist charakterisiert durch:

  1. Anbieten einer Erklärungshypothese (Ich denke …, Ich vermute …)
  2. Signalisieren eines reduzierten epistemischen Status und das Explizitmachen der Quellen und Gründe für die angebotene Hypothese
  3. Aufforderung an das Kind, sich am gemeinsamen Denkprozess zu beteiligen

Wir bekommen ein anschauliches Beispiel für eine solche Interaktion, das nun auch noch semantisch erläutert wird.

Semantische Faktoren

  1. Macht inferenzielle (schlussfolgernde) Beziehungen explizit (Brandom)
  2. Über das Überprüfen und Einfordern epistemischer Validität
  3. Lädt zur Suche nach Gründen ein
  4. Durch SST werden genau die Eigenschaften von Sprechakten eingeübt, die wesentlich für das Navigieren im „Raum der Gründe“ sin

Narrative Identität

Theorien narrativer Identität zufolge lernen wir, wer wir sind, indem wir die eigene Biografie erzählen und damit zugleich interpretieren, einordnen und so unserem Selbst zu einer gewissen Kontinuität und Einheit, gerade angesichts stetiger äußerer und innerer Veränderungsprozesse verhelfen (Schechtman, Henning, Crone). Einzelne Aspekt werden gerne besonders hervorgehoben. Die Erzählung von Lebensepisoden können so die bevorzugten Eigenschaften hervorheben.

Hier vermischen sich dann auch Erzählungen von anderen über uns und auch die kulturellen Geschichten und Narrative fließen in die Selbsterzählung ein.

Nun möchte Frau noch auf die Rolle der Gefühle eingehen.

Affektivität

Soziale Interaktionen sind in aller Regel affektiv besetzt – wir finden die Dinge, die wir erleben, irgendwie.

Ein Kind lernt während Episoden sozialer Interaktion welche Objekte und Situationen welche Art von emotionaler Antwort einfordern, wie Emotionen identifiziert und benannt werden, aber auch welche Verhaltensdispositionen im Zusammenhang mit einer emotionalen Reaktion sozial angemessen sind.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Social referencing. In einer unbekannten Situation nutzt das Kind die mimischen und emotionalen Signale der Bezugsperson zur Orientierung.

Die Rolle der Emotionen

Kinder müssen lernen, die Emotionen richtig zu benennen und mit ihnen umzugehen. Das gelingt, indem sie den Ausdruck und das Erleben von Emotionen durch die Bezugsperson miterleben (funktionale Kopplung) – das Kind ist dabei, wenn die Bezugsperson in einzelnen Situationen emotional reagiert. Dabei gibt es sowohl kulturelle als auch familiäre Differenzen.

Darüber hinaus sind Emotionen so etwas wie kognitive Rahmen, die unsere Wahrnehmung der Welt, insbesondere der sozialen Welt, strukturieren. Emotionen können geradezu als Quelle unserer praktischen Gründe verstanden werden. Die Wut, die ich z. B. verspüre, wenn ich eine Ungerechtigkeit wahrnehme.

Gefühle werden neuerdings philosophisch nicht mehr als scharf getrennt von Kognitionen gedacht. Vielmehr wird ihnen so etwas wie ein Hinweischarakter für Kognitionen zugestanden – die Vernunft braucht Emotionen, um zu verstehen, was eine Interaktion bedeutet.

Zwischenfazit

Das Verstehen unserer Selbst und anderer) ist das Resultat einer Praxis (Wissen-Wie), die uns dazu befähigt, die normativ strukturierte soziale Welt zu navigieren. Wir werden in die soziale Praxis einsozialisiert, was körperliche, emotionale und kognitive Aspekte hat.

Implikationen für die Psychopathologie

Dies hat interessante Implikationen für bestimmte psychopathologische Phänomene, wie z. B. die Autismus-Spektrum-Diagnose. Frau Musholt argumentiert, dass nicht nur Betroffene die neurotypischen Menschen schlechte verstehen, sondern dass es auch umgekehrt ein schlecht Verstehen gibt. Sie deutet an, dass diagnostisch früher reagiert werden könnten, wenn das Verhalten der Kinder weniger Signale zur Prosozialität zeigt.

Die zwei Seiten der Sozialisation

Die Vortragende fasst ihre Gedanken so zusammen: Sozialisation befähigt uns zur Selbstbildung und gründeresponsiven Handlungsfähigkeit. Autonomie ist also immer abhängig von anderen (> relationale Autonomie).

Sozialisation kann aber auch einengend wirken. Hier dient das zeitgenössische Afghanistan als Beispiel, denn dort werden insbesondere Frauen sehr stark unterdrückt und eingeengt. Man muss natürlich nicht nur an solche extremen Beispiele denken, auch in unserer Kultur gibt es noch eine Menge von sozialen Normen, die individuelle Entfaltungen erschweren oder behindern.

Illegale Gefühle

Hier können sog. „disruptive“ Emotionen hilfreich werden. Sei es das ein Mensch aus äußeren oder inneren Gründen sein. Der falsche Weg macht sich emotional bemerkbar und diese mitunter heftigen Gefühle weisen uns letztlich den richtigen Weg.

Solche „illegalen Gefühle“ („outlaw emotions“) bieten neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen, indem sie alternative interpretative Rahmen zur Verfügung stellt.

Emotionen haben das Potenzial dazu, unser evaluatives Verständnis unseres Selbst und der sozialen Welt zu verbessern, auch dann – oder manchmal sogar vor allem dann – wenn sie sich gegen unsere „rationalen“ Überzeugungen wenden.

Aber ganz einfach ist das natürlich nicht – je nach der eigenen emotionalen Geschichte müssen wir unsere Gefühle auch überprüfen – Reflexion bleibt wichtig.

Fazit

Das Verstehen unserer Selbst, anderer und der Welt ist das Resultat affektiv aufgeladener sozialer Interaktionen.

Sozialisation ermöglicht Selbstbildung und autonomes Handeln, kann unsere Autonomie zugleich einschränken.

Daraus folgt, dass wir uns fragen sollten, wie wir unsere sozialen und kulturellen Praktiken so gestalten können, dass Personen sich bestmöglichentwickeln können. Dazu gehört auch das Kultivieren emotionaler Flexibilität.

Ein interessanter Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet Berührung

zeigt Berührung

Bericht vom 07.11.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Dr. Rebecca Böhme, Neurowissenschaftlerin und Assistenzprofessorin, Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften, Linköping, Schweden: „Berührung und Selbst: Welche Rolle spielt leibliche Erfahrung für Resilienz, Verbundenheit und Wohlergehen?“

Ich genieße wieder einmal den Vorzug digitaler Infrastruktur und besuche den Vortrag im Live-Stream, statt im strömenden Regen zur Uni zu laufen.

Berührung und das Selbst

Der Titel des Vortrags thematisiert den Zusammenhang von Berührung und Selbst. Ebenso über die Forschungen darüber, ob leibliche Erfahrungen auf Widerstandskraft, Wohlgefühl und Verbundenheit wirken. Der Zusammenhang von Berührung und selbst wirft natürlich die Frage auf, was wir unter dem „selbst“ verstehen wollen. Frau Böhme zitiert dazu den Urvater der wissenschaftlichen Psychologie, William James. Dieser sieht das Selbst als eine Zusammensetzung von leiblichem Selbst, Reflexivem/sozialem Selbst und einem spirituellen Selbst. Diese drei Aspekte hat er zu einer Pyramide angeordnet um damit auch so etwas wie eine Entwicklung und Hierarchie anzudeuten. Es gibt noch zahlreiche andere Modelle zum Begriff des Selbst – ihre Nennung wäre bereits abendfüllend.

Frau Böhme möchte aber Herrn James dahingehend korrigieren, als sie das soziale Selbst als grundlegender ansieht als das leibliche. Ihr Argument dafür lautet, dass das Selbst nur durch die Unterscheidung von einem Anderen entstehen kann, dass also erst ein Anderer ein Selbst entstehen lässt. Diese Diskussion ist ebenfalls eine sehr breite und nicht nur philosophisch spannend.

Berührung in der frühesten Lebenszeit

Frau Böhme erinnert uns daran, dass der Berührungssinn, der Tastsinn tatsächlich als erstes ausreift und zwar schon vorgeburtlich. Aus der pränatalen Forschung ist das Phänomen bekannt, dass bereits ein Embryo tastend um sich greift. Es greift die Nabelschnur, die Wände der Gebärmutter und besonders gerne ein Geschwister, falls hier Zwillinge heranreifen.

Auch nachgeburtlich ist das Baby ganz wesentlich über den Tastsinn mit seiner physischen und der menschlichen Umgebung verbunden. Wie wichtig eine angemessene Versorgung mit Berührung für die weitere Entwicklung ist, zeigt eine Studie an Frühgeborenen. Ein Teil von diesen wurden gewissermaßen mit Berührung vollversorgt (Känguru-Care), eine Kontrollgruppe wurde standardmäßig versorgt. Bereits nach sechs Monaten wird offensichtlich, dass sich die vollversorgten Kinder messbar besser entwickeln. Das nahm bis zum zweiten Lebensjahr sogar noch zu und war sogar noch zehn Jahre später feststellbar.

Zum Aspekt der Abgrenzung, der eben in der Kindheit ganz wesentlich über den Tastsinn entwickelt wird, gesellt sich auch der Aspekt der Grenzauflösung im verschmelzenden Kontakt. Dies kann bei der Kinderversorgung eine Rolle spielen und natürlich in der Intimität.

Berührung im bildgebenden Verfahren

Wir erfahren nun, wie die Berührung neurowissenschaftlich erforscht wird. Zur Anwendung kommen natürlich die bildgebenden Verfahren und damit werden die Selbstberührung, die Berührung durch ein Objekt und die durch einen vertrauten Menschen miteinander verglichen. Das Ergebnis überrascht wenig, wer oder was berührt macht einen Unterschied, der auch neurologisch feststellbar ist.

Weiter hat sich gezeigt, dass es eine spezielle Sinnesfaser gibt, die bei langsamem Streicheln (3cm/sec) und einer Temperatur von 32°C maximal feuert und das fühlt sich für die Gestreichelten angenehm an. Die Temperatur ist ziemlich genau die von Fingerspitzen und in dieser Geschwindigkeit streicheln nahezu alle Menschen intuitiv ihre Lieben.

Berührung und reflexives Selbst

Hat nun die Berührungserfahrung, v.a. die Berührung durch andere einen Einfluss auf das kognitive Selbst? Hier gibt es Hinweise, dass Menschen, bei denen sich ein deutlicherer Unterschied zwischen Selbst- und Fremdberührung gezeigt hat, über ein tendenziell besser ausgeprägtes Selbstkonzept verfügen.

Einen kausalen Hinweis gibt es dazu auch. Dazu wurden Experimente mit Ketamin gemacht (eine Droge, die Dissoziationen/Grenzauflösung fördert). Dabei stellte sich heraus, dass das leibliche Selbst mit der Selbst-Anderer Unterscheidung auf kognitiver Ebene eng verwoben ist.

Die soziale Funktion der Berührung

Dass Berührung eine soziale Dimension hat, erkennen wir schon, wenn wir unsere Primatenverwandten beobachten. Diese verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich gegenseitig zu lausen. Die Gesetzmäßigkeit dazu lautet, dass je größer die Gruppe, desto mehr Zeit mit Lausen verbracht wird.

Es lässt sich auch beobachten, dass es so etwas wie bevorzugte Lausparnter gibt, die sich in stressigen Situationen dann auch besonders effektiv durch Lausen wieder entspannen können.

Auch beim Menschen lässt sich so ein Effekt nachweisen. Drei Gruppen von Proband*innen wurden einer stressigen Aufgabe ausgesetzt. Die erste Gruppe bestand aus Solisten, die zweite hatte aufmunternden Zuspruch von Freunden erhalten und die dritte wurde vor der Aufgabe herzlich umarmt. Das Ergebnis des Versuchs war, dass die letzte Gruppe der Umarmten am wenigsten Stress entwickelte und sich auch am schnellsten wieder erholte.

Einvernehmliche Berührungen unter Menschen, die sich mögen befördern nachweisliche das Wohlbefinden und die Widerstandskraft.

Kommunikation durch Berührung

Hier wurde ein Setting gewählt, in dem ein Mensch von einem anderen berührt wurde, ohne diesen Menschen zu sehen. Der berührende Mensch bekommt Anweisungen, welches Gefühl er durch die Berührung übermitteln soll. Der Berührte sollte dann sagen, was er empfing. Es wurden gute Ergebnisse für Aufmerksamkeit, Liebe, Glück und Beruhigung erzielt. Bei Traurigkeit und Dankbarkeit klappte es nicht ganz so gut.

Wenn nun aber noch Mimik und Gestik zur Berührung hinzukommen werden die Übertragungserfolge deutlich zahlreicher. Ein interessanter Effekt ist, dass sog. sekundäre Gefühle (soziale Gefühle) wie Scham, Stolz, Schuld, Verlegenheit eher über die Körperhaltung und Gestik übermittelt werden, wohingegen die sog.  primären Gefühle (kategoriale Gefühle) wie Ärger, Ekel, Furcht, Freude und Trauer über die Mimik ausgedrückt werden. Liebe und Sympathie jedoch werden vor allem durch Berührung mitgeteilt.

Corona und Berührung

Die Zeit der Seuche war eine Belastungsprobe für die Gesellschaften und die Menschen. Ein Grund dafür war sicher, dass Berührungsinterkationen stark zurückgegangen sind. Natürlich wurde auch dieser Bereich erforscht. Man könnte sagen, dass erwartungsgemäß eine hohe Korrelation besteht, wenn Menschen berichten, dass sie weniger berührt worden sind/berührt haben und sich häufiger traurig oder einsam gefühlt haben.

Bedenkt man, dass gerade Sympathie und Zuneigung durch Berührung übermittelt werden, scheint es höchste Zeit zu sein, die Umgangsformen wieder körperlicher zuzulassen.

Berührung in der Zukunft

Aus der Not hat sich eine Geschäftsidee entwickelt, das „Hugshirt“. Das ist ein High-Tech T-Shirt, das über verschiedene Komponenten verfügt, die eine Berührung/Umarmung simulieren können. Mithilfe einer App kann ich nun einem T-Shirt Träger irgendwo auf der Welt eine Umarmung schicken (hoffentlich mit Ankündigung).

Diese Idee leitet über zum Zusammenhang von leiblicher Erfahrung und kognitiver Verarbeitung (Top Down und Bottom Up). Im Erleben fließen beide Aspekte mit ein. Berührt werden und berühren ist auch immer ein berührt werden/berühren von und das auch noch in einem Kontext. Leibphänomenologisch ausgedrückt geht es also um die Stimmigkeit.

Schlussfolgerungen

Frau Böhme plädiert dafür, dass wir gesellschaftlich den leiblich sensorischen Weltbezug schon ganz früh fördern müssten. Dadurch werden wir uns besser spüren zu können. Denn, so Frau Böhme, Berührung ist das ganze Leben lang sehr wichtig, auch und gerade im höheren Alter.

Hier geht es zu dem sehr informativen Vortrag

Die Psychosomatik erkundet die Entwicklungspsychologie

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Stephan Doering, Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien: „Der Tanz mit dem Baby – entwicklungspsychologische Modelle der frühen Interaktion“

Herr Doering klärt uns zu Beginn darüber auf, dass er weder Bindungsforscher noch Kinder- und Jugendpsychotherapeut ist, sondern Psychoanalytiker und Psychotherapieforscher. Er möchte uns aber etwas zur Bindungsforschung und zur Interaktion zwischen Mutter und Kind berichten, weil die Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen sehr relevant für die Psychotherapie sind. Ich kann vorwegnehmen, dass Herr Doering uns die historische Entwicklung und Meilensteine der frühkindlichen Entwicklungspsychologie vorstellen wird.

Anfänge

Wir bekommen zunächst ein Diagramm präsentiert. Es stellt die allmähliche Ausbildung eines psychischen Raums beim heranwachsenden Baby dar. Die im Diagramm veranschaulichte Theorie nimmt noch an, dass es eine frühe Phase einer sog. „undifferenzierten Matrix“ gibt, die ein Baby erlebt. Diese werde als weitestgehend vegetativ erlebt, also ähnlich einer Pflanze.
Relativ bald wurde diese Betrachtung angegriffen bzw. durch besseres Wissen ersetzt. Insbesondere die Forschungsarbeiten von Daniel Stern revolutionierten die Vorstellungen über die Bewusstseinsvorgänge eines Babys.
Dann werden wir an das Buch „Der kompetente Säugling“ erinnert. Darin stellte Martin Dornes das entwicklungspsychologische Wissen dieser Zeit (1993) umfassend dar und glich es auch mit psychoanalytischen Modellen ab. Seither kann man davon ausgehen, dass Babys sehr wohl über eine gewisse Selbstwahrnehmung verfügen und dass sie sich an ihre Betreuungspersonen anpassen können.
Anhand dieser Grundlagen möchte uns Herr Doering nun die Arbeit von Beatrice Beebe und Frank M. Lachmann vorstellen. Beides sind Säuglingsforscher, die auf der Basis ihrer Einsichten die Relevanz insbesondere für die Psychoanalyse, im Weiteren aber auch für Psychotherapie insgesamt relevant halten. Das Eingangszitat dazu lautet:

„[…] weil sich die basalen nonverbalen Interaktionsprozesse so ähnlich bleiben, […] vermag [das] unser Verständnis der Analytiker-Patient-Interaktion zu vertiefen.“

Die Interaktionsprozesse verändern sich natürlich durch Sprache und Kognitionen, aber der nonverbale Grund bleibt dabei erhalten. Der Ansatz wäre also nun, vor diesem Hintergrund die folgenden Fragen zu beantworten: Was geschieht eigentlich in einer Psychotherapie? Was passiert jenseits der Worte? Herrn Doerings Forschungsarbeit besteht nun genau darin, zu versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Was ist eine Repräsentation?

Das klassische Verständnis dieses Begriffs umschreibt die Anwesenheit von etwas im Bewusstsein, das nicht real präsent ist. Die Hypothese dazu lautete immer, dass dafür so etwas wie symbolischen Fähigkeiten notwendig wären, also Sprachfähigkeit.
Nun hat sich aber herausgestellt, dass es auch präsymbolische Repräsentationen gibt. Diese lassen sich ab dem zweiten Lebensmonat feststellen und es geht dabei um Bilder, Töne und Geräusche sowie um Gerüche, die in Beziehungskontexten eine Rolle spielen. Diese bilden präsymbolische Repräsentanzen, die zum impliziten Beziehungswissen gezählt werden. Es wird angenommen, dass sie uns ein Leben lang erhalten bleiben.
Klassische Experimente, die diese Hypothese stützen, sind: Dass ein Säugling innerhalb von fünf Tagen nach der Geburt die Mutter am Geruch erkennen kann, nach nur drei Tagen die mütterliche Stimme und ihr Gesicht nach etwa zwei Tagen. Aus diesen Erkenntnissen wurde im Anschluss die Entwicklungspsychologie der Klein‘schen Objektbeziehungstheorie erweitert.

Implizites Beziehungswissen

Alle diese präsymbolischen Repräsentationen werden in Beziehungen erworben und bleiben für Beziehungen relevant, auch nachdem symbolische Repräsentanzen gebildet werden können. Es ist implizit-prozedurales (unwillkürliches) Beziehungswissen, das ein Stück weit unsere Erwartungen an und Handlungen in Beziehungen beeinflusst.
Daniel Stern hat diese Art von Wissen als RIGs „Representations of Interaction that have been Generalized“ bezeichnet. Diese umfassen Gefühle, Handlungen und Interaktionen in komplexen Mustern.

Synchronisierung

Wie bilden sich nun die präsymbolischen Repräsentanzen oder RIGs? Eine zentrale Rolle spielt dabei die Synchronisation, also die zeitliche Abstimmung zwischen Partner.

Bekannt ist das Phänomen der Fähigkeit des Säuglings, bereits wenige Stunden nach seiner Geburt die Mimik eines Gegenübers nachahmen zu können. Ob das bereits ein Effekt des Gesichts-Feedbacks ist (facial feedback) ist noch nicht geklärt.

Die Rolle des „Spiegelns“ hingegen scheint sehr viel eindeutiger geklärt. Es ist eine der häufigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind, dass wechselseitig Gesichtsausdrücke produziert und zurückgespiegelt werden. Diese Abstimmung erfolgt in Zeiträumen von Mikrosekunde, ist also hochdynamisch. Da Mimik aber auch zum Gefühlsausdruck zählt, findet hier auch schon eine Affektregulation und damit Aufbauprozesse eines Selbsts statt. Frau Beebe formuliert die Erfahrung so:

„Ich erlebe mich selbst als eine Person, die dir folgt und der du folgst.“

Ein weiteres Forschungsergebnis von Frau Beebe ist, dass eine zweieinhalbminütige Beobachtung einer Mutter-Kind-Interaktion (das Kind ist vier Monate alt), das Bindungsmuster mit einem Jahr vorausgesagt werden kann. Mithilfe einer guten Filmaufnahme dieser Interaktion lassen sich Spiegelungs-, Berührungs-, Handlungs- und Abstimmungssequenzen analysieren und auf ihre Angemessenheit und Synchronität prüfen. Gelingende Interaktionen muten an wie ein Tanz von Mutter und Kind.
Wir sehen nun eine kleine Videosequenz einer solchen Mutter-Kind-Interaktion, die das Gehörte eindrücklich illustriert. Dieses Beispiel dokumentierte eine gute Abstimmung zwischen Baby und Mutter.

Misslingende Abstimmung

Nun nennt uns Herr Doering einige Anzeichen, die für ein desorganisiertes Bindungsmuster sprechen. Die Kinder zeigen mehr Kummer in der Mimik, sie zeigen auch Abweichungen zwischen stimmlicher Äußerung und Affektausdruck, die Rhythmen sind schwer vorhersagbar und die Kinder berühren sich selbst weniger mit ihren Händen.
Die Mütter wenden ihren Blick häufiger ab, kommen aber auch häufiger besonders nah oder zu nah. Wenn das Kind Kummer zeigt, zeigen sie sich überrascht und eher positiv und sie können sich nicht gut zeitlich abstimmen. Sie versuchen stark ihre Mimik zu beherrschen und berühren ihr Kind eher unkoordiniert.
Zum besseren Überblick bekommen wir noch ein Diagramm, das uns die Zeitlinie der Synchronität darstellt. Diese beginnt bereits vorgeburtlich und macht in den ersten sechs nachgeburtlichen Monaten vor allem Erfahrungen in Interaktionen. Dabei hilft dem Baby ein angeborener „Kontingenz-Detektor“, denn es sucht nach wenn-dann Beziehungen.
Etwa ab dem neunten Monat entsteht so etwas wie Intersubjektivität und etwa ab dem ersten Lebensjahr beginn allmählich die Bildung symbolischer Repräsentanzen.

Abriss und Reparatur

Aber keine Harmonie hält ewig und es kommt auch immer wieder zu Abbrüchen und Missverständnissen. Wieder war es Daniel Stern, der dieses Phänomen neu gedeutet hat. Danach sind die Unterbrechungen und ihre Reparatur sehr wichtige Erfahrungen für den Säugling, denn er trainiert damit seine Toleranzschwelle und macht auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wenn es ihm gelingt, die Mutter wieder zum Tanzen zu bringen. Genauere Forschungen haben ergeben, dass nur 30 % der Zeit in Harmonie verbracht werden und während 70 % der Zeit eine gewisse Dissonanz vorherrscht.

Das berühmteste Experiment zu diesem Thema ist das „Still Face Experiment“. Darin bekommen Mütter die Aufgabe, drei Minuten lang ihre Gesichtszüge nicht zu verändern. Wir sehen ein solches Experiment in einem kurzen Video und es ist sehr anrührend, welche Anstrengungen das Kind macht, um die Mutter wieder in Einklang zu bringen. Der Forscher Ed Tronick nannte das: „Das Gute, das Schlechte und das Hässliche“. Gut sind die normalen Dinge, wenn Einklang zwischen Mutter und Kind herrscht. Schlecht ist, wenn der Einklang gestört ist und hässlich ist, wenn es keinen Rückweg aus dem Missklang gibt.

Eine gelingende Beziehungsgestaltung umfasst also sowohl Harmonie als auch Dissonanz und die Wege dazwischen. Reine Harmonie ist so schädlich wie reine Dissonanz. Genau das besagt das „Mutual Regulation Model“

Mutter und Kind beeinflussen gegenseitig, also beide sind sowohl aktiv als auch passiv an der Beziehungsgestaltung beteiligt. Dabei hilft auch das sog. „Social Referencing“. Dieser Ausdruck will sagen, dass das Kind in unbekannten Situationen auf den Gesichtsausdruck bzw. die Reaktion der Mutter achtet, um einen Hinweis darauf zu bekommen, ob die Situation womöglich gefährlich ist.

Kreuzmodale Entsprechung und Affektabstimmung

Es ist schon länger bekannt, dass kleine Kinder verschiedene Objekte mit mehreren Sinnen erforschen und zwar visuell, taktil, evtl. über den Geruch oder auch auditiv. Zum Verständnis dieses Phänomens hat wieder Daniel Stern einiges beizutragen. Er vermutet eine „supra-modale Wahrnehmung“, die weder taktil, auditiv oder visuell ist, aber die Möglichkeit bietet, ein und denselben Gegenstand in unterschiedlichen Modi wiederzuerkennen.

Stern bringt auch noch den sog. „Vitalitätsaffekt“ ins Spiel. Damit möchte er die Erlebniswelt des Kleinkinds beschreiben, die als ein Auf und Ab von Gefühlen und Intensitäten vor sich hinfließt. Damit ist es möglich, die typischen Gesprächsformen zwischen Eltern und Kindern zu verstehen. Übertrieben laute oder leise, hohe oder tiefe Sprache, eine übertriebene Mimik und alles geht mit dazu passenden Bewegungen einher, die entsprechend schnell und kräftig sind.

Dies wird ab dem neunten Lebensmonat noch einmal intensiver und um eine neue Dimension erweitert, denn in dieser Zeit beginnt die Affektabstimmung eine wichtigere Rolle zu spielen. Affekte und Emotionen haben auch eine Erregungskurve z. B. ansteigend im Ärger oder abfallend bei der Trauer. Diese Verläufe lassen sich nun auch in der Stimme, der Bewegung oder dem Gesichtsausdruck nachvollziehen. Der Vortragende gibt uns ein schönes stimmliches Beispiel des „Kuckuck-Da“ Spiels, das von sechs bis acht Monate alten Kindern so innig geliebt wird.
Wir bekommen noch weitere Beispiele für kontingentes Spiegeln, also kongruente und markierte Wiedergaben der Äußerungen des Kindes, sodass es die Möglichkeit hat, sich sowohl gesehen als auch verstanden zu fühlen. Auch die Beispiele, bei denen die Spiegelung nicht klappt, sind eindrucksvoll.

Konsequenzen für die Psychotherapie

Herr Doering plädiert dafür, dass diese Prozesse von Synchronität, Grenzverfehlungen, kontingente Spiegelungen sowie der Verlauf von Erregungskurven und die kreuzmodalen Übersetzungen eine wichtige Rolle für den Verlauf und den Erfolg einer Therapie spielen. Patient*innen haben eher ungute Abstimmungserfahrungen gemacht und in ihrem impliziten Gedächtnis sind wohl häufiger ungute Interaktionserfahrungen abgelegt.
Diese impliziten Inhalte zeigen sich im nonverbalen Verhalten, der Inszenierung, der Art und Weise der Annäherung und des Abschieds und in den Möglichkeiten der gegenseitigen Regulation. Herr Doering möchte uns dafür sensibilisieren.

Hier geht es zu diesem überaus reichhaltigen Vortrag

Die Psychosomatik erkundet „Embodiment“

Embodiment als neues Paradigma

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
Vortrag von: Martin Dornberg, Dr. med. Dr. phil., Leiter des Zentrums für Psychosomatik und Psychotherapie Freiburg und Philosophisches Seminar, Universität Freiburg:  „Die zweigriffige Baumsäge: Embodiment, Beziehung und Psychotherapie“

Herr Dornberg stellt uns die Gliederung seines Vortrags vor: Es geht zunächst um „Baumsägeexperimente“, dann um „Embodiment und Baumsäge“. Weitergehen soll es mit Anmerkungen zur „Entwicklungspsychologie“, „Psychotherapie und Baumsäge“ und zuguterletzt um „Medienkunst und Baumsäge“.

Einführung

Wir erfahren etwas zur Geschichte, wie dieses Werkzeug überhaupt in die Psychotherapie aufgenommen wurde. Sie wurde von Thure von Uexküll ganz konkret und als Metapher eingeführt, der sie in der Ärzteausbildung verwendete.
Sie findet sich auch in der schon älteren Philosophie, die sich Gedanken zum Ich-Du-Verhältnis macht, zur Intersubjektivität, zum Leib-Seele Problem und zur Zwischenleiblichkeit.
Einen Schub erhielt das Thema durch das Buch „Der kompetente Säugling“ von Martin Dornes. Darin wird dargelegt, dass Säuglinge keineswegs passive Wesen sind, sondern höchst kompetent die Beziehung zur Mutter mitgestalten. In der Psychosomatik formulierte von Uexküll dazu einen weiteren Begriff, nämlich den der „Subjektiven Anatomie“. Dieser besagt so viel, dass jeder Mensch tatsächlich eine sehr subjektive Wahrnehmung seines Körpers hat.
In der Philosophie wurde zum Ende des letzten Jahrhunderts ebenfalls an Embodiment geforscht, unter anderem um den Aspekt des „Körpergedächtnisses“.
Neueste Entwicklungen rund um das Thema drehen sich um Medientheorie und Medienkunst.

Der Funktionskreis

Herr Dornberg stellt uns das biologische Systemmodell von Thure von Uexküll vor, den sogenannten „Funktionskreis“. Dieser macht deutlich, dass kein Lebewesen, also auch kein Mensch in einer abgeschlossenen Psyche lebt, sondern immerzu von seiner Umwelt beeinflusst wird und gleichzeitig auch diese Umwelt beeinflusst.
Wie können wir dann andere Menschen überhaupt verstehen, bzw. uns gegenseitig verstehen? Dazu hören wir ein Zitat von H.G. Gadamer:

„In der antiken Schrift über die Heilkunst findet sich dafür das schöne Beispiel des Führens der Baumsäge. Wie der eine zieht, so folgt der Andere, und das vollendete Führen der Säge bildet einen Gestaltkreis (Weizsäcker), in dem sich die Bewegungen der beiden Sägenden zu einem einheitlichen rhythmischen Fluss der Bewegung verschmelzen. Da steht der bezeichnende Satz, der das Wunderbare solcher Erfahrung von Gleichgewicht andeutet: Wenn sie aber Gewalt anwenden, dann werden sie es ganz verfehlen.“

Der Leib-Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty entwickelte das zu einem Konzept der Zwischenleiblichkeit. Er schrieb:

„Die Kommunikation und das Verständnis von Gesten entsteht durch Wechselseitigkeit zwischen meinen Intentionen und den Gesten des anderen, zwischen meinen Gesten und den Intentionen, die ich im Verhalten anderer wahrnehmen kann. Es ist, als ob die Intentionen des anderen meinen Leib bewohnten, und meine Intentionen den seinen.“

Die Baumsägeexperimente

Wir sehen Ausschnitte aus einem Film über Studierende der Medienwissenschft aus zwei Kulturen, die miteinander die Zweihandsäge bedienen. Die Erfahrung verändert sich mit dem Partner. Die Qualität, mit der sich die Sägenden aufeinander einlassen, kann sehr verschieden sein. Die Erfahrung reicht von Frust über das Misslingen des Sägens bis zu Glücksgefühlen, wenn sich eine Harmonie einstellt.
Herr Dornberg verweist hier schon auf die psychotherapeutische Situation, die mit jedem Klienten eine andere ist.
Die ersten Sägeexperimente wurden 1949 in Heidelberg gemacht. Es ging um Fragen der Rehabilitation von kranken Menschen. Mit einer Baumsägen Attrappe konnten sowohl objektive Messdaten gewonnen werden (Zug- und Druckkraft, Weg), als auch subjektive Eindrücke wie Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Ergebnisse der Experimente zeigten folgende Ergebnisse.
Es zeigte sich eine Gegenseitigkeit, dass nämlich beide Akteure in der Voraussicht auf den jeweils anderen handeln .
Kompensationshandlungen stellen sich ein, wenn ein Partner die kurzzeitige Schwäche des anderen ausgleicht, ohne es zu merken.

Aus zwei wird drei

Darüberhinaus entwickelte sich eine Emergenz, d. h. im Vollzug des Sägens entsteht ein neues Ganzes.
Es kommt zu einer Verbundenheit zur Ziel- und Prozessorientierung. Sie realisieren ein Maximum an Freiheit gerade durch ihre Bezugnahme auf feste Determinanten.
Beide Partner formen also ein neues Ganzes, das auf die Partner zurückwirkt. Beide entwickeln eigene Fähigkeiten von „Merken“ und „Wirken“. Das emergente Ganze teilt sich den Partnern körperlich-leiblich und emotional durch Resonanzphänomene mit. Die Stimmung verändert sich und es entwickelt sich eine Synchronie, die sogar die Herzfrequenzen mit einbezieht. Sie bilden durch ihr zwischenleibliches Tun einen „Dritten Körper“
Ein weiteres verblüffendes Ergebnis war, dass die Paarung Gesunder – Kranker, nahezu ebenbürtige Ergebnisse erzielten wie Paarungen von Gesunden. Dieses Ergebnis führte zu einer Hypothese:

„Der Kranke ist nur in dem Maße krank, indem er der Zuwendung seiner Mitmenschen ermangelt. Was ihm fehlt ist nicht nur, was ihm mangelt, sondern auch was die Anderen ihm versagen. Der Begriff „Krankheit“ ist in dieser Sicht kein individueller, sondern ein sozialanthropologischer.“

Embodiment

Die Embodiment Theorie unterstützt die Ansätze der körperorientierten Psychotherapie. Sie sagt aus, dass: Kognitionen, Emotionen und Verhalten neue körperliche Bedingungen formen und, dass die Körper-Konditionen Einfluss auf Kognition, Emotion und Verhalten ausüben. Es handelt sich also sowohl um bottom-up als auch top-down Beziehungen.
Embodiment ist aber nicht ohne Umweltbezug denkbar, deshalb wird Embodiment mit „Embeddedness“ ergänzt. Das bedeutet, dass jedes Lebewesen in seine Umweltzusammenhänge eingebettet ist, diese Umwelt mit formt und wiederum selbst von seinen Interaktionen beeinflusst wird.
Beide Prozesse gemeinsam sind „enaktiv“, also ein interaktiver Prozess beider Beteiligter, die dadurch neue, emergente Eigenschaften produzieren. Sie bedeuten auch, dass Geist nicht auf das Gehirn beschränkt ist (Extended Mind). Geistiges beinhaltet auch externe Komponenten wie Notizen oder andere Umweltkomponenten.

Entwicklungspsychologie

Nun kommt Herr Dornberg zum Thema der Entwicklungspsychologie. Er möchte aus der Säuglingsforschung berichten, dabei die Psychotherapie mit beleuchten und auch etwas über Spiegelneurone sagen.
Er demonstriert die Wirkung der Spiegelneurone an einem Foto, auf dem eine Mann gerade kurz davorsteht, sich in den Daumen zu schneiden. Der Anblick alleine genügt, um sich kurz unwohl zu fühlen, bis man mitbekommt, dass dem eigenen Daumen gerade gar nichts fehlt.
Dann werden wir an die Arbeiten und Theorien von Daniel Stern erinnert. Dieser hat herausgearbeitet, dass sich während der frühen Entwicklungszeit Schemata von Zusammensein etablieren. Es geht dabei um „Handlungsabläufe mit antwortenden Handlungsmacht- und Affektkomponenten, zeitlich-rhythmische Mustern, räumlichen und intensitätsbezogenen Anordnungen. Zusammen bilden sie die sog. RIGs (representations of interactions being generalized).“

Das dialogische Selbst

Ein berühmtes Experiment in diesem Zusammenhang ist das „Still Face“ Experiment, darin interagieren Mütter mit ihren Babys, ohne das Gesicht zu verziehen. Bei den Babys führt das regelmäßig zur Verzweiflung. Sie brauchen eine angemessene Spiegelung (kontingent und markiert), um eine Selbstrepräsentation entwickeln zu können. Mutter und Baby regulieren sich dabei gegenseitig und bilden so etwas wie ein „Dialogisches Selbst“.
Um also Emotionen und Kognitionen entwickeln zu können, brauchen wir die Intersubjektivität. Man kann eine primäre Intersubjektivität, die wäre multimodal, nicht-konzeptionell und körperlich von einer sekundären Intersubjektivität unterscheiden, das betrifft das Teilen von Intentionen und Wünschen durch Handlungen, Äußerungen und Wahrnehmungen. Der Psychotherapeut Peter Fonagy drückt diesen Umstand so aus:

„Wir müssen von einem dialektischen Modell der Entwicklung des Selbst ausgehen (…), demzufolge die Fähigkeit des Kindes, eine kohärente Vorstellung von der Psyche zu entwickeln, entscheidend davon abhängt, dass es sich selbst von seiner Bindungsfigur als Psyche wahrgenommen fühlt.“

Psychotherapie und Baumsäge

Der Prozess der Psychotherapie und die Beziehung, die darin entsteht, kann ebenfalls mit der zweihändigen Baumsäge veranschaulicht werden. Die Wirklichkeiten von Therapeut*in und Klient*in verzahnen sich ineinander. Sie erschaffen im besten Fall eine gemeinsame, hilfreiche Wirklichkeit. Der/die Therapeut*in dient in dieser Beziehung als „diagnostisches Instrument“.
Psychotherapie ist beziehungsorientiert. Sie kann als komplexes Wechselspiel zwischen zwei Beteiligten betrachtet werden. Ein konstruktivistisches Element besteht darin, dass wir unsere Wirklichkeiten in so einer komplexen Beziehung tatsächlich selbst erschaffen, nichtsdestotrotz bleiben wir natürlich reale Lebewesen. In der Therapie können wir die Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und Abhängigkeit und von Freiheit und Einflussnahme erleben, ebenso wie beim gemeinsamen Sägen.
Die gelingende Psychotherapie schafft eine gemeinsame Wirklichkeit, in der gemeinsam eine Leistung erbracht wird, z. B. Zusammenarbeit oder Gesundheit. Beide Beteiligte haben ihre eigene Wirklichkeit, die Fragen bereithält. Z. B. Wovon werde ich/er gerade beeinflusst (Beziehungen/Gefühle) und was für Ziele/Wünsche habe ich/hat er gerade?
Im nächsten Schritt kann die gemeinsame Wirklichkeit erkundet werden. Also die jeweiligen Wirklichkeiten realisieren und durch eine patientenorientierte Kommunikation, also mit Hilfe von Pausen, emotionaler Spiegelung oder Zusammenfassungen. Dies darf sich abwechseln mit therapeutenzentrierter Kommunikation, in der der Therapeut seine therapeutischen Ziele kommunizieren kann.

Therapeutische Relevanz

Klassisch wäre, dass die Tiefenpsychologischen Ansätze stärker die Patientenorientierung nutzen und die Verhaltenstherapeutischen eher die Therapeutenzentrierten. Tatsächlich sind aber immer beide Aspekte nötig, denn Therapeut und Patient sind nicht exklusiv miteinander verbunden. In ihrer Beziehung tauchen auch andere Beziehungen auf, z. B. solche von früheren, aktuellen oder auch aus anderen Therapien.
Dies liegt u.a. an den emotionalen Schemata. Die wesentlichen Bindungs- und Beziehungsmuster entwickeln sich in den ersten Lebensjahren. Sie sind vorwiegend körperlich/verkörpert. Sie formen die impliziten und expliziten Organisationsformen von Erfahrungen.

Situation und Körpererleben

Liegen Dysfunktionen von emotionalen Schemata vor, dann zeigen sie sich situativ, wenn eine Situation unangemessene emotionale/kognitive Reaktionen auslöst. Offenbar ist es so, dass die Corona Situation neue Herausforderungen für die Schemata darstellt.
Der subjektiven Anatomie der dysfunktionalen Schemata kann man auch mit Körperbildern oder Körperskulpturen auf die Spur kommen. Besonders eindrücklich sind Figuren oder Gebilde, die die Klient*innen aus Ton formen können.
Nun wird noch Klaus Grawe angeführt. Diese Psychotherapieforscher hat geschrieben:

„Alle Inhalte des impliziten Gedächtnisses und damit die Grundlage des Großteils unbewusster Prozesse könne nur prozessual aktiviert werden, aber nicht über inhaltliche Thematisierung. Dieser Sachverhalt erscheint mir für die Psychotherapie von allerhöchster Relevanz. Für die Reaktivierung ist die Herstellung einer möglichst ähnlichen Reizsituation erforderlich, wie der,  unter der diese Gedächtnissysteme ursprünglich erworben wurden.“ Und: „Für die herbeizuführenden Veränderungen ist (…) der implizit-nonverbal-analoge Funktionsmodus wegen seiner engen Assoziation mit den Emotionen der relevantere.“

Wenn das nicht für Körperorientierte Psychotherapie spricht!
Es geht also in der Therapie auch darum, bestimmte Reaktionen situativ hervorzurufen und sie dann zu verändern. Dies geschieht dadurch, dass die auftauchenden dysfunktionalen Muster durch kleine Variationen modifiziert werden.
Zusammenfassend bekommen wir ein Diagramm, welches das „System Therapeut“ dem „System Klient*in“ gegenüberstellt. Beide sind aufeinander bezogen und übertragen aufeinander. Es finden Parallelprozesse statt, Beziehungsübertragungen, Affektübertragungen, Körperübertragungen, Spiegelungen, Mentalisierungen und auch Traumaübertragungen sind möglich. Das Fazit daraus lauter:

„Die Ansicht Freuds, der Therapeut müsse sich so wie ein Spiegel verhalten, ist falsch! Ohne Verwicklung keine Entwicklung!“

Fazit

Das abschließende Fazit aus der Baumsägen Metapher sieht so aus: Die therapeutische Beziehung hat eine besondere Bedeutung. Das Phänomen des „Dritten Körpers“ spielt eine Rolle für den Erfolg. Übertragungen und Gegenübertragungen finden ständig zwischen beiden Beteiligten statt.
Therapie ist die Veränderung impliziter Beziehungsmuster und eine korrektive therapeutische Erfahrung.
Sogenannte „Begegnungsmomente“ (~ spontanes, bedeutungsvolles Miteinander) fördern den Therapieerfolg. Emotionale Mitteilungen des Therapeuten können eine Beziehungsherausforderung sein, die Früchte tragen kann.
Als Grundlage ist das Bio-psycho-soziale Modell und dessen Systemik am hilfreichsten.
Hier ist der Vortragende am Ende seiner Zeit angekommen. Es ist möglich sich den Vortrag selbst anzusehen.

Die Psychosomatik erkundet „Mentalisierung“

Mentalisieren als Wirkfaktor der Psychotherapie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.11.19, von Sebastian Euler, Zürich:     „Mentalisieren als Wirkfaktor in der Psychotherapie“

Herr Euler beginnt seinen Vortrag mit der Erläuterung des Begriffs „Mentalisierung“. Da das Begriffsverständnis nicht ganz einfach ist, macht er einen Umweg über die Begründer des Begriffs und der darauf aufbauenden Therapiemethode, dabei handelt es sich um Peter Fonagy und Antony Bateman. Diese sagen von ihrer Methode: „Der Fokus auf Mentalisierung stellt eher eine Feinjustierung als eine Innovation dar.“ Dieser Satz klingt bescheiden und meint, dass auch andere Therapieformern mit Mentalisierung arbeiten, allerdings meist, ohne es erkannt zu haben. Denn:

„Wir behaupten kühn, dass das Mentalisieren […] der grundlegende gemeinsame Faktor der psychotherapeutischen Behandlung ist und dass infolgedessen jeder, der auf dem Sektor der psychischen Gesundheitsversorgung arbeitet, von einem gründlichen Verständnis des Mentalisierens […] profitieren wird.“

Das klingt nun eher unbescheiden und bedarf eines Nachweises.

Die Erfolgsgeschichte der MBT

Dass die sog. „MBT“ wirksam ist, wurde in zwei Langzeitstudien eindrucksvoll nachgewiesen und dabei handelt es sich um Therapien von Persönlichkeitsstörungen, die als besonders anspruchsvoll gelten. Wie lassen sich solche Erfolge erklären? Herr Euler stellt uns den Therapieplan vor. Aus diesem geht hervor, dass nach Phase der Diagnostik und der Krisenplanung eine Behandlungsvereinbarung geschlossen wird. Darauf folgen zwölf Sitzungen zur Psychoedukatio, also Aufklärung darüber, was Mentalisieren ist, und erst dann beginnt die eigentliche Therapie mit Einzel- und Gruppensitzungen. Insgesamt werden so 18 von 24 Monaten mit Vorbereitung auf die Therapie verbracht.
Der Erfolg hat nun dazu geführt, dass die MBT Anwendung auch auf andere Diagnosen ausgeweitet wurde. Das geht quer durch die Persönlichkeitsstörungen, aber auch bei Depressionen oder Traumfolgeerkrankungen. Eine weitere Folge des Erfolgs ist auch, dass „Mentalisierung“ in immer mehr fachwissenschaftlichen Artikeln genannt wird.

Was heißt „Mentalisieren“?

Nun also der zweite Anlauf: Was ist mit ‚Mentalisieren‘ genauer gemeint?

„Mentalisieren heißt, sich auf die inneren, mentalen Zustände (Gedanken, Gefühle, Wünsche, Bedürfnisse, Überzeugungen etc.) von sich selbst und anderen zu beziehen, diese als dem Verhalten zugrundeliegend zu begreifend und darüber nachdenken zu können.“

Als englische Kurzform ausgedrückt: „Holding mind in mind.“ Dieser Bestimmung liegt zugrunde, dass Menschen intentional, also mit Absichten denken und handeln, bzw. unterstellen wir das immer unseren Mitmenschen. Zum Zweiten sind Denkprozesse „opak“ also hinter einem Schleier verborgen, so dass wir sie nicht sehen können.
Herr Euler zeigt uns noch ein Diagramm, auf dem abgebildet ist, was überhaupt mentalisierbar ist. Es geht einerseits um die Selbstwahrnehmung und andererseits um die Fremdwahrnehmung. In beiden Richtungen können wir explizite, also ausgesprochene, Gedanken wahrnehmen und auch die emotionalen Zustände von uns selbst und dem Anderen sind uns potenziell zugänglich. Es zeigen sich also vier Pole, die Affektbewusstsein, Psychisches Bewusstsein, Achtsamkeit und Empathie heißen.
Daraus lassen sich nun vier polare Dimensionen von Mentalisierung, bzw. beeinträchtigter Mentalisierung ableiten.

  • Kognitiver Prozess – Affektiver Prozess
  • Selbst-orientiert – zum Anderen orientiert
  • Nach innen fokussiert – nach außen fokussiert
  • Automatisch (implizit) – Kontrolliert (explizit)

Darauf folgt, so Herr Euler: „Mentalisieren integriert somit intrapsychische und interpersonelle Aspekte.“

Neuro-Imaging und MBT

In dieser Vorlesungsreihe dürfen einige Hirnscans nicht fehlen und auch heute bekommen wir Bilder von Gehirnen mit eingefärbten Zonen zu Gesicht, die wohl belegen können, dass diese vier Dimensionen sich auch neurologisch begründen lassen. Der Nutzen dieser Dimensionen ergibt sich in der Diagnostik, in der jede Persönlichkeitsstörung ein spezifisches Profil aufweist. So zeigt sich bei der Borderline Persönlichkeitsstörung eine geringe interne Mentalisierung, eine sehr hohe Externe Mentalisierung, das Selbst und der Andere sind gering mentalisiert, aber die Affekte wiederum sehr hoch. Andere Persönlichkeitsstörungen zeigen typische andere Profile. Diese Befunde lassen sich gut mit Diagnose Manual DSM-5 in Verbindung bringen und besitzen auch viel Ähnlichkeit mit dem OPD Manual.

Entwicklung der Mentalisierung

Wie erlernen Menschen nun das Mentalisieren? Die Fähigkeit beruht auf der „Theory of Mind“, womit die Fähigkeit gemeint ist, dass Menschen sich vorstellen können, dass andere Menschen die Welt auf ähnliche und bewusste Weise wahrnehmen wie man selbst. Diese Fähigkeit entwickelt sich im Verlauf Persönlichkeitsentwicklung, muss also erworben werden. Einen hohen Einfluss auf diese Entwicklung spielt die Bindungsbeziehung und deren Gelingen. Noch differenzierter betrachtet geht es um „kontingente (also passende/angemessene) und markierte Spiegelung und das „Spiel mit der Realität“. Wir sehen dazu einen kleinen Beispielclip über eine Mutter – Kleinkind Interaktion, in der schön zu sehen ist, wie sich Mutter und Kind aufeinander einstimmen. Die Mutter nimmt die Äußerungen des Kindes auf und gibt sie leicht variiert zurück.
Falls diese Art der Abstimmung in der Beziehung nicht ausreichend erfahren wird, führt der eine Wegzu einer Hyper-Aktivierung des Bindungssystems, was zu einer unsicher-ambivalenten Bindung führt. Der andere Weg wäre die Hypo-Aktivierung. Diese mündet in die unsicher-vermeidende Bindung. Die letztere ist hoch korreliert mit der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die erstere mit der Borderline Persönlichkeitsstörung.

Wie gehen Betroffene damit um?

Was hat das mit den Patient*innen zu tun? Erwachsene mit entsprechenden Bindungserfahrungen erleben unbewusst Bindungsstress, sobald sie in Beziehung treten. In einem gewissen Ausmaß sind sie in der Lage, Kontrolle über sich auszuüben, aber ab einem bestimmten Umschaltpunkt beginnen sie unkontrolliert zu handeln.
Zur Anschauung schildert uns Herr Euler eine kleine Fallvignette von einer Gruppensitzung. Darin zeigt sich, dass Beziehungsstress nicht erkannt (mentalisiert) und damit auch nicht ausgesprochen werden kann. Stattdessen beginnt der Patient körperlich zu agieren.
Die Betroffenen wären keine Menschen, wenn sie nicht Auswege aus dieser Situation kennen würden. Insbesondere drei Strategien sind bekannt.

1. Der Teleologische Modus – ins Handeln gehen
2. Der Äquivalenz Modus – die innere Wirklichkeit mit der äußeren gleichsetzen
3. Der Als-ob Modus – Abkapselung und so tun, als ob man noch in Beziehung wäre

Wir nähern uns langsam dem Ende des Vortrags und bekommen noch einmal ein Zitat von Fonagy zur MBT: „Ein einfaches Set von Prinzipien, das Wohltat maximiert und Leid minimiert …“ (Übersetzung B.L.)

Therapeutische Herangehensweise

Und natürlich: „Die Haltung des Therapeuten ist von entscheidendem Stellenwert.“ Diese Haltung lässt sich als „Haltung des Nicht-Wissens“ und als „Zusammenarbeits-Haltung“ beschreiben.
Das Interventionsspektrum der MBT wird uns noch einmal im Überblick präsentiert:

• Empathisches Validieren (Wertschätzen)
• Herausfordern z.B. durch neugieriges Nach- und Hinterfragen
• Die Affekte herausarbeiten, die in Verhalten oder in Handlungen verborgen sind, die Gefühle identifizieren und ihren Kontext ermitteln
• Affekte, die in der Sitzung auftreten identifizieren und gemeinsam einordnen
• Mentalisieren, also bewusst machen des Geschehens in der Beziehung von Therapeut und Klient

Der Bindungsstress lässt nach, wenn die Fähigkeit zu Mentalisieren weiter entwickelt ist.
Wir werden wieder einmal daran erinnert, dass die therapeutische Beziehung der robusteste Wirkfaktor von Psychotherapien darstellt und dass die Qualität der Therapieallianz durch Empathie, Wertschätzung, Zielkonsens und Zusammenarbeit steigt. Damit ist auch eine Warnung an erfahrene und spezialisierte Therapeut*innen verbunden. Sie laufen nämlich Gefahr, die Mentalisierung ihrer Patient*innen auszuschalten, weil sie als Experten schon alles wahrnehmen können.
Der Vortrag endet mit einem Filmausschnitt von einem „Gespräch“ zweier Kleinkinder.
Viel Beifall für diesen sehr fundierten Vortrag