Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 15.01.19 von: Giovanni Maio Prof. Dr. med. M.A., Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg: „Das echte Gespräch als Grundlage allen Heilens“
In einem völlig überfüllten Audi Max beginnt Herr Maio seinen Vortrag mit der Feststellung, dass das Gespräch die Grundlage allen medizinischen Handelns ist. Das Gespräch sei natürlich nicht alles, aber ohne Gespräch sei eben alles nichts. Warum ist das so? Was macht das Gespräch so wichtig? Es steht im Zentrum aller hilfsbedürftigen Menschen, die sich an Vertreter der Medizin – Ärzte, Schwestern, Pfleger etc. – wenden. Ein Gespräch ist keine Diskussion, kein Gerede, keine Unterhaltung. Aber was macht ein Gespräch zu einem Gespräch? Worauf kommt es an. Herr Maio möchte dies in fünf Punkten erläutern.
Was ist ein Gespräch?
1. Ein Gespräch ist Verständigung
Der Wunsch verstanden zu werden trifft auf die Bereitschaft, verstehen zu wollen. Verstehen wollen ist die Haltung, den Anspruch des anderen zu vernehmen. Der Andere erfährt Anerkennung als Anderer, der noch unbekannt ist. Durch Ansprechbarkeit öffnet sich der Raum des Gesprächs für Unvorhersehbares, Überraschungen können auftreten, denn ein echtes Gespräch ist die Produktion von etwas Neuem.
2. Ein Gespräch ist Antwort geben
Es ist eine Antwort für den Anderen, es gibt keinen festen Plan dafür. Gespräche sind eine „responsive Arbeit“. So gesehen sind medizinische Berufe antwortende Berufe. Sie antworten auf den Appell, den der Kranke alleine durch seinen Zustand äußert. Die Antwort ist eine Verantwortung. Es besteht ein inneres Verlangen dem Patienten gerecht zu werden – aufgerufen zu sein. Es ist fatal, wenn dafür keine Zeit vorhanden ist. Das Gespräch selbst ist die Antwort für den Patienten – nicht seine Frage, sondern der Fragende selbst.
3. Ein Gespräch ist ein Ereignis
Ein Gespräch kennt keinen festen Ablauf, es ist ein lebendiges Ereignis. Gespräch sind ungewiss und unvorhersehbar, denn was darin geschieht ist gewissermaßen ein dialogisches Ausgeliefert-Sein. Die Interaktion zwischen zwei Menschen erzeugt eine Eigendynamik, deren Eigenleben einen eigengesetzlichen Verlauf nimmt. Die Begegnung öffnet einen Raum, in dem der „Geist des Gesprächs“ sich entfalten kann. Es ist ein unerzwingbares Ereignis, das von Seiten der Helfer mit behutsamen Entgegenkommen begünstigt werden kann.
4. Ein Gespräch ist Wechselseitigkeit
In einem Gespräch herrscht die Freiheit des Wortes. Es gibt darin keine Abhängigkeiten sondern es beruht auf Gegenseitigkeit. Keiner kann das letzte Wort haben. Im Gespräch ergeben sich nicht objektivierbare Befunde. Diese sind zwar ebenfalls wichtig und fordern auch Anerkennung, aber erst das bedeutsame Gespräch vervollständigt die Situation. Denn in ihm erfahren wir etwas vom Lebensweg und der Geschichte des Kranken, etwas von seiner Situation und von seinen Erwartungen. Dazu braucht es die Begegnung auf Augenhöhe. Auch der Mediziner kann von jedem Patienten noch etwas lernen, wenn er bereit ist, sich ansprechen zu lassen. Das Zustandekommen eines Gespräch ist wie das „gemeinsame Anstimmen eines Lieds“.
5. Ein Gespräch ist ein Erlebnis
In einem echten Gespräch werden nicht Fakten rekapituliert. Es ist eine Erfahrung, die Spuren hinterlässt. Die Beteiligten nehmen etwas davon mit, bewahren etwas auf. Der Prozess der Teilhabe schafft persönliche Beteiligung und Bindung.
Was bedeutet ein Gespräch?
Wie sieht es nun mit der Bedeutung des Gesprächs aus? Auch dazu präsentiert uns Herr Maio fünf Punkte.
1. Das Gespräch hält die menschliche Vielschichtigkeit offen
Die objektiven Befunde eines Kranken betreffen nur eine Schicht. Der Mensch ist aber eine Person, die Ambivalenzen und Brüche kennt, widersprüchlich denkt und handelt und immer im Fluss ist. Tatsachen. Befunde und Diagnosen werden einer Person niemals gerecht. Für eine Person bedarf es einer „Restauration der Besonderheit“.
2. Das Gespräch entfaltet eine verpflichtende Kraft
Im echten Gespräch nehmen sich die Sprechenden beim Wort. Gesagt ist gesagt und damit wird etwas versprochen. Die Personen stehen zu ihren Worten. Anders als im Klinikalltag, der die unpersönliche Ansprache kennt, übernehmen Gesprächsteilnehmer Verantwortung für das Gesagte. Dies kann Ängste lösen, und das Gefühl von getragen-sein begünstigen. Eine solche Begegnung ist kein Vertrag, denn sie ist persönlich und unvorhersehbar. Ein Gespräch kann nicht in einen Algorithmus verwandelt werden, denn es findet immer neu im Hier und Jetzt statt. So können zwei Patienten mit demselben Befund in völlig verschiedenen Situationen sein. Nur in der Gesprächssituation kann sich der Patient als Individuum gewürdigt finden.
3. Das Gespräch ist ein Gemeinschaftserleben
Es ist ein gemeinsames Produkt. In der „zwischenleiblichen“ Begegnung entsteht eine Gemeinsamkeit durch die Suche nach Verständigung, so dass Verständnis und Gemeinsamkeit miteinander entstehen. Füreinander und Miteinander erleben die Partner „Stimmigkeit“ und Resonanz. Dies kann zu Erneuerung führen.
4. Das Gespräch stiftet Eigengesetzlichkeit
Tatsachen werden im Gespräch verwandelt, sie erhalten eine neue Gestalt und werden aus anderen Perspektiven wahrgenommen. Vage Gefühle und Stimmungen verdichten sich darin. Durch die Auswahl aus allen Möglichkeiten, was gesagt werden könnte, entsteht etwas Neues, so wird es möglich, sich selbst anders zu betrachten.
5. Das Gespräch ermöglicht Transformation
Das gegenseitige Anerkennungsverhältnis begünstigt Verwandlungen. Es fördert die Selbstachtung, lässt einen die eigene Wichtigkeit erleben. Wie auf einem Podest erfährt der Patient eine Aufwertung durch Zuwendung. So kann ein Gespräch erleichtern, entlasten und reinigen. Es kann versöhnen, indem es den Konflikt in der Sprache aufbewahrt. Ein solches Gespräch kann Übereinstimmungen erzeugen und Gegensätze versöhnen. Es kann dabei helfen, die Fremdheit des Krank-Seins zu überwinden und es kann eine „Brücke über den reißenden Strom der Andersheit“ bauen. Ein echtes Gespräch führt zu Zuversicht und Zutrauen.
Fazit
Zum Abschluss stellt Herr Maio noch die Frage, was das nun für die Medizin bedeutet.
Er beklagt die Bürokratisierung und den Effizienzwahn, der die Medizin befallen hat. Auch dass die notwendige Zeit für Gespräche als dysfunktional angesehen wird kann ihm nicht gefallen. Gespräche lassen sich nicht einplanen. Sie brauchen ihre Eigenzeit, die ihnen mehr und mehr verwehrt wird. Die zunehmende reine Zweckrationalität in der Medizin, macht Gespräche, bei allem technischen Fortschritt, eher schlechter. Gespräche sind nicht im eigentlichen Sinn Handlungen oder Aktionen. Solche verhindern eher, dass ein Gespräch geführt werden kann. Gespräche finden in einer ausgezeichneten Zeit des Nicht-Handelns statt. Die Betriebsamkeit ist außer Kraft gesetzt. Das Gespräch schwebt über dem Pragmatischen – es ist beruhigend, hält die Zeit an, bietet Sammlung, Ruhe und Muse. Das erfordert Geduld und Respekt, die Loslösung von der Ich-Perspektive und eine unaufdringliche Demut. Gespräche sind ein Wert an sich, der in der Medizin wieder aufgewertet werden müsste.