Die Psychosomatik erkundet Schmerz und Subjekt

Der Schmerz und das Ich

„Schmerz und Subjekt – Medizinisch anthropologische Überlegungen“

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Dr. med. Johannes Picht, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Psychoanalyse, Schliengen

Einleitung

„Ärzte und Therapeuten sollten sich mit dem Schmerz besonders gut auskennen, da es eine ihrer ersten und vornehmsten Aufgaben ist, Schmerz zu lindern.“ Geht es dabei um Wissen über den Schmerz, oder das Wissen vom Schmerz? Dies ist ein Unterschied, denn vom Schmerz weiß nur, wer ihn erfahren hat. Das ist der Patient und der Therapeut muss ihm glauben, bzw. kann er sich evtl. auf eigene Schmerzerfahrungen stützen. Glauben ist dabei nicht gleichbedeutend wie für-wahr-halten.
Schmerz zu objektvieren stößt an eine Grenze, denn Schmerz ist kein Befund und keine Untersuchung kann den Abgrund zwischen dem Befund und dem Leiden überbrücken. Die Schmerzen seien subjektiv, heißt es. Wer aber ist das Subjekt und was hat es mit dem Schmerz zu tun? Er Psychoanalytiker ist kein Arzt. Er muss auf den Schmerz hören können – was macht er dabei, wie macht er das? Das Subjekt hat Schmerzen. Der Arzt macht sich auf die Suche nach der Schmerzursache. Der Schmerz kommt in dieser Betrachtung quasi von außen zum Subjekt. Wie ist das Verhältnis von Schmerz und Subjekt? Herr Picht formuliert folgende These: „Der Schmerz konstituiert und vernichtet das Subjekt.“ Medizinisch wird die Bewältigung des Schmerzes versucht. Aber. das sog. „Subjekt“ ist gegen das verbreitete Alltagsverständnis ein sozial konstruiertes. Das will uns der Vortragende in einigen Punkten erläutern.

1. Zum Begriff des Subjekts

Das Subjekt, erfahren wir zunächst, kann auf zweierlei Arten verstanden werden – als der Träger der Eigenschaft Schmerz (grammatikalisches Subjekt), und philosophisch betrachtet ist dieses Subjekt etwas Bleibendes. Und, das Subjekt ist auch der, der sagen kann: „Ich habe Schmerz.“ Denn der Mensch ist das Wesen, das Sprache und logisches Denken verwendet.
Das Subjekt der europäischen Aufklärung ist ein Kulturprodukt – Es verfügt über ein individuelles Ich, das mit Würde, Autonomie, Freiheit und Verantwortung ausgestattet ist. Es ist ein Subjekt der Vernunft mit Rechten und politischen Pflichten. Von ihm wird ein permanentes geschlossenes Identitätsbild gefordert. Es ist verantwortlich für sein sog. Inneres. Dabei muss ein autonomes Subjekt problematische Aspekte seines „Inneren“ vor sich selbst und vor anderen verbergen. Jede Erfahrung wird subjektiv, wird zu einer Erfahrung eines Subjekts. Wie können dann aber Erfahrungen überhaupt kommuniziert werden? Weil wir nicht nur Einzelwesen sind, sondern auch ähnlich wie andere. Zu einem autonomen Subjekt können wir erst durch die Anerkennung vonanderen werden.

2. Wer wird Subjekt?

Das Ich ist kein vorgegebener Zustand. Subjekt-Sein ist eine Eigenschaft, die erworben und verloren werden kann. Wem kommt diese Eigenschaft zu und wie geschieht das? Victor von Weizsäcker, ein Pionier der psychosomatischen Medizin, haderte mit diesem Begriff. Er plädierte für eine „Medizinische Anthropologie“ und formulierte: „Die Dinge der Seele (z.B. das Ich) kann man mit Begriffen, wie mit der Zuckerzange fassen und wegtun und trotzdem ist noch jemand da, der ruft. […] Das Ich-Märchen vom Menschen wird ein Ende finden.“ Herr Picht weist darauf hin, dass es das Subjekt-Märchen ist, das womöglich ein Ende finden wird.
Das Subjekt wird als gesunder Organismus betrachtet. Krankheiten und Schmerzen sind in dieser Betrachtung nichts anderes als vergängliche Eigenschaften. „Im Schmerz ist aber das enthalten, dass etwas nicht sein soll, was doch ist und dieser Widerspruch von sollen und Da-sein ist die eigentliche Wirklichkeit des Menschen als Kreatur.“ Der Mensch als Kreatur und als Geschöpf ist mit seinem Sollen auf die Zukunft ausgerichtet. Das er nicht so ist, wie er sein soll, macht sein Leben aus. Der Mensch ist in der Zeit, denn Menschen sind nicht zeitenthoben, also keine Bleibenden. Dabei wird „Sollen“ im Sinne von Werden verstanden, als Entfaltung der biologischen Anlage.

3. Subjekt und Umgebung

Das Subjekt wird Ich-haft gedacht. Die Ich-Anlage als biologische Anlage. Genauer betrachtet muss dieses Ich sich ständig neu aufbauen. Dabei ist es auf interaktionelle Bestätigung angewiesen – es benötigt einen sozialen Stoffwechsel.
Dagegen leistet das Ich Widerstand. Aber es gibt kein Ich ohne ein Du, denn es ist immer ein Du, das ein Ich erwartet, es erkennt und versorgt. Dabei ist das Du immer anders als das Ich. Es kann kein Ich geben, ohne schmerzlich erlittene Bedürfnisspannung. Es gäbe kein Ich, ohne den Schrecken der Differenz, denn ständige unmittelbare Bedürfniserfüllung könnte keine Subjektivität entstehen lassen. Dieser Zusammenhang wird vom Ich allerdings verleugnet, indem die Illusion von Autonomie aufgebaut und gehegt wird. Das Ich entwickelt einen Widerstand gegen die Abhängigkeit vom Du und doch bleibt das Subjekt unhintergehbar ein Produkt einer speziellen Beziehung.

4. Aus der Behandlung eines Schmerzpatienten

Herr Picht schildert uns die Begegnung mit Frau B. Sie ist etwa fünfzig Jahre alt, gebeugt, leidet unter heftigen Rückenschmerzen, die sie als unerträglich schildert. Herr Picht fühlt sich unter Druck gesetzt. Frau B bringt großes Vertrauen auf und kommt mit einer enormen Erwartungshaltung zu ihm. Sie ist Arbeiterin und will auch weiterarbeiten. Dann ist sie weg von der Familie. Sie will trotzdem Rente beantragen. Die Widersprüchlichkeit dieser Anliegen fällt ihr nicht auf. Sie beginnt die Stunden immer mit Klagen über ihre Schmerzen und den nachlässigen Hausarzt, der sich nicht wirklich um sie kümmert. Ihr Therapeut fühlt sich in großer Bedrängnis und er fühlt sich ohnmächtig. Der verstehende Ansatz ist für Frau B. nicht nutzbar. Sie sagt, sie habe kein eigenes Leben in ihrer Familie – ihr Mann sei ein religiöser Eiferer, ihre Tochter zwanghaft, ihr Sohn parasitär. Sie verlangt immer wieder zu wissen, was sie tun soll. Herr Picht wird dann manchmal ungeduldig und fordernd. Die Beziehung droht ihn zu überwältigen. Er hofft darauf, dass die therapeutische Beziehung für Frau B. die Erfahrung bringt, dass Beziehung als nicht überwältigend erfahren werden kann.

5. Der Schmerz und der Arzt

Was haben Schmerzen nun mit der Interaktion zu tun? Die erste Erfahrung mit Interaktion ist schmerzlich, denn es ist die Erfahrung der Differenz zum Du . Die Differenz führt zur Vereinzelung und diese gehört zum Wesen des Schmerzes. Der Schmerz ist ein Affekt, zu dem auch Unruhe gehört und Unruhe kann überlasten. An der Grenze zur Überlastung entsteht dann Angst. Das aufkeimende Ich versucht, diese Unruhe zu bewältigen, indem es  seinen Schmerz äußert – die Äußerung soll zur Beteiligung zwingen und wer sich beteiligt wird selbst unruhig. Das Bild der Schwester, die den weinenden Bruder tröstend berührt, ist ein Urbild therapeutischer Tätigkeit.
Die ärztliche Herangehensweise wäre die Betäubung, natürlich nicht, ohne die Ursache der Schmerzen zu kennen. Das ist aber gleichzeitig die Distanzierung vom Leiden. Die zu Ursachen kennen, ist keine Linderung.

Aus dieser Betrachtung ergeben sich zwei mögliche Wege. Zum einen eine Diagnose stellen – Schmerz als umschriebenes Ding zu verstehen. Das vergleicht Herr Picht mit einem Tempelbau mit Sakralbauten – Krankenhäuser, Kurkliniken, medizinisches Spezialistentum etc. In der Folge verleiht die Diagnose den Erkrankten eine Identität. Aus einem Innenleiden wird ein Außenleiden. Nicht selten entsteht ein Kampf mit den Schmerzen und dieser kann zu einem stillen, gegenseitigen Hass werden.

Oder zum anderen – Den Menschen aufnehmen und beharrlich daran arbeiten, die gemeinsame Unruhe zu transformieren. Daraus kann ein gemeinsame Narrativ entstehen, dass eine neue Identität, ein neues Selbstverständnis ermöglichen kann. Aber diese Transformation ist beunruhigend, ja beängstigend. Sie kann Patient*innen überfordern und nicht selten brechen sie ihre Therapie ab – so auch Frau B.

Schlussbemerkungen

In seiner Schlussbetrachtung führt Herr Picht noch einmal die verschiedenen Gedankengänge zusammen. Er postuliert für die Momente der Begegnung von Arzt und Patient den Moment der inneren Unruhe, der von beiden Beteiligten geteilt wird. Die Strategie der objektivierenden Diagnose stellt dann wieder eine Distanz zum Leiden her, die vor allem für den Helfer wichtig ist – die Krankheit wird zu einem benennbaren Ding, mit dem umzugehen ist.

Schmerz ist aber die Empfindung auf der Grenze zwischen Überwältigung und Distanz in der Interaktion. So verstanden, kann Schmerz als rudimentäre Subjektivität betrachtet werden, die sich in Beziehung zu einem Ich entwickeln mag und doch dabei stecken bleibt.
Ein sehr tiefgründiger Vortrag, den ich mir sicher noch einmal anhören werde.

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Die Psychosomatik erkundet Nähe und Distanz

Nähe und Distanz bestimmen

Bericht vom Festvortrag zum 80. Geburtstag von Tilman Moser
„Probleme von Nähe und Distanz in Psychotherapie, Psychoanalyse, Traumatherapie, sowie in Medizin, Beratung, Seelsorge und Pädagogik“

Tilman Moser ist ein besonderer Pionier der körperorientierten Psychotherapielandschaft. Als Psychoanalytiker begann er schon früh in seinen Analysen, den Körper mit einzubeziehen. Damit hat er sich in seinem Kollegenkreis viele Anfeindungen und Kritik eingehandelt. Befürchtet und beschworen wurden immer wieder die Gefahren von Manipulation und Sexualisierung durch den Therapeuten. Er ist seinem Weg aber treu geblieben und hat seine Erfahrungen in zahlreichen Veröffentlichungen einem interessierten Publikum nahe gebracht. In vielen seiner Bücher geht es um Berichte von Therapieverläufen und deren analytisches und technisches Verständnis.

Therapeutische Herausforderungen bei Berührung

Auch der heutige Vortrag ist ähnlich konzipiert. Was geschieht in einer Therapie, wenn Berührungen, also größte körperliche Nähe, als Interventionen vorkommen? Was kann es für die Patienten bedeuten und was für die Therapeuten? Welche Übertragungsebenen werden angesprochen und welche Dynamiken damit angestoßen?
Moser beschreibt noch einmal kurz den Körper als Speicher von Erinnerungen, auch solche von Berührungen – zärtliche, schöne Berührungen, die vielleicht bis in die Baby Zeit zurückreichen. Aber es gibt natürlich auch Erinnerungen an Gewalt, Schmerz und Angst, die, wenn sie angestoßen werden, Flashbacks (blitzartig auftauchende Schreckensbilder) auslösen können.

Ambivalenz von Nähe und Distanz

Nach Mosers Eindruck haben viele Therapeuten selbst eine Geschichte von Nähe Mangel. Dadurch geraten sie leicht in Gefahr, sich unbewusst selbst etwas Gutes tun zu wollen, wenn sie Berührungen anbieten. Die andere Richtung, die ein Nähe Defizit mit sich bringen kann, ist Angst vor Nähe – Angst vor Verschmelzung, Angst vor Sexualisierung. Diese Gefühle werden als Unsicherheit spürbar.
An dieser Stelle betont er, wie wichtig die gründliche Eigentherapie und Selbsterfahrung für Körpertherapeuten ist. Die Nähe, die eine Verschmelzung mit der Mutter bietet, ist hilfreich und wichtig für Babys und ihre weitere Ich Entwicklung. Diese Art von Nähe fühlt sich freilich ganz anders an, als die eines Kleinkindes, eines älteren Kindes oder gar die der Sexualität. Körpertherapeuten sollten diese Unterschiede am eigenen Leib aus Erfahrung kennen.

Fallbeispiel

Nun präsentiert er uns ein Beispiel aus seiner Praxis mit dem Titel: „Der Preis der Verstoßung aus der Therapie“. Eine Klientin hatte eine gute Arbeitsbeziehung zu einem Therapeuten aufgebaut. Als sie ihm im dritten Jahr der Therapie ihre Verliebtheit in ihn beichtet bricht der Therapeut die Arbeit ab. Diese Erfahrung stürzt sie in eine tiefe Krise Sie hat Bücher von Moser gelesen und möchte nun eine Stunde bei ihm haben. Sie dirigiert quasi den Ablauf der Stunde, gestaltet Art und Timing von Handkontakten, tauscht den Platz mit Moser und erzählt erst dann etwas von ihrer Geschichte (die ich an dieser Stelle nicht ausbreite). Sie fühlt sich nach dieser Stunde „geheilt“ – hat den Eindruck ihr „Verstoßungstrauma“ mit einer Berührung überwunden zu haben.

Probleme des „klassischen Settings“

Nun erinnert uns Moser an Freuds Unbehaglichkeit mit Augenkontakt. Das klassische Analyse Setting, mit Couch und Sessel hinter dem Kopfende, lässt diesen nicht zu. Es ist optimal um eine vollständige Kontrolle über Nähe und Distanz zu erlauben. Es kann Verlassenheitsängste auslösen und in manchen Fällen die Therapie erschweren oder verunmöglichen. Allerdings hat es auch Vorteile, wenn Klienten nicht sofort an der Mimik des Therapeuten ablesen können, was dieser zum Mitgeteilten fühlt oder denkt.

Noch ein Fallbeispiel

Es folgt ein weiteres Fallbeispiel – „Das Drama einer Liebesnacht“. Anhand dieser Geschichte möchte Moser uns die große Rolle des Augenkontakts, der innigen Berührung durch Blicke nahebringen. Die Klientin war für beide Eltern vom „falschen“ Geschlecht, deshalb bekam sie keine liebevollen Blicke, mitunter gar keine Blicke und erst als sie etwa drei Jahre alt war, gelang es ihr, ihren Vater für sich zu interessieren. Allerdingst verstieß dieser sie letztlich wieder von seinem Schoß. Sie hatte es schon geschafft, zwei Analytiker zu verführen und damit ihre therapeutischen Ziele zu verfehlen. Erst mit Herrn Moser kommt sie an die Blickerinnerungen des neugeborenen Kindes, an den Horror des feindseligen, bzw. enttäuschten Blicks und erarbeitete im Anschluss die allmähliche Integration des freundlichen Blicks. So gewann sie nach und nach auch eine selbstbewusste und unabhängige Steuerung ihrer Blickqualitäten.

Möglichkeiten der Nähe

Als weitere Themen der Nähe Regulation referierte Herr Moser:

  • die Verwendung von Gesten und deren potenzielle Mehrdeutigkeit. In manchen Familien so vieldeutig, dass die Kinder darüber sehr verwirrt und verunsichert sind
  • der Umgang mit Aggressionen, die Möglichkeit durch Kämpfe Nähe zu erleben und die Mischformen von Zärtlichkeit und Aggression
  • die Rolle der Körperempfindungen, die oft die einzige Spur zu den Erinnerungen sind, die aber so häufig widersprüchlich und schwierig zu entziffern sind

Zum Ende appelliert Herr Moser noch einmal an alle anwesenden Therapeut*innen sich mit ihren jeweiligen Schulen nicht zu sehr zu identifizieren, voneinander zu lernen und die wertvollen Möglichkeiten von Körperarbeit und Psychotherapie weiter zu entwickeln.