Die Psychosomatik erkundet Psychosen

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Tania Lincoln, Universität Hamburg: „Psychotherapie bei Wahnsymptomen. Ist das verrückt?“

Einführung

Frau Lincoln möchte uns die neuesten Entwicklungen für die Psychotherapie von Psychosen vorstellen. Dazu möchte sie uns zunächst aber mit einigen grundlegenden Merkmalen der Psychose vertraut machen und das sind zunächst die Wahnsymptome. Das sind:

„Falsche Überzeugungen, die gewöhnlich mit einer Fehldeutung von Wahrnehmungen oder Erfahrungen einhergeht.“

Als Beispiele wählt sie Beziehungsideen, den Verfolgungswahn und den Größenwahn.
Beziehungswahn bedeutet, dass die Betroffenen Dinge auch sich beziehen, z. B. Zeitungsmeldungen oder auch das Getuschel der Nachbarn. Damit eng verwandt ist der Verfolgungswahn, der die Überzeugung beinhaltet, dass andere mit bösen Absichten hinter einem her seien. Größenwahn beschreibt Vorstellungen, die beinhalten, dass man z. B. Jesus, Napoleon o. ä. sei.
Wahnvorstellungen sind sehr typisch für Psychosen. In 80 % aller Erkrankungen kommen sie vor.

Stand der Dinge

Diesen Abschnitt leitet Frau Lincoln mit dem Brief einer Mutter ein. Darin beklagt die Mutter, dass ihre Tochter seit fünf Jahren stationär untergebracht ist und dass in dieser Zeit kaum eine Psychotherapie stattgefunden habe. Die Begründung dafür lautet, dass eine Psychotherapie erst nach dem Abklingen der Positivsymptome sinnvoll sei.
Diese Ansicht vertreten derzeit noch viele in der Psychiatrie tätige Menschen. Als Beleg dafür weist uns die Referentin einen Wochenplan vor, der für psychiatrische Patienten gerade eine halbe Stunde Gespräch, das nicht unbedingt psychotherapeutisch sein muss, einplant.
Ähnlich schlecht sieht es in der ambulanten Versorgung aus. Zu erwarten wäre ein Anteil von 9 % in den Praxen, tatsächlich macht der Anteil von Betroffenen gerade einmal 2,6 % aus. Sie schließt daraus, dass die Psychotherapie von Psychosen noch keine gängige Praxis im deutschen Versorgungssystem sei. Das führt sie zur Frage, warum das so ist.

Grundannahmen über Wahn

Dazu bekommen wir ein Zitat von Karl Jaspers:

„Bei Symptomen wie Wahn handelt es sich um <<gänzlich fremde erlebniswelten>>. Es ist unmöglich, einen Wahn in seiner Genese zu verstehen.“

Diese Sichtweise herrschte lange vor und kann erklären, warum es kaum Versuche gab, einen psychotherapeutischen Zugang zum Wahnerleben zu erlangen. Wahnerleben scheint außerhalb der allgemeinen psychologischen Theorien zu liegen und damit erscheint es wenig aussichtsreich.

Alltägliche Gedanken

Aber stimmen die Annahmen von Karl Jaspers überhaupt? Ist Wahn tatsächlich gänzlich fremd? Liegen uns paranoide Gedanken tatsächlich so fern? Frau Lincoln lädt und ein, das einmal bei uns selbst zu überprüfen, indem wir uns fragen: Müssen Sie sich davor schützen, von anderen ausgenutzt oder verletzt zu werden? Oder: Entdecken Sie manchmal versteckte Drohungen oder Beleidigungen, in dem, was andere sagen? Ihre Annahme ist, dass vielen Menschen solche Gedanken zumindest ansatzweise vertraut sind. Es gibt dazu auch eine Statistik, die besagt, dass 28,1 % der Bevölkerung Misstrauen kennt, 19 % Beziehungsideen und 9 % Verfolgungsideen.
Gänzlich fremd erscheinen Wahnideen also keinesfalls. Die Thematik lässt sich als Pyramide darstellen. An deren Basis, die viele Menschen umfasst, finden sich Ängste vor Zurückweisung, darüber, weniger Betroffene erfassend, Gedanken über Beziehungsideen, noch höher findet sich ein mildes Bedrohungsgefühl, darüber noch ein moderates Bedrohungsgefühl, das Ausweichmanöver begründet und ganz an der Spitze sind dann die wenigen Menschen, bei denen starke Bedrohungsgefühle bis hin zu Verschwörungstheorien zu finden sind.
Diese Häufigkeit bestärkt die Referentin in der Annahme, dass Wahn nicht so fremd sein kann, wie Jaspers es annahm und weiter, dass Wahn im Spektrum der psychologischen Möglichkeiten liegt und damit auch ein psychotherapeutischer Zugang möglich erscheint.

Kognitive Verhaltenstherapie

Der Grundgedanke der Kognitiven Verhaltenstherapie ist sehr schlicht. Jedes Ereignis führt zu einer Bewertung, die wiederum zu einer Reaktion führt. Wenn ich z. B. mitbekomme, wie meine Nachbarn miteinander tuscheln, könnte ich auf die Bewertung kommen, dass sie über mich tuscheln und das würde mich dann vielleicht dazu bringen, mich in meine Wohnung zurückzuziehen.
Dieser Ansatz hat sich für die Behandlung etlicher Depressionen sehr bewährt. Durch die psychotherapeutische Bearbeitung der Bewertungen kann die Psychotherapie erfolgreich sein. Was lag also näher, als dieses Modell auch auf Wahnsymptome anzuwenden.
Es hat sich dann herausgestellt, dass es doch nicht ganz so einfach ist. In der Behandlung psychotischer Patienten braucht es sehr viel mehr Vorarbeit, bevor man die „kognitive Umstrukturierung“ beginnen kann. Dieser Ansatz wird seit den 90er Jahren verfolgt und wird seither verfeinert. Damals war es quasi eine Sensation und heute gilt er schon als alter Hut, so Frau Lincoln.
Inzwischen gibt es Leitlinien und Manuale zur Behandlung z. B. von Schizophrenie. Deren Wirksamkeit wird natürlich ebenfalls erforscht und diese Forschung ergab, dass die VT kurz- und langfristige Effekte auf die Symptomatik hat. Allerdings schüttet Frau Lincoln gleich ein wenig Wasser in den Wein, denn Follow-Up Studien konnten die ohnehin schwachen Effektstärken nicht immer finden und der Effekt auf das Wahnerleben, war ohnehin sehr gering.

Wahn und Lebensverhältnisse

Das spornt die Vortragende an, nach besseren und wirkungsvolleren Möglichkeiten zu suchen um Psychosen zu behandeln. Also zurück zum zweiten Teil von Jaspers‘ Aussage, dass Wahn unmöglich zu verstehen sei.
Basierend auf der Erfahrung, dass Wahn prinzipiell veränderbar ist, liegt der Gedanke nahe, dass die Lebensverhältnisse eine Rolle bei der Wahnbildung spielen könnten. Wenn man nun noch die psychologischen Mechanismen identifizieren könnte, die von misslichen Lebensumständen zu Wahnvorstellungen führen, dann könnten daraus neue therapeutische Strategie entstehen.
Bekannt ist ebenfalls schon, dass psychotische Episoden häufig getriggert werden. Es gibt also soziale Stressoren, die den Ausbruch einer Wahnepisode begünstigen können.
Ebenfalls gut bekannt sind Risikofaktoren, die eine Erkrankung wahrscheinlicher werden lassen. Zu den Klassikern dieser Faktoren zählen Gen-Defekte und Gehirnschädigungen. Aber diese reichen bei weitem nicht aus, alle Wahnerkrankungen zu erklären, also müssen die sozialen Risikofaktoren unbedingt mitbedacht werden.
Eine Unvollständige Liste sozialer Risikofaktoren umfasst: Traumata, Migration, Mobbing, Diskriminierung, Minderheitenstatus, Geringes Einkommen, Aufwachsen in einer Großstadt … Betrachtet man diese Liste wird deutlich, dass die Betroffenen tatsächlich eine Menge negatives Feedback von ihrer sozialen Umwelt erhalten, also reale Erfahrungen von Zurückweisung bis Feindseligkeit vorhanden sind.

Zusätzliche Faktoren

Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass sich genetische und soziale Risikofaktoren addieren, also unabhängig voneinander wirksam werden können. Hinzu kommen auch noch biografische Vulnerabilitäten, wie z. B. Kindheitstraumen. Diese begünstigen eine psychotische Entwicklung, aber es sind dann immer die aktuellen Stressoren, die zu einem Ausbrauch führen.
Es liegt auf der Hand, dass soziale Stressoren nicht so einfach psychotherapeutisch zum Verschwinden gebracht werden können und dasselbe gilt für die Alltags-Stressoren.
Hier taucht dann die Frage auf, wie denn diese Zusammenhänge vermittelt werden. Wie machen Risikofaktoren jemanden anfällig? Was passiert auf dem Pfad zur Psychose? Wie also hängen Risikofaktoren, Vulnerabilität, Mediatoren mit aktuellen Stressoren und Wahnsymptomen zusammen?

Mechanismen der Wahnentstehung

Zunächst betrachtet Frau Lincoln auf welchen Wegen sich die Vulnerabilität bemerkbar macht bzw. übermittelt. Dazu möchte sie die affektiven, kognitiven und physiologischen Pfade etwas näher untersuchen.
Zu dieser Fragestellung hat sich auch selbst geforscht. Ein zentrales Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen aus Risikogruppen sehr ausgeprägt mit Angst reagieren, wenn sie unter Stress geraten. Diese Angst und die damit einhergehende vegetative Erregung sind als Vorläufer Symptome für Psychosen gut bekannt.
Damit ergeben sich neue Hinweise für die spezifische Vulnerabilität, nämlich dass Betroffene häufig Probleme mit der Emotions- und Stressregulation haben, was wiederum ein Hinweis auf belastende Kindheitserfahrungen ist.
Auch der physiologische Weg wurde schon erforscht und das zentrale Ergebnis besagt, dass Betroffen eine geringere Herzratenvariabilität aufweisen. Diese zeigt, wie schnell und vielseitig die Herztätigkeit auf verschiedenen Situationen reagiert. Eine geringe Variabilität findet sich sehr ausgeprägt bei Patienten mit Psychosen.

Emotionsregulation

Schaut man genauer auf die Strategien der Emotionsregulation, findet man bei Betroffenen sehr häufig dysfunktionale Strategien. Sie versuchen, die Gefühle zu unterdrücken oder kommen ins Grübeln und neigen zu Selbstbeschuldigungen. Gesunde Vergleichspersonen nutzen dagegen Ablenkung, Neubewertung oder Akzeptanz um wieder zur Ruhe zu kommen.

Das Gesamtbild

Wir sehen nun das ausgearbeitete Diagramm der Psychose Entstehung. Auf der Basis von genetischen Dispositionen, frühen Hirnschädigungen und sozialen Risikofaktoren stehen nun gestörte Emotions- und Stressregulation, die sich als Übergebrauch ungünstiger Strategien zur Emotionsregulation, sowie als gestörte psychophysiologische Selbstregulation zeigen. Diese begünstigen die Wahnsymptomatik sobald ein aktueller sozialer Stressor auftritt. Damit wären potenzielle therapeutische Ansatzpunkte klarer.

Therapeutische Erfahrungen

Frau Lincoln berichtet uns von einigen Therapie Studien, die auf der Grundlage dieses Modells durchgeführt wurden. Zum einen ging es um Achtsamkeit im Umgang mit Triggern und Sorgen in einem Kurzzeittherapie-Setting. Dies hat sich als gering hilfreich erwiesen.
Der Versuch, mithilfe von Bio-Feedback auf physiologischem Weg Einfluss zu nehmen, war nicht wesentlich erfolgreicher.

Noch mehr Faktoren

Bisher ging die Referentin noch nicht auf den kognitiven Pfad der Wahnentstehung ein, was sie nun nachholt. Kognitiv erfolgen die Bewertungen eines Ereignisses und die Bewertungsschemata entwickeln Menschen z. T. früh im Leben, meist durch die Eltern vermittelt. Es geht um die Art und Weise, sich selbst, die anderen und die Welt zu erleben und zu bewerten.
Hier zeigt die Forschung, dass Betroffene die Welt eher als gefährliche und unberechenbar erleben, sich selbst eher als schwach und wertlos und andere Menschen als stark. Gut erforscht wurde z. B. der negative Effekt von Stress auf den Selbstwert.
Damit wäre ein weiterer therapeutischer Zugang eröffnet – die Arbeit am Selbstwert. Die bisherigen Ergebnisse fallen allerdings auch hier bescheiden aus.
Also bezieht Frau Lincoln nun auch noch das Phänomen der Dopamin Dysregulation ein, denn es ist bekannt, dass dies sehr spezifisch für psychotische Erkrankungen ist. Dopamin Überschuss kann zu verzerrten Wahrnehmungen führen, was einer psychotischen Verarbeitung natürlich zuspielt.
Betroffene nehmen also einen eigentlich harmlosen Reiz bedrohlich wahr, die Angst nimmt relativ unreguliert zu und verunsichert zusätzlich. Nun sucht der Betroffene eine Erklärung für sein Erleben und die wahnhafte Erklärung kann ihm nun ein Gefühl der Erleichterung verschaffen.

Die Rolle des Denkstils

Diese ganze Dynamik wird gestützt und getragen von der Neigung der Betroffenen, schnelle Entscheidungen zu treffen. Diese Art des „schnellen Denkens“ ist gut bekannt bei psychotisch Erkrankten.
Das bringt nun eine neue therapeutische Möglichkeit ins Spiel – die Arbeit mit dem Denkstil. Im Ergebnis scheint es möglich zu sein, den Denkstil tatsächlich zu verlangsamen.

Rückzug und Vermeidungsverhalten

Ein weiteres Merkmal der Erkrankung ist, dass Betroffene sich ungern auf Augenkontakt einlassen. Weiter versuchen sie ihre Ängste mit Vorsorgemaßnahmen einzudämmen z. B. die Tür doppelt abzuschließen o. ä. Dieses Verhalten erleichtert kurzfristig führt aber langfristig immer tiefer in die Ängste.
Hier gab es psychotherapeutische Versuche in virtuellen Umwelten, die durchaus Effekte erzielt haben.

Neue Konzepte

Im Ergebnis gibt es nun eine ganze Reihe von Komponenten, die sich auch alle therapeutisch adressieren lassen, aber jede für sich nur geringe Effektstärke zeigt. Daraus ergibt sich der Gedanke: Könnte man nicht höhere Effektstärken erzielen, wenn alle Komponenten angesprochen würden? Und genau dieser Versuch wurde nun im „Feeling Safe Programm“ verwirklicht.
Es zielt auf Emotionsregulation und Verminderung von Sorgen, sowie auf eine Veränderung des Denkstils sowie das Schlafverhalten und den Umgang mit Stimmen. Das ganze Programm ist modular aufgebaut und kann an die spezifischen Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden.
Das Programm erzielt tatsächlich relativ hohe Effektstärken und ist inzwischen sehr anerkannt. Wir sehen noch den Werbeclip dazu.
Frau Lincoln schließt, wie sie angefangen hat mit Karl Jaspers. Diesen hat sie mit ihrer Präsentation widerlegt. Symptome von Wahn sind ein Erleben, das tatsächlich verstehbar ist.

Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet die Entwicklungspsychologie

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Stephan Doering, Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien: „Der Tanz mit dem Baby – entwicklungspsychologische Modelle der frühen Interaktion“

Herr Doering klärt uns zu Beginn darüber auf, dass er weder Bindungsforscher noch Kinder- und Jugendpsychotherapeut ist, sondern Psychoanalytiker und Psychotherapieforscher. Er möchte uns aber etwas zur Bindungsforschung und zur Interaktion zwischen Mutter und Kind berichten, weil die Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen sehr relevant für die Psychotherapie sind. Ich kann vorwegnehmen, dass Herr Doering uns die historische Entwicklung und Meilensteine der frühkindlichen Entwicklungspsychologie vorstellen wird.

Anfänge

Wir bekommen zunächst ein Diagramm präsentiert. Es stellt die allmähliche Ausbildung eines psychischen Raums beim heranwachsenden Baby dar. Die im Diagramm veranschaulichte Theorie nimmt noch an, dass es eine frühe Phase einer sog. „undifferenzierten Matrix“ gibt, die ein Baby erlebt. Diese werde als weitestgehend vegetativ erlebt, also ähnlich einer Pflanze.
Relativ bald wurde diese Betrachtung angegriffen bzw. durch besseres Wissen ersetzt. Insbesondere die Forschungsarbeiten von Daniel Stern revolutionierten die Vorstellungen über die Bewusstseinsvorgänge eines Babys.
Dann werden wir an das Buch „Der kompetente Säugling“ erinnert. Darin stellte Martin Dornes das entwicklungspsychologische Wissen dieser Zeit (1993) umfassend dar und glich es auch mit psychoanalytischen Modellen ab. Seither kann man davon ausgehen, dass Babys sehr wohl über eine gewisse Selbstwahrnehmung verfügen und dass sie sich an ihre Betreuungspersonen anpassen können.
Anhand dieser Grundlagen möchte uns Herr Doering nun die Arbeit von Beatrice Beebe und Frank M. Lachmann vorstellen. Beides sind Säuglingsforscher, die auf der Basis ihrer Einsichten die Relevanz insbesondere für die Psychoanalyse, im Weiteren aber auch für Psychotherapie insgesamt relevant halten. Das Eingangszitat dazu lautet:

„[…] weil sich die basalen nonverbalen Interaktionsprozesse so ähnlich bleiben, […] vermag [das] unser Verständnis der Analytiker-Patient-Interaktion zu vertiefen.“

Die Interaktionsprozesse verändern sich natürlich durch Sprache und Kognitionen, aber der nonverbale Grund bleibt dabei erhalten. Der Ansatz wäre also nun, vor diesem Hintergrund die folgenden Fragen zu beantworten: Was geschieht eigentlich in einer Psychotherapie? Was passiert jenseits der Worte? Herrn Doerings Forschungsarbeit besteht nun genau darin, zu versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Was ist eine Repräsentation?

Das klassische Verständnis dieses Begriffs umschreibt die Anwesenheit von etwas im Bewusstsein, das nicht real präsent ist. Die Hypothese dazu lautete immer, dass dafür so etwas wie symbolischen Fähigkeiten notwendig wären, also Sprachfähigkeit.
Nun hat sich aber herausgestellt, dass es auch präsymbolische Repräsentationen gibt. Diese lassen sich ab dem zweiten Lebensmonat feststellen und es geht dabei um Bilder, Töne und Geräusche sowie um Gerüche, die in Beziehungskontexten eine Rolle spielen. Diese bilden präsymbolische Repräsentanzen, die zum impliziten Beziehungswissen gezählt werden. Es wird angenommen, dass sie uns ein Leben lang erhalten bleiben.
Klassische Experimente, die diese Hypothese stützen, sind: Dass ein Säugling innerhalb von fünf Tagen nach der Geburt die Mutter am Geruch erkennen kann, nach nur drei Tagen die mütterliche Stimme und ihr Gesicht nach etwa zwei Tagen. Aus diesen Erkenntnissen wurde im Anschluss die Entwicklungspsychologie der Klein‘schen Objektbeziehungstheorie erweitert.

Implizites Beziehungswissen

Alle diese präsymbolischen Repräsentationen werden in Beziehungen erworben und bleiben für Beziehungen relevant, auch nachdem symbolische Repräsentanzen gebildet werden können. Es ist implizit-prozedurales (unwillkürliches) Beziehungswissen, das ein Stück weit unsere Erwartungen an und Handlungen in Beziehungen beeinflusst.
Daniel Stern hat diese Art von Wissen als RIGs „Representations of Interaction that have been Generalized“ bezeichnet. Diese umfassen Gefühle, Handlungen und Interaktionen in komplexen Mustern.

Synchronisierung

Wie bilden sich nun die präsymbolischen Repräsentanzen oder RIGs? Eine zentrale Rolle spielt dabei die Synchronisation, also die zeitliche Abstimmung zwischen Partner.

Bekannt ist das Phänomen der Fähigkeit des Säuglings, bereits wenige Stunden nach seiner Geburt die Mimik eines Gegenübers nachahmen zu können. Ob das bereits ein Effekt des Gesichts-Feedbacks ist (facial feedback) ist noch nicht geklärt.

Die Rolle des „Spiegelns“ hingegen scheint sehr viel eindeutiger geklärt. Es ist eine der häufigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind, dass wechselseitig Gesichtsausdrücke produziert und zurückgespiegelt werden. Diese Abstimmung erfolgt in Zeiträumen von Mikrosekunde, ist also hochdynamisch. Da Mimik aber auch zum Gefühlsausdruck zählt, findet hier auch schon eine Affektregulation und damit Aufbauprozesse eines Selbsts statt. Frau Beebe formuliert die Erfahrung so:

„Ich erlebe mich selbst als eine Person, die dir folgt und der du folgst.“

Ein weiteres Forschungsergebnis von Frau Beebe ist, dass eine zweieinhalbminütige Beobachtung einer Mutter-Kind-Interaktion (das Kind ist vier Monate alt), das Bindungsmuster mit einem Jahr vorausgesagt werden kann. Mithilfe einer guten Filmaufnahme dieser Interaktion lassen sich Spiegelungs-, Berührungs-, Handlungs- und Abstimmungssequenzen analysieren und auf ihre Angemessenheit und Synchronität prüfen. Gelingende Interaktionen muten an wie ein Tanz von Mutter und Kind.
Wir sehen nun eine kleine Videosequenz einer solchen Mutter-Kind-Interaktion, die das Gehörte eindrücklich illustriert. Dieses Beispiel dokumentierte eine gute Abstimmung zwischen Baby und Mutter.

Misslingende Abstimmung

Nun nennt uns Herr Doering einige Anzeichen, die für ein desorganisiertes Bindungsmuster sprechen. Die Kinder zeigen mehr Kummer in der Mimik, sie zeigen auch Abweichungen zwischen stimmlicher Äußerung und Affektausdruck, die Rhythmen sind schwer vorhersagbar und die Kinder berühren sich selbst weniger mit ihren Händen.
Die Mütter wenden ihren Blick häufiger ab, kommen aber auch häufiger besonders nah oder zu nah. Wenn das Kind Kummer zeigt, zeigen sie sich überrascht und eher positiv und sie können sich nicht gut zeitlich abstimmen. Sie versuchen stark ihre Mimik zu beherrschen und berühren ihr Kind eher unkoordiniert.
Zum besseren Überblick bekommen wir noch ein Diagramm, das uns die Zeitlinie der Synchronität darstellt. Diese beginnt bereits vorgeburtlich und macht in den ersten sechs nachgeburtlichen Monaten vor allem Erfahrungen in Interaktionen. Dabei hilft dem Baby ein angeborener „Kontingenz-Detektor“, denn es sucht nach wenn-dann Beziehungen.
Etwa ab dem neunten Monat entsteht so etwas wie Intersubjektivität und etwa ab dem ersten Lebensjahr beginn allmählich die Bildung symbolischer Repräsentanzen.

Abriss und Reparatur

Aber keine Harmonie hält ewig und es kommt auch immer wieder zu Abbrüchen und Missverständnissen. Wieder war es Daniel Stern, der dieses Phänomen neu gedeutet hat. Danach sind die Unterbrechungen und ihre Reparatur sehr wichtige Erfahrungen für den Säugling, denn er trainiert damit seine Toleranzschwelle und macht auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wenn es ihm gelingt, die Mutter wieder zum Tanzen zu bringen. Genauere Forschungen haben ergeben, dass nur 30 % der Zeit in Harmonie verbracht werden und während 70 % der Zeit eine gewisse Dissonanz vorherrscht.

Das berühmteste Experiment zu diesem Thema ist das „Still Face Experiment“. Darin bekommen Mütter die Aufgabe, drei Minuten lang ihre Gesichtszüge nicht zu verändern. Wir sehen ein solches Experiment in einem kurzen Video und es ist sehr anrührend, welche Anstrengungen das Kind macht, um die Mutter wieder in Einklang zu bringen. Der Forscher Ed Tronick nannte das: „Das Gute, das Schlechte und das Hässliche“. Gut sind die normalen Dinge, wenn Einklang zwischen Mutter und Kind herrscht. Schlecht ist, wenn der Einklang gestört ist und hässlich ist, wenn es keinen Rückweg aus dem Missklang gibt.

Eine gelingende Beziehungsgestaltung umfasst also sowohl Harmonie als auch Dissonanz und die Wege dazwischen. Reine Harmonie ist so schädlich wie reine Dissonanz. Genau das besagt das „Mutual Regulation Model“

Mutter und Kind beeinflussen gegenseitig, also beide sind sowohl aktiv als auch passiv an der Beziehungsgestaltung beteiligt. Dabei hilft auch das sog. „Social Referencing“. Dieser Ausdruck will sagen, dass das Kind in unbekannten Situationen auf den Gesichtsausdruck bzw. die Reaktion der Mutter achtet, um einen Hinweis darauf zu bekommen, ob die Situation womöglich gefährlich ist.

Kreuzmodale Entsprechung und Affektabstimmung

Es ist schon länger bekannt, dass kleine Kinder verschiedene Objekte mit mehreren Sinnen erforschen und zwar visuell, taktil, evtl. über den Geruch oder auch auditiv. Zum Verständnis dieses Phänomens hat wieder Daniel Stern einiges beizutragen. Er vermutet eine „supra-modale Wahrnehmung“, die weder taktil, auditiv oder visuell ist, aber die Möglichkeit bietet, ein und denselben Gegenstand in unterschiedlichen Modi wiederzuerkennen.

Stern bringt auch noch den sog. „Vitalitätsaffekt“ ins Spiel. Damit möchte er die Erlebniswelt des Kleinkinds beschreiben, die als ein Auf und Ab von Gefühlen und Intensitäten vor sich hinfließt. Damit ist es möglich, die typischen Gesprächsformen zwischen Eltern und Kindern zu verstehen. Übertrieben laute oder leise, hohe oder tiefe Sprache, eine übertriebene Mimik und alles geht mit dazu passenden Bewegungen einher, die entsprechend schnell und kräftig sind.

Dies wird ab dem neunten Lebensmonat noch einmal intensiver und um eine neue Dimension erweitert, denn in dieser Zeit beginnt die Affektabstimmung eine wichtigere Rolle zu spielen. Affekte und Emotionen haben auch eine Erregungskurve z. B. ansteigend im Ärger oder abfallend bei der Trauer. Diese Verläufe lassen sich nun auch in der Stimme, der Bewegung oder dem Gesichtsausdruck nachvollziehen. Der Vortragende gibt uns ein schönes stimmliches Beispiel des „Kuckuck-Da“ Spiels, das von sechs bis acht Monate alten Kindern so innig geliebt wird.
Wir bekommen noch weitere Beispiele für kontingentes Spiegeln, also kongruente und markierte Wiedergaben der Äußerungen des Kindes, sodass es die Möglichkeit hat, sich sowohl gesehen als auch verstanden zu fühlen. Auch die Beispiele, bei denen die Spiegelung nicht klappt, sind eindrucksvoll.

Konsequenzen für die Psychotherapie

Herr Doering plädiert dafür, dass diese Prozesse von Synchronität, Grenzverfehlungen, kontingente Spiegelungen sowie der Verlauf von Erregungskurven und die kreuzmodalen Übersetzungen eine wichtige Rolle für den Verlauf und den Erfolg einer Therapie spielen. Patient*innen haben eher ungute Abstimmungserfahrungen gemacht und in ihrem impliziten Gedächtnis sind wohl häufiger ungute Interaktionserfahrungen abgelegt.
Diese impliziten Inhalte zeigen sich im nonverbalen Verhalten, der Inszenierung, der Art und Weise der Annäherung und des Abschieds und in den Möglichkeiten der gegenseitigen Regulation. Herr Doering möchte uns dafür sensibilisieren.

Hier geht es zu diesem überaus reichhaltigen Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Placebos

Placebo und Wirkung

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Jens Gaab, Prof. Dr. phil., Fakultät für Psychologie, Universität Basel: „Placebo und Psychotherapie: Oxymoron oder Antithese?“

Herr Gaab stellt sich uns zunächst als humanistischen Psychotherapeuten vor. Er problematisiert als nächstes die Frage, was ein Placebo sei und wählt dafür das Beispiel einer Forschung an „Selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmern“ vs. Placebos. Es hat sich ergeben, dass die Unterschiede in den Wirkstärken sehr gering sind – Placebos erreichen immerhin 92% bzw. 87% der Wirkungen des Medikaments. Nun kann man natürlich fragen: Soll man nicht lieber das Placebo geben, wenn das Medikament auch Nebenwirkungen hat? Oder: Soll man das Medikament noch verwenden, auch wenn es kaum besser als ein Placebo ist? Bereits hier tauchen ethische Fragen im Umgang mit dem Placebo Effekt auf.
Dieser Effekt ist in der Medizin gut bekannt. Eine Untersuchung aus den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts hat ergeben, dass zahlreiche praktische Ärzte eine Vielzahl von Placebos in ihrer Praxis verwenden. Zum selben Ergebnis kommt auch eine aktuellere Studie – auch zeitgenössische Ärzt*innen verwenden Zuckerpillen, Salzwasserinjektionen, Verbände und Umschläge, positive Suggestionen u.v.m. in ihrem Berufsalltag.
Natürlich wurde weiter an Placebo Wirkungen geforscht. Frühere Forschungen zeigten erhebliche Wirkstärken, die sich in späteren Studien als geringer erwiesen haben.
Fragt man Patient*innen oder Ärzt*innen danach, ob ein Medikament ein Placebo war oder nicht, ist die Einschätzung tendenziell richtig.

1. Placebo ist eine psychologische Intervention

Herr Gaab zeigt uns nun, was alles als Placebo verwendet werden kann. Diese Lise ist lang und zeigt so unterschiedliche Dinge wie: Sport, Wein, Sauerstoff, Creme, Hypnose … Ähnlich lang ist die Liste der Indikationen für ein Placebo: Liebeskummer, Ängste, Schlafstörungen, Depressionen … Es erscheint rätselhaft – das Placebo ist leer, aber es hat einen Effekt.
Wir bekommen nun ein Modell zu sehen, das beschreibt, dass ein Patient mit einem Anliegen kommt. Das Anliegen hat einige charakteristische Merkmale und einige zufällige Merkmale. Der Patient wird behandelt und aus der erfolgreichen Behandlung wird eine Behandlungstheorie abgeleitet, die verschiedene Aspekte als relevant betrachtet. Das wären dann: Die Erwartung des Patienten, die Bedeutung von Krankheit/Therapie, die therapeutische Beziehung, die Personen Therapeut*in, Patient*in und evtl. „Placebo by proxy“ – dabei wird nicht der Patient, sondern eine ihm nahestehende Person mit einem Placebo behandelt.
Aus diesen Erkenntnissen lässt sich die Hypothese ableiten, dass nicht die Placebos für Effekt sorgen, sondern die Bedeutungen, die sie für das Gespann von Therapeut/Patient haben. So zeigen z.B. Ärzt*innen, die nicht wissen, dass sie ein Placebo anwenden, typische Anzeichen für eine Wirkung des Placebos. Placebos scheinen eine soziale Intervention zu sein.

2. Psychotherapie ist eine psychologische Intervention

Psychotherapieschulen gibt es wie Sand am Meer und ebenso unübersichtlich ist die Anzahl von spezifischen Interventionen. Ausgehend vom Urahn der modernen Psychotherapie – Sigmund Freud – lässt sich ein Stammbaum dieser Schulbegründer ableiten. Aber es gibt noch einen Ur-Urahn namens Franz Anton Mesmer. Dieser Arzt des 18ten Jahrhunderts entwickelte eine Theorie und Praxis des „Animalischen Magnetismus“ mit dem er in ganz Europa Furore machte. Seine Behandlungen führten häufig zu kathartischen Ausbrüchen seiner Patient*innen, so dass eine Untersuchungskommission seine Methode überprüfte und verwarf.
Aber damit war die Geschichte nicht vorbei. Mesmer fand Nachfolger und einer dieser Nachfolger war Charcot, bei dem dann auch Sigmund Freud studierte. Zu diesem Zeitpunkt war dann bereits die Rede von „veränderten Bewusstseinszuständen“.
Betrachtet man die Reihe der Indikationen für Psychotherapie findet man keinen Unterschied zu Liste der Indikationen für Placebo. Die Forschung zu den Wirkfaktoren für Psychotherapie ergibt folgendes Bild. Gute Effektstärken zeigen in absteigender Reihenfolge: Gemeinsame Ziele, Empathie, Beziehung, Wertschätzung, Kongruenz, Therapeut*in, Patient*in und Erwartung. Geringe bis unwirksame Effektstärken zeigen sich für: Therapeutischen Ansatz, Kompetenz des T., Methoden und Adhärenz (wie sich Patienten an die Anweisungen des Therapeuten halten).
Zusammenfassend wäre hier das Ergebnis: Das Psychotherapie Bedeutungen verändert. Eine Einsicht, die bereits in den 60er Jahren erstmals formuliert wurde.

3. Placebo und Psychotherapie sind psychologische Interventionen

Wir bekommen zahlreiche Studien und Metastudien vorgestellt, die sich mit der Frage befassen, ob Psychotherapie „nur“ ein Placebo ist oder nicht. Keine der Studien kommt zu einem starken eindeutigen Ergebnis. Aber es gibt noch eine andere Studie, die beschreibt, wie die Erwartungen und Wünsche der Metastudien Forscher, die Ergebnisse der Studien einfärben. Dies führt den Vortragenden zu dem Schluss, dass wenn man die Wirksamkeit von PT erforschen möchte, der Placebo Effekt dabei nicht kontrolliert werden sollte.

4. Ist Psychotherapie ein Placebo?

Zu dieser Frage sehen wir zunächst ein kleines Filmchen über EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) – die Trauma therapeutische Methode der Stunde. Dass diese Methode wirkt ist unbestritten, aber wie wirkt sie? Dazu gibt es eine Menge Hypothesen aber keine abschließende Erklärung. Ein Autor hat EMDR mit dem Mesmerismus verglichen und die verblüffenden Ähnlichkeiten aufgezeigt – und nach allem, was man weiß, hatte auch Mesmer gute therapeutische Erfolge. Die Differenzierung erscheint schwierig. Also haben Herr Gaab und seine Mitarbeiter*innen eigenen Forschungen angestellt.
Mithilfe eines Bildschirms und der Aufgabe, dem langweiligen Geschehen auf dem Bildschirm zu folgen, hat das Team es geschafft, gesunden Proband*innen zu tieferer Entspannung zu verhelfen. Das Ergebnis war sogar nachhaltig, wie ein Follow-Up gezeigt. Bevor die Proband*innen auf den Bildschirm blickten bekamen sie einige absurde Informationen mitgeteilt, die sie auf das zu Sehende vorbereitet haben. Ergebnis: Blödsinn wirkt, wenn man es als PT deklariert.
Placebos werden in der Regel verdeckt gegeben. Sie sind eine Art von Betrug oder Lüge und damit natürlich anrüchig. So möchte die PT nicht handeln. Andererseits sind Placebos enorm wirkungsvoll, wäre es also nicht möglich, mit Placebos offen umzugehen? Man könnte die Patient*innen über die Wirkfaktoren aufklären – transparent sein, zugeben, dass man nicht genau weiß, wie etwas funktioniert und sich dafür ein Einverständnis abholen.

5. Go open! Placebos zeigen uns den Weg

Tatsächlich wird auch diese Spielart bereits erforscht. Das Ergebnis sieht bisher so aus, dass auch offen vergebene Placebos gut Effektstärken aufweisen, sogar bei solch unangenehmen Symptomen wie Schmerzen. Diese Wirkung hält sogar lange an.
Genau genommen sind offene Placebos gar keine Placebos mehr, denn sie werden eben als das was sie sind verschrieben. Damit fallen dann auch ethische Hürden, die der Verwendung von Placebos in der Psychotherapie im Wege stehen würden.

6. Open-Label Placebo ist Psychotherapie

Es gibt bereits eine „Placebo Therapie“. Sie wurde von Jefferson M. Fish entwickelt und machte in den 80er Jahre viel Wirbel in der PT Szene. Die Therapie umfasst genau vier Sitzungen, in denen zunächst die Glaubenssysteme und die Krankheitstheorie der Patient*innen erfragt wird. Dann wird das Placebo in Form eines mythischen Satzes oder einer ebensolchen Handlungsanweisung gegeben und in einem Heilungsritual ausgeführt. Danach wird nur noch am Heilungsritual gearbeitet indem es wiederholt wird, in unterschiedlichen Situationen genutzt und weiter aufrechterhalten.
Herr Gaab hat vier, völlig unerfahrene Student*innen ausgewählt und sie dieses Verfahren ausprobieren lassen. Die Probleme, die zu behandeln waren, waren durchaus ernsthafter Natur und die Ergebnisse sehr positiv.
Tatsächlich lässt sich dieses Prinzip sogar noch weiter ausnutzen. Z.B. mit der Anweisung: „Stell Dir vor, es wird wirken!“ Eine Methode, wie sie ähnlich in der Lösungsfokussierten Therapie verwendet wird.
Mit der Akzeptanz der offenen Placebos könnte die Psychotherapie weiter voranschreiten. Ein weites Feld von möglichen Forschungen würde sich auftun und hilfreiche Erkenntnisse könnten auf uns warten.
Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet „Embodiment“

Embodiment als neues Paradigma

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
Vortrag von: Martin Dornberg, Dr. med. Dr. phil., Leiter des Zentrums für Psychosomatik und Psychotherapie Freiburg und Philosophisches Seminar, Universität Freiburg:  „Die zweigriffige Baumsäge: Embodiment, Beziehung und Psychotherapie“

Herr Dornberg stellt uns die Gliederung seines Vortrags vor: Es geht zunächst um „Baumsägeexperimente“, dann um „Embodiment und Baumsäge“. Weitergehen soll es mit Anmerkungen zur „Entwicklungspsychologie“, „Psychotherapie und Baumsäge“ und zuguterletzt um „Medienkunst und Baumsäge“.

Einführung

Wir erfahren etwas zur Geschichte, wie dieses Werkzeug überhaupt in die Psychotherapie aufgenommen wurde. Sie wurde von Thure von Uexküll ganz konkret und als Metapher eingeführt, der sie in der Ärzteausbildung verwendete.
Sie findet sich auch in der schon älteren Philosophie, die sich Gedanken zum Ich-Du-Verhältnis macht, zur Intersubjektivität, zum Leib-Seele Problem und zur Zwischenleiblichkeit.
Einen Schub erhielt das Thema durch das Buch „Der kompetente Säugling“ von Martin Dornes. Darin wird dargelegt, dass Säuglinge keineswegs passive Wesen sind, sondern höchst kompetent die Beziehung zur Mutter mitgestalten. In der Psychosomatik formulierte von Uexküll dazu einen weiteren Begriff, nämlich den der „Subjektiven Anatomie“. Dieser besagt so viel, dass jeder Mensch tatsächlich eine sehr subjektive Wahrnehmung seines Körpers hat.
In der Philosophie wurde zum Ende des letzten Jahrhunderts ebenfalls an Embodiment geforscht, unter anderem um den Aspekt des „Körpergedächtnisses“.
Neueste Entwicklungen rund um das Thema drehen sich um Medientheorie und Medienkunst.

Der Funktionskreis

Herr Dornberg stellt uns das biologische Systemmodell von Thure von Uexküll vor, den sogenannten „Funktionskreis“. Dieser macht deutlich, dass kein Lebewesen, also auch kein Mensch in einer abgeschlossenen Psyche lebt, sondern immerzu von seiner Umwelt beeinflusst wird und gleichzeitig auch diese Umwelt beeinflusst.
Wie können wir dann andere Menschen überhaupt verstehen, bzw. uns gegenseitig verstehen? Dazu hören wir ein Zitat von H.G. Gadamer:

„In der antiken Schrift über die Heilkunst findet sich dafür das schöne Beispiel des Führens der Baumsäge. Wie der eine zieht, so folgt der Andere, und das vollendete Führen der Säge bildet einen Gestaltkreis (Weizsäcker), in dem sich die Bewegungen der beiden Sägenden zu einem einheitlichen rhythmischen Fluss der Bewegung verschmelzen. Da steht der bezeichnende Satz, der das Wunderbare solcher Erfahrung von Gleichgewicht andeutet: Wenn sie aber Gewalt anwenden, dann werden sie es ganz verfehlen.“

Der Leib-Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty entwickelte das zu einem Konzept der Zwischenleiblichkeit. Er schrieb:

„Die Kommunikation und das Verständnis von Gesten entsteht durch Wechselseitigkeit zwischen meinen Intentionen und den Gesten des anderen, zwischen meinen Gesten und den Intentionen, die ich im Verhalten anderer wahrnehmen kann. Es ist, als ob die Intentionen des anderen meinen Leib bewohnten, und meine Intentionen den seinen.“

Die Baumsägeexperimente

Wir sehen Ausschnitte aus einem Film über Studierende der Medienwissenschft aus zwei Kulturen, die miteinander die Zweihandsäge bedienen. Die Erfahrung verändert sich mit dem Partner. Die Qualität, mit der sich die Sägenden aufeinander einlassen, kann sehr verschieden sein. Die Erfahrung reicht von Frust über das Misslingen des Sägens bis zu Glücksgefühlen, wenn sich eine Harmonie einstellt.
Herr Dornberg verweist hier schon auf die psychotherapeutische Situation, die mit jedem Klienten eine andere ist.
Die ersten Sägeexperimente wurden 1949 in Heidelberg gemacht. Es ging um Fragen der Rehabilitation von kranken Menschen. Mit einer Baumsägen Attrappe konnten sowohl objektive Messdaten gewonnen werden (Zug- und Druckkraft, Weg), als auch subjektive Eindrücke wie Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Ergebnisse der Experimente zeigten folgende Ergebnisse.
Es zeigte sich eine Gegenseitigkeit, dass nämlich beide Akteure in der Voraussicht auf den jeweils anderen handeln .
Kompensationshandlungen stellen sich ein, wenn ein Partner die kurzzeitige Schwäche des anderen ausgleicht, ohne es zu merken.

Aus zwei wird drei

Darüberhinaus entwickelte sich eine Emergenz, d. h. im Vollzug des Sägens entsteht ein neues Ganzes.
Es kommt zu einer Verbundenheit zur Ziel- und Prozessorientierung. Sie realisieren ein Maximum an Freiheit gerade durch ihre Bezugnahme auf feste Determinanten.
Beide Partner formen also ein neues Ganzes, das auf die Partner zurückwirkt. Beide entwickeln eigene Fähigkeiten von „Merken“ und „Wirken“. Das emergente Ganze teilt sich den Partnern körperlich-leiblich und emotional durch Resonanzphänomene mit. Die Stimmung verändert sich und es entwickelt sich eine Synchronie, die sogar die Herzfrequenzen mit einbezieht. Sie bilden durch ihr zwischenleibliches Tun einen „Dritten Körper“
Ein weiteres verblüffendes Ergebnis war, dass die Paarung Gesunder – Kranker, nahezu ebenbürtige Ergebnisse erzielten wie Paarungen von Gesunden. Dieses Ergebnis führte zu einer Hypothese:

„Der Kranke ist nur in dem Maße krank, indem er der Zuwendung seiner Mitmenschen ermangelt. Was ihm fehlt ist nicht nur, was ihm mangelt, sondern auch was die Anderen ihm versagen. Der Begriff „Krankheit“ ist in dieser Sicht kein individueller, sondern ein sozialanthropologischer.“

Embodiment

Die Embodiment Theorie unterstützt die Ansätze der körperorientierten Psychotherapie. Sie sagt aus, dass: Kognitionen, Emotionen und Verhalten neue körperliche Bedingungen formen und, dass die Körper-Konditionen Einfluss auf Kognition, Emotion und Verhalten ausüben. Es handelt sich also sowohl um bottom-up als auch top-down Beziehungen.
Embodiment ist aber nicht ohne Umweltbezug denkbar, deshalb wird Embodiment mit „Embeddedness“ ergänzt. Das bedeutet, dass jedes Lebewesen in seine Umweltzusammenhänge eingebettet ist, diese Umwelt mit formt und wiederum selbst von seinen Interaktionen beeinflusst wird.
Beide Prozesse gemeinsam sind „enaktiv“, also ein interaktiver Prozess beider Beteiligter, die dadurch neue, emergente Eigenschaften produzieren. Sie bedeuten auch, dass Geist nicht auf das Gehirn beschränkt ist (Extended Mind). Geistiges beinhaltet auch externe Komponenten wie Notizen oder andere Umweltkomponenten.

Entwicklungspsychologie

Nun kommt Herr Dornberg zum Thema der Entwicklungspsychologie. Er möchte aus der Säuglingsforschung berichten, dabei die Psychotherapie mit beleuchten und auch etwas über Spiegelneurone sagen.
Er demonstriert die Wirkung der Spiegelneurone an einem Foto, auf dem eine Mann gerade kurz davorsteht, sich in den Daumen zu schneiden. Der Anblick alleine genügt, um sich kurz unwohl zu fühlen, bis man mitbekommt, dass dem eigenen Daumen gerade gar nichts fehlt.
Dann werden wir an die Arbeiten und Theorien von Daniel Stern erinnert. Dieser hat herausgearbeitet, dass sich während der frühen Entwicklungszeit Schemata von Zusammensein etablieren. Es geht dabei um „Handlungsabläufe mit antwortenden Handlungsmacht- und Affektkomponenten, zeitlich-rhythmische Mustern, räumlichen und intensitätsbezogenen Anordnungen. Zusammen bilden sie die sog. RIGs (representations of interactions being generalized).“

Das dialogische Selbst

Ein berühmtes Experiment in diesem Zusammenhang ist das „Still Face“ Experiment, darin interagieren Mütter mit ihren Babys, ohne das Gesicht zu verziehen. Bei den Babys führt das regelmäßig zur Verzweiflung. Sie brauchen eine angemessene Spiegelung (kontingent und markiert), um eine Selbstrepräsentation entwickeln zu können. Mutter und Baby regulieren sich dabei gegenseitig und bilden so etwas wie ein „Dialogisches Selbst“.
Um also Emotionen und Kognitionen entwickeln zu können, brauchen wir die Intersubjektivität. Man kann eine primäre Intersubjektivität, die wäre multimodal, nicht-konzeptionell und körperlich von einer sekundären Intersubjektivität unterscheiden, das betrifft das Teilen von Intentionen und Wünschen durch Handlungen, Äußerungen und Wahrnehmungen. Der Psychotherapeut Peter Fonagy drückt diesen Umstand so aus:

„Wir müssen von einem dialektischen Modell der Entwicklung des Selbst ausgehen (…), demzufolge die Fähigkeit des Kindes, eine kohärente Vorstellung von der Psyche zu entwickeln, entscheidend davon abhängt, dass es sich selbst von seiner Bindungsfigur als Psyche wahrgenommen fühlt.“

Psychotherapie und Baumsäge

Der Prozess der Psychotherapie und die Beziehung, die darin entsteht, kann ebenfalls mit der zweihändigen Baumsäge veranschaulicht werden. Die Wirklichkeiten von Therapeut*in und Klient*in verzahnen sich ineinander. Sie erschaffen im besten Fall eine gemeinsame, hilfreiche Wirklichkeit. Der/die Therapeut*in dient in dieser Beziehung als „diagnostisches Instrument“.
Psychotherapie ist beziehungsorientiert. Sie kann als komplexes Wechselspiel zwischen zwei Beteiligten betrachtet werden. Ein konstruktivistisches Element besteht darin, dass wir unsere Wirklichkeiten in so einer komplexen Beziehung tatsächlich selbst erschaffen, nichtsdestotrotz bleiben wir natürlich reale Lebewesen. In der Therapie können wir die Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und Abhängigkeit und von Freiheit und Einflussnahme erleben, ebenso wie beim gemeinsamen Sägen.
Die gelingende Psychotherapie schafft eine gemeinsame Wirklichkeit, in der gemeinsam eine Leistung erbracht wird, z. B. Zusammenarbeit oder Gesundheit. Beide Beteiligte haben ihre eigene Wirklichkeit, die Fragen bereithält. Z. B. Wovon werde ich/er gerade beeinflusst (Beziehungen/Gefühle) und was für Ziele/Wünsche habe ich/hat er gerade?
Im nächsten Schritt kann die gemeinsame Wirklichkeit erkundet werden. Also die jeweiligen Wirklichkeiten realisieren und durch eine patientenorientierte Kommunikation, also mit Hilfe von Pausen, emotionaler Spiegelung oder Zusammenfassungen. Dies darf sich abwechseln mit therapeutenzentrierter Kommunikation, in der der Therapeut seine therapeutischen Ziele kommunizieren kann.

Therapeutische Relevanz

Klassisch wäre, dass die Tiefenpsychologischen Ansätze stärker die Patientenorientierung nutzen und die Verhaltenstherapeutischen eher die Therapeutenzentrierten. Tatsächlich sind aber immer beide Aspekte nötig, denn Therapeut und Patient sind nicht exklusiv miteinander verbunden. In ihrer Beziehung tauchen auch andere Beziehungen auf, z. B. solche von früheren, aktuellen oder auch aus anderen Therapien.
Dies liegt u.a. an den emotionalen Schemata. Die wesentlichen Bindungs- und Beziehungsmuster entwickeln sich in den ersten Lebensjahren. Sie sind vorwiegend körperlich/verkörpert. Sie formen die impliziten und expliziten Organisationsformen von Erfahrungen.

Situation und Körpererleben

Liegen Dysfunktionen von emotionalen Schemata vor, dann zeigen sie sich situativ, wenn eine Situation unangemessene emotionale/kognitive Reaktionen auslöst. Offenbar ist es so, dass die Corona Situation neue Herausforderungen für die Schemata darstellt.
Der subjektiven Anatomie der dysfunktionalen Schemata kann man auch mit Körperbildern oder Körperskulpturen auf die Spur kommen. Besonders eindrücklich sind Figuren oder Gebilde, die die Klient*innen aus Ton formen können.
Nun wird noch Klaus Grawe angeführt. Diese Psychotherapieforscher hat geschrieben:

„Alle Inhalte des impliziten Gedächtnisses und damit die Grundlage des Großteils unbewusster Prozesse könne nur prozessual aktiviert werden, aber nicht über inhaltliche Thematisierung. Dieser Sachverhalt erscheint mir für die Psychotherapie von allerhöchster Relevanz. Für die Reaktivierung ist die Herstellung einer möglichst ähnlichen Reizsituation erforderlich, wie der,  unter der diese Gedächtnissysteme ursprünglich erworben wurden.“ Und: „Für die herbeizuführenden Veränderungen ist (…) der implizit-nonverbal-analoge Funktionsmodus wegen seiner engen Assoziation mit den Emotionen der relevantere.“

Wenn das nicht für Körperorientierte Psychotherapie spricht!
Es geht also in der Therapie auch darum, bestimmte Reaktionen situativ hervorzurufen und sie dann zu verändern. Dies geschieht dadurch, dass die auftauchenden dysfunktionalen Muster durch kleine Variationen modifiziert werden.
Zusammenfassend bekommen wir ein Diagramm, welches das „System Therapeut“ dem „System Klient*in“ gegenüberstellt. Beide sind aufeinander bezogen und übertragen aufeinander. Es finden Parallelprozesse statt, Beziehungsübertragungen, Affektübertragungen, Körperübertragungen, Spiegelungen, Mentalisierungen und auch Traumaübertragungen sind möglich. Das Fazit daraus lauter:

„Die Ansicht Freuds, der Therapeut müsse sich so wie ein Spiegel verhalten, ist falsch! Ohne Verwicklung keine Entwicklung!“

Fazit

Das abschließende Fazit aus der Baumsägen Metapher sieht so aus: Die therapeutische Beziehung hat eine besondere Bedeutung. Das Phänomen des „Dritten Körpers“ spielt eine Rolle für den Erfolg. Übertragungen und Gegenübertragungen finden ständig zwischen beiden Beteiligten statt.
Therapie ist die Veränderung impliziter Beziehungsmuster und eine korrektive therapeutische Erfahrung.
Sogenannte „Begegnungsmomente“ (~ spontanes, bedeutungsvolles Miteinander) fördern den Therapieerfolg. Emotionale Mitteilungen des Therapeuten können eine Beziehungsherausforderung sein, die Früchte tragen kann.
Als Grundlage ist das Bio-psycho-soziale Modell und dessen Systemik am hilfreichsten.
Hier ist der Vortragende am Ende seiner Zeit angekommen. Es ist möglich sich den Vortrag selbst anzusehen.

Die Psychosomatik erkundet Rituale

Rituale strukturieren das Leben

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 05.11.19 von William Sax, Heidelberg:
„Ritual als Therapie“

Einleitung

Professor Sax beginnt mit dem Gedanken, dass psychische Gesundheit ein global wünschenswertes Ziel sei. Aber was bedeutet „psychische Gesundheit“? Wer definiert das und wie wird es definiert? Er berichtet über das „Movement for global mental health“, eine Organisation, die den Mangel an Psychiatern in ärmeren Weltgegenden als Verletzung der Menschenrechte betrachtet. Die Mitgliedsorganisationen fordern mehr Psychiater für Arme.
Aber darin liegen auch potenzielle Probleme. Je nach Kultur, in der moderne psychiatrische Mittel zum Einsatz kommen, können diese Mittel auch Schaden anrichten. Darüber hinaus ist nicht klar, welchen Interessen diese Art von Intervention dient. Der rein materialistische Zugang zu psychischen Erkrankungen birgt Risiken und macht blind für andere Arten des Umgangs mit psychischen Erkrankungen.

Rituale und Therapie

Es gibt weltweit Heilungstraditionen, ritueller und religiöser Art, mit denen ein Großteil von Problemen aller Art – auch psychischer Krankheit – behandelt werden. Das trifft nicht nur auf Kulturen des globalen Südens zu, sondern auch auf die USA und Europa. Erstaunlicherweise gibt es dazu so gut wie keine Forschungen. Ein der weniger Studien, die in Indien durchgeführt wurde, zeigt, dass ca. 80% der psychischen Probleme mit einem traditionellen Verfahren behandelt wurde. Leider fehlen hier die Studien über Wirksamkeit und Erfolgsdauer der Behandlungen.
Herr Sax vollzieht noch einmal den Wandel des wissenschaftlichen Weltbilds nach. Wie schon gesagt führte die Dominanz der materialistischen Weltauffassung dazu, dass in einem ersten Schritt die Seele verschwand und in einem zweiten der Geist zum Gehirn reduziert wurde. Diese Entwicklung hat einerseits eine große Menge an wertvollem Wissen gewonnen, es andererseits allerdings unmöglich gemacht, in der Psychiatrie nach Sinn und Bedeutung zu fragen. Weiter noch führt diese Art den Menschen als Maschine zu betrachten dazu, dass die Menschen diese Sichtweise übernehmen und sich selbst ebenso als Maschinen betrachten.

Rituale

Was ist ein Ritual? Zahlreiche Anthropologen und Ethnologen sind sich nach jahrzehntelanger Diskussion nicht darüber einig geworden, wie ein Ritual zu definieren wäre. Für Ritual Anwender sind die Vollzüge eine „Technik“, und nicht eine „Heilung“, es wird also schon schwierig, wenn Wissenschaftler versuchen, sich mit Ritualteilnehmern über die Handlungen auszutauschen.

Rituale können sehr, sehr unterschiedlich auftreten, denn sie dauern kurz oder länger (manchmal Jahre), sind vorübergehend, gelegentlich oder regelmäßig und dabei mehr oder weniger aufwendig. In der Regel sind sie Ausdrucksstark und zur Verblüffung der Wissenschaft nicht instrumentell. Das ist ein Merkmal eines vormodernen Weltbilds und damit unvereinbar mit modernen Wissenschaften.

Dass Rituale wirken, ist vielfach belegt, aber wie wirken sie? Dazu gibt es, mangels Definition, kaum Antworten. Wirken sie ähnlich wie Kräutertränke, geht es um wiedergefundenes Vertrauen, wird die Welt neu geordnet? Man könnte alle Hypothesen bejahen, aber hätte noch keine befriedigende Antwort.

Familie und Ritual

Herr Sax zeigt uns einen kurzen Filmausschnitt aus einer indischen Provinz, wo er einem Orakel beiwohnte. Der Gang zum Orakel ist in der Regel der erste Schritt, wenn ein Familienmitglied unerklärliche Symptome zeigt. Das Orakel versetzt sich in Trance und befragt die Familie: „Ist die Familie vereint?“ Und falls nicht: „Ist es möglich, dass die Familie sich vereinen kann?“ Damit berücksichtigt das Orakel, dass die allermeisten Fälle von unerklärlichen Krankheiten auf Familienstreitigkeiten zurückgehen.
Die Familienverbände sind in dieser Weltgegend oft die einzige Quelle von Moral und materiellen Ressourcen. Man opfert sich immer wieder für einzelne Familienmitglieder auf. Dabei entstehen auch Neid und Missgunst, Rachegelüste, Kränkungen u.v.m.

Die moralischen Gebote des Hinduismus oder auch des Islam verbieten nun, Rache zu nehmen, insbesondere verbieten sie die Nutzung von schwarzer Magie. Aber offenbar wird dieses Verbot nicht immer eingehalten. Für westlich sozialisierte Menschen erstaunlich ist, dass schwarzmagische Flüche offenbar tatsächlich Wirkung entfalten und zwar bis hin zum Tod des Verfluchten.

Kosten des Rituals

Aber falls die Familie sich vereinigen kann, wird ein aufwändiges und teures Ritual verordnet. Die ganze Familie, auch weit entfernt wohnende Mitglieder, müssen daran teilnehmen. Die Zeit der gemeinsamen Vorbereitung zur Durchführung des Rituals bringt die Familie wieder zusammen und schafft so die Möglichkeit einer Veränderung.

Auch in muslimischen Kulturen gibt es ähnliche Verfahren. Dort sind es eher „Dschinns“, das sind unsichtbare Wesen, die aus rauchlosem Feuer erschaffen sind, die im Auftrag des einen Menschen von einem anderen Menschen Besitz ergreifen. Es gibt verschieden Wege, diese Dämonen zu exorzieren und es gibt unterschiedlich seriöse Exorzisten, die diese Fähigkeit besitzen. Auch hier bekommen wir einen kleinen Film gezeigt.

Der Vorzug der Besessenheit ist, dass die Kranken von einer Krankheitsschuld entlastet werden. In muslimischen Kulturen wird der Dschinn dann möglichst gefangen und getötet. Anders in Hindu Kulturen. Dort werden die Dämonen nach Möglichkeit versöhnt. Diese Art der Herangehensweise ermöglicht den Kranken die Einsicht, wie sie sich verletzlich gemacht haben.

Nachwort

Es gibt also einen gewaltigen Bereich von sozio-psychischen Phänomenen, die von der Wissenschaft, insbesondere der medizinischen Wissenschaft, ausgeblendet werden. Ein ähnliches Schicksal wie die Placebo oder Homöopathie Forschung, denn damit lassen sich keine Karrieren starten.

Herr Sax macht uns klar, dass viele wissenschaftlich Verfahren der Vergangenheit heute als unwissenschaftlich gelten und dass sicher auch in der Zukunft viele heutige wissenschaftliche Methoden als unwissenschaftlich entlarvt werden dürften. Das Phänomen „Gesundheit“ (das sich übrigens auch nicht definieren lässt) ist mit so vielen Aspekten verbunden, dass die Reduktion auf die materiellen Aspekte eine Art selbstverordneter Blindheit gleichkommt.
Es kommt darauf an, Geist und Körper wieder zusammenzuführen und wenn dabei die Seele auch noch eine Rolle spielen darf, wäre das wohl kein Fehler.