Die Psychosomatik erkundet Geist und Körper

Der Mensch ist nicht nur seine Gedanken

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: PD. Dr. Donata Schoeller, Universität Island und Koblenz: „Zu sich kommen im Denken: wenn der Geist auf den Körper hört“

Der verkörperte, eingebettete und aktive Geist

Es gibt eine lange Tradition, die Körper und Geist als zwei verschiedene Aspekte der Welt betrachtet. Diese Art über sich und seinen Körper zu denken, hat zu einer gewissen Abwertung des „rein“ körperlichen geführt. Diese Sichtweise wird heute kritisiert und Frau Schoeller möchte uns diese kritische Sichtweise näherbringen.
Zunächst einmal sind Körper nie nur Körper, sie sind immer in Umwelten eingebettet und sich selbst ebenfalls eine Umwelt. Dazu liest sie uns ein Zitat von Eugene Gendlin vor. Sie fordert uns dazu auf, wahrzunehmen, welche Auswirkungen der Text auf unser Körperempfinden hat.

„Der Blutkreislauf wird häufig als die Umwelt der Zellen bezeichnet, die er ernährt. Die vielen Prozesse im Körper haben unterschiedliche Teile als ihre Umwelt. Die Hautlinie ist nicht die große Scheidelinie (…)
Der Körper ist eine Umwelt, in der sich der Körperprozess weiter fortsetzt.
Der Körper ist durch einen im Prozess befindlichen Embryo entstanden. Die Struktur des Körpers ist aber nicht nur entstanden, sondern wird auch durch fortlaufende Prozesse erhalten – wenn diese aufhören, fällt er auseinander.
Betrachten wir die Linien auf eine Muschel: ein kleiner erster Teil ist bereits Muschel und war das Gehäuse eines kleineren Tiers; Ringe und noch mehr Ringe werden durch Wachstum hinzugefügt. Die Muschel ist charakterisiert durch die Spur eines aktiven Geschehens, sie ist verdichteter Prozess. Der Körper ist genauso, er ist ein Beleg, eine Spur eines aktiven Geschehens.“

Wenn wir diese Perspektive einnehmen, ist es nicht mehr so einfach zu bestimmen, was genau mit „innerhalb“ oder „in“ eigentlich gemeint ist. Als Beispiele nennt sie die Erfahrung des Drucks an der Fußsohle, die sich im ganzen Körper wahrnehmen lässt, aber nicht mehr scharf umrissen ist. Oder die Atmung, die Sauerstoff aus der Luft aufnimmt, der dann wiederum von den Zellen des Körpers aufgenommen wird.

Der Körper ist in der Umwelt und die Umwelt im Körper.

Geist als emergenter Effekt

Jenseits von physikalischen, chemischen und biologischen Umwelten leben Menschen immer und zwangsläufig mit anderen Menschen zusammen. In Familien, Beziehungen, Kulturen und Städten entsteht durch die Sprache auch eine Art Umwelt. Sprache ihrerseits erschließt dann die weiteren Umwelten von Bedeutung und Geist.
Auch hier bekommen wir Zitate zur Verdeutlichung:

„Durch die Lebensprozesse von Generationen sind geistige Inhalte und Bedeutung wie eine zunächst neue, sich stets generierende Umwelt gewachsen, eine Körper-Umwelt, in der nun unsere Lebensprozesse vor sich gehen …“

„Mit uns als Menschheit hat sich auch eine Umwelt der Bedeutungen entwickelt, die unsere Körper, unsere Lebensweisen implizieren …“

„Sprachliche Bedeutung ist die durch den Lebensprozess der Menschheit entstandene Umwelt, in der dieser Prozess nun weitergeht.“

Körper, Sprache und Bedeutung sind in dieser Sichtweise immer miteinander verknüpft und verbunden, jegliche Trennung oder Teilung wäre reine Willkür. Frau Schoeller drückt es so aus:

„Sprachsysteme sind gewachsen aus einem uralten, gewebten Teppich von gelebten, gekreuzten, gegenseitig interaffizierten Lebenskontexten, über Jahrtausende.
Sprachmuster sind mit dem Mustergefüge menschlicher Situationen und Kulturen entstanden und aus den /Sprach-)Körpern, die sich entwickelt haben.
Bedeutungssysteme in Sprache, Bedeutungen in Worten werden gelebt, erlebt, weiterentwickelt, dadurch neubelebt, von Generation zu Generation erneuert …“

Ein anderer Blickwinkel

Es kommt Frau Schoeller nicht darauf an, hier eine philosophisch abstrakte Debatte zu führen. Sie möchte auf die praktische und alltägliche Kommunikationspraxis schauen, die sich in diesem Licht ganz anders und neu darstellt.
Um aber diesen neuen Blick zu gewinnen, lohnt es sich zunächst auf konventionelle Modelle von Bedeutung zu besinnen.

Populär ist hier vor allem das Repräsentationsmodell. Ein Wort verweist auf einen Gegenstand – z. B. dieser Apfel hier.

Das andere häufig verwendete Modell wäre das der Konstruktion, in dem die Begriffe der schon vorhandenen Welt dem Verstand oder Gehirn entspringen.

Die dazugehörigen Verfahren praktizieren dann logische Betrachtungen, begriffliche Implikationen, Strukturen, Grammatik, Wahrheitsbedingungen und Sprachkonventionen und nirgendwo taucht dabei der Körper auf.

Dabei kommt aber etwas zu kurz. Wir kennen die geschliffenen Sprachkonserven, feststehende Phrasen, die elegant klingen mögen uns aber nicht zum Schwingen bringen. Andererseits gibt es die Erfahrung, dass durch die Beschäftigung mit einem Begriff neue Nuancen auftauchen, dass diese Beschäftigung uns ergreift.

Ein Wort steckt quasi voller Bedeutungen, je nach Kontext, Zeit und Mensch, der das Wort verwendet. Oder auch die Erfahrung, dass ein gutes Wort zur rechten Zeit eine Situation völlig verändern kann.

Um diese Phänomene besser erfassen zu können, passt der Begriff der Performativität wesentlich besser, als das Sender – Empfänger Modell der Kommunikation.

„Sprache geschieht hinein in ein stets bewegtes verkörpertes Erlebnisgeschehen – in den Strom eines Bewusstseins.“

Ein Phänomen, das auch in der Psychotherapie immer wieder erlebt wird.

Konsequenzen für Forschungspraktiken

Folgende frage führt den nächsen Abschnitt ein:

Gewähren akademische Forschungspraktiken genügend Raum, um dieses Aufeinander Wirken der untrennbaren körperlichen und geistigen Umwelten auf den Lebensprozess zu kultivieren?

Diese Frage ist wichtig, weil der Zugang über eine verkörperte Sprache ganz andere Bedeutungsbereiche erschließen kann.

Dazu hören wir ein Zitat des Philosophen Thomas Nagel. Darin stellt er klar, dass wir mit dem Ideal der Objektivität, das in der Wissenschaft der Goldstandard ist, etliche subjektive Erfahrungsbereiche gar nicht erkennen können.
Die Forderung, objektiv zu denken, trennt uns von den körperlichen Quellen des Denkens von einem Standpunkt aus. Um aber diesen Standpunkt finden zu können, braucht es eine Wahrnehmung des Körpers. Diese zu gewinnen, ist wiederum alles andere als einfach. Körperlich verbunden zu sprechen braucht Unterricht und Übung, die hierzulande kaum eine Tradition haben. Um diesen anderen Zugang zu Bewusstsein zu gewinnen, bräuchte es eine verbundene Art des Sich-Einlassens auf die Welt, eine Art Hingabe.

Schulung im anderen Denken

Diese Art von Schulung hat Frau Schoeller mit einer Kollegin entwickelt. Das Programm hat den Namen: „Embodied Critical Thinking“. Dieses Programm baut sich auf vier Prinzipien auf.

  1.  Einen Raum für gelebte Erfahrung schaffen – das bedeutet verlangsamen, eintauchen, in Kontakt kommen mit dem Reichtum, der Subtilität und impliziten Präzision der gelebten Erfahrung.
  2. Reflexive Fürsorge – halten und zulassen. Sich an die erlebte Bedeutsamkeit (felt sense) eines Problems, einer Frage, einer Situation halten, sie sich entfalten lassen um den Denkprozess zu bereichern.
  3. Verbundenes Sprechen – die Freiheit lassen, Sinn entstehen zu lassen. Auf sich selbst und den anderen achten, um den ausschlaggebenden Punkt zu berühren beim Formulieren und entstehende Bedeutungen nicht unter dem Druck akzeptabler „Sprachspiele“, Meinungen und Mustern zu verlieren.
  4. Radikales Zuhören. Auf die Resonanz der Formulierungen achten und sich gegenseitig durch aufmerksames, nicht unterbrechendes Zuhören unterstützen.

Es braucht Zeit, um Zuhören zu können. Zeit als Bedingung, um unterschiedliche Wissensformen (der Ersten und Dritten Person) zusammenzubringen. Dabei geht es darum Zuhören zu üben und für tastend zu formulieren, damit sich die Ebenen der begrifflichen Implikationen und der erlebten Bedeutsamkeit verbinden können. So kann Solidarität entstehen, um die Verletzlichkeit im Denken zu schützen und sie kann eine Quelle sein, um über Muster hinaus zu fühlen und zu denken.

Techniken

Wir bekommen nun noch zwei Techniken vorgestellt, mit denen diese Art des Zuhörens geübt werden kann. Das erste Beispiel (Dropping und Dipping) handelt von der Erforschung des Kernbegriffs „Zuhause“. Ein langsames eintauchen in die zahlreichen Facetten, die dieser Begriff für den Forscher entwickelt.
Eine zweite Übung heißt „Crossing“ – Erlebnisse kreuzen. Darin werden zwei Erlebnisse assoziiert bzw. die Assoziationen von Erlebnissen gefunden und vertieft erforscht. Auch dieses Beispiel ist sehr eindrucksvoll.
Frau Schoeller macht uns anhand der Beispiele noch einmal klar, dass das Sprechen über etwas, das Erleben verändert und dass verändertes Erleben die Sprache verändert. Bedeutung und Erleben erlauben sich gegenseitig.

Gesamtgesellschaftliche Relevanz dieser Sicht

Objektivierende Sprechweisen haben Rückwirkungen auf das Erleben des Besprochenen. Aber diese Rückwirkungen werden in aller Regel nicht berücksichtigt. „Man bewegt sich im alltäglichen oder wissenschaftlichen Sprachsystem oft wie in einem abgeschlossenen System, in konventioneller oder paradigmatischer antrainierter Eingespieltheit – man sagt, was man zu verbinden und zu sagen erlernt hat, was schnell geht, was den Ablauf nicht stört, ein gewohntes schnelles Pingpong mit wenig Überraschungen.“
Und: „Entkoppelte Sprache – erlebte Kontexte werden in einem alltäglichen akademischen Sprachgebrauch zu gering oder gar nicht mehr berührt, tangiert, vorangetragen, sondern oftmals chronisch übergangen, diffus verletzt, verloren, ohne dass das je zur Sprache kommen kann. Denn das Problem liegt u.a. im Sprachgebrauch. Geistige Produkte werden zu rigiden Umwelten des Körpers. Es kommt zu Entladungen in aufgeheizten Debatten, in denen Worte wie Messer wirken.“
Diese Art von Sprachgebrauch lässt sich auch in politischen Debatten oder Talkshows gut beobachten.
Um das zu ändern bräuchte es neue Sprachformen und -praxen. Ein Beispiel für dieses neue Paradigma wäre das Resonanz Modell von Hartmut Rosa. Frau Schoeller bevorzugt aber die Sprachphilosophie von Eugene Gendlin, die den Begriff ‚Responsivität‘ verwendet. Darin geht es um Verantwortlichkeit und Empfänglichkeit um die vielfältigen bedeutsamen Umwelten zu kultivieren, die der zerbrechlich-starke Lebensprozess bedarf und die spürbarer werden, wenn im Denken zu sich kommt.
Ein tiefgründiger und spannender Vortrag!

Hier geht’s zum Vortrag:

Psychosomatik und Sprache

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 06.02.18 von Carl Eduard Scheidt, Prof. Dr. MA – Uni Freiburg
„Sprechen über sich – Zur narrativen Konstruktion von Identität“

Sprechen und erzählen

Sprache ist für Menschen selbstverständlich. Wir benutzen sie ständig, um uns verständlich zu machen und zwar sowohl in unseren Gedanken als auch im Austausch mit anderen. Sprechen wird auch als soziales Handeln betrachtet. Wir appellieren damit, stellen etwas fest oder drücken unsere Gefühle damit aus.

Sprache ist auch das Medium der Erzählung und eine Erzählung hat eine raumzeitliche Struktur. Das umfasst einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. In der Mitte kommt es in der Regel zu Komplikationen und am Ende steht eine Bewertung oder Schlussfolgerung.

Eine Erzählung findet in der Gegenwart statt. Sie bezieht sich dabei auf etwas in der Vergangenheit. Das ‚erzählende Ich‘ der Gegenwart berichtet von dem ‚erzählten Ich‘ der Vergangenheit. In einem gewissen Sinn rekonstruiert das erzählende Ich sich selbst durch die Erzählung.

Traumatische Erfahrungen können diese Rekonstruktion empfindlich stören, denn die Erzählung kann uns helfen Gefühle und Umstände in unser Selbstbild zu integrieren.

Durch das Erzählen erweitern wir unser Weltwissen und pflegen dabei auch noch unsere Beziehung zum Zuhörer. Die erzählte Geschichte kann zu einem Teil unserer Identität werden.

Erzählung und Identität

Was aber ist nun Identität? Die Identität wird nicht mehr einfach als ‚dieses Ding‘ betrachtet, das eindeutig für sich existiert. Vielmehr ist die aktuelle Perspektive darauf die, dass sie konstruiert werden muss. Diese Konstruktion besitzt mehrere Dimensionen, die je nach Situation verwendet werden kann.

Wenn Menschen in existenziell umwälzende Situationen geraten, z.B. eine Krebserkrankung, der Ausbruch einer Psychose oder die Entdeckung der eigenen Homosexualität, wird das die bisherige Identität erschüttern.

In so einem Fall bekommen Erzählungen ganz neue Aufgaben. Sie müssen es schaffen, das Fortbestehen der Identität zu sichern. Es braucht neue Erzählungen für die Übereinstimmung mit sich selbst. Sie können auch dazu dienen, Anerkennung und soziale Resonanz zu fordern und manchmal dienen sie auch der Selbstrechtfertigung. Gerade wenn Schuldgefühle eine Rolle spielen, wird es wichtig, sich mit der Schuld erzählerisch auseinanderzusetzen, um so seinen Selbstwert zu schützen und auch die Gelegenheit zur Selbstreflexion zu nutzen.

psychische Aspekte

Wir hören nun einige Beispiele von biografischen Erzählungen. Herr Scheidt weist uns auf die verschiedenen Funktionen der Erzählung in diesen Geschichten hin.

Schon die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, enthält Beziehungsbotschaften. Dafür werden hauptsächlich körpersprachlichen Mittel eingesetzt.

Wichtig für die ‚Identitätsarbeit‘ sind die Bilder bzw. die Vorstellungen von Bildern, die andere sich von einem machen. Hier vermischen sich bewusste und unbewusste Inhalte. Meine Vorstellung davon, wie ich gerne wäre, muss in Einklang mit dem Bild gebracht werden, das sich andere von mir machen. Und auch meine Annahmen darüber, wie andere mich sehen, muss mit dem versöhnt werden, wie andere mich tatsächlich sehen.

Diese Erwägungen sind nicht spannungsfrei. Wenn die Person allerdings über ein stabiles Selbstbild verfügt und sich auch vorstellen kann, dass der andere ebenfalls über ein eigenes Erleben verfügt (TOM), stehen die Chancen gut, dass dieser Prozess gelingen wird.

Ein weiterer Aspekt ist der Einfluss des Hörers auf die Geschichte. Dies ist besonders bei Paaren relevant, die üblicherweise über eine Co-Konstruktion ihrer Beziehung erschaffen haben.

Wissenschaftliche Zugänge

Es gibt natürlich auch Forschungsergebnisse über die Wirksamkeit von Erzählen. Die Hypothesen zur Wirkkraft sind:

  • Auflösen von Blockaden
  • Kognitives Durcharbeiten
  • Selbstregulation
  • Soziale Integration
  • Selbstdarstellung

Vermutlich werden es individuelle Mischverhältnisse dieser Prozesse sein, die im Einzelfall wirken. Das wird auch durch neurowissenschaftliche Studien bestärkt.

Die Gender Forschung hat herausgefunden, dass sich männliche von weiblichen Erzählstilen unterscheiden. Dies ist wohlgemerkt der sozialen Konstruktion zu verdanken und nicht den Genen. Männliche Erzählungen orientieren sich bevorzugt an Fakten und sie schlussfolgern am liebsten. Frauen orientieren sich eher an Emotionen, deshalb fragen sie nach und deuten das Gehörte.

Dieser Befund lässt sich mit den entwicklungspsychologischen Theorien von Jaques Lacan und Daniel Stern vergleichen. Der erstere nimmt an, dass das Baby sich in einem psychischen Chaos befindet. Der andere sieht die heranwachsende Ordnung als Motor des psychischen Erwachens.

Erzählen und Krankheit

Es gibt etliche psychische Krankheitsbilder, in denen die Erzählfähigkeit eingeschränkt oder gehemmt ist.

  • Identitätsstörungen
  • Affektive Störungen
  • Persönlichkeitsstörungen

Sprechen und erzählen kann hier zu einer wertvollen Intervention werden. Wenn es z.B. in der Therapie zu Störungen des Erzählflusses kommt, kann das auf eine psychische Belastung hinweisen. Ebenso das plötzliche Verstummen oder die Weigerung, schmerzhafte Erfahrungen zur Sprache zu bringen.

Hier besteht die therapeutische Aufgabe darin, Wege anzubieten, wie das Unsagbare doch noch ausgedrückt werden kann.

Ich fand Herrn Scheidt beeindruckend in seiner Ruhe und Klarheit. Ich habe die Dichte und Konsistenz des Vortrags sehr genossen.