Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Svenja Taubner, Prof. Dr., Direktorin des Instituts für Psychosoziale Prävention, Medizinische Fakultät Heidelberg
„Gewalttätige Jugendliche verstehen und behandeln“
Frau Taubner liefert uns zunächst einen Überblick über die Relevanz ihres Themas. Weltweit machen adoleszente Jugendliche (10 bis 24-jährige) den größten Bevölkerungsanteil aus. In aller Regel ist das auch der gesündeste Anteil der Weltbevölkerung. Daraus resultiert dann aber, dass diese Gruppe den geringsten Gesundheitszuwachs verzeichnen kann. Besonders in den Ländern des globalen Nordens machen psychische Krankheiten einen Großteil der Gesundheitsrisiken aus.
Statistisch ermittelt ist auch, dass psychische Krankheiten zu 75% vor dem 25ten Lebensjahr entstehen. In der Altersgruppe der Adoleszenten sind einige besonders bedroht. Das sind Jugendliche, die wirtschaftliche Not leiden, LGBT orientierte, Wohnsitzlose und jugendliche Gewalttäter, die z.B. eine zehnmal höhere Wahrscheinlichkeit haben, früh zu versterben.
Besonderheiten der Adoleszenz
In der Entwicklung des Gehirns gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Die weibliche Entwicklung beginnt ca. 1,5 Jahre früher als bei Männern. Was geschieht, ist, dass sich sehr viele neue Zellverbindungen bilden. Diese werden dann erfahrungsabhängig wieder verringert. Die Vorstellung ist, dass sich dabei allmählich, das erwachsene Gehirn bildet.
Dieser Prozess wird als Entwicklungsfenster gesehen. Dieses Fenster ist nur eine bestimmte Zeit geöffnet. Dabei entwickeln sich die verschiedenen Gehirnregionen nicht gleichzeitig. Der Fortschritt erfolgt von innen nach außen und von hinten nach vorne, so dass die frontalen Gehirnbereiche als letzte ausreifen. Diese betreffen gerade die sog. höheren Funktionen z.B. die Zukunftsplanung.
Jugendliche, die in dieser wichtigen Reifungszeit keine Übungserfahrungen machen können, werden es sehr schwer haben, entsprechende Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen.
Beobachtet wird auch, dass sich die limbische (emotionale) und corticale (mentalen) Entwicklung zeitlich versetzt verlaufen. Das emotionale Erleben ist eine Nasenlänge voraus, was diese Zeit auch so aufregend machen kann.
Pathologien der Persönlichkeitsentwicklung
Rein beschreibende Diagnosen bieten lange Listen von Verhaltensauffälligkeiten, die wohl jeder Jugendliche irgendwie kennt – Aggressionen, Trotz etc. Wenn aus einer Liste von 21 Merkmalen in den letzten sechs Monaten drei zutreffen, könnte man diagnostizieren – allerdings ist die Trennschärfe nicht besonders gut ausgebildet.
Allenfalls der Störungsbeginn könnte noch zusätzliche Gesichtspunkte liefern, also ob das auffällige Verhalten sich schon in der Kindheit gezeigt hat oder erst mit der Adoleszenz.
Über die sog. Prävalenz, also die Anzahl von Menschen, die eine bestimmte Störung entwickeln, beträgt 5 – 10%, bei Inhaftierten steigt diese Zahl auf 37 – 68% und bei Menschen, die sich selbst verletzen liegt sie bei 30%.
Die antisoziale Persönlichkeitsstörung
Die Diagnose „Antisoziale Persönlichkeitsstörung“ (ASPS) wird von der Hälfte der Betroffenen erst im Erwachsenenalter entwickelt. Diese machen etwa 9% der Bevölkerung aus und sind für 50% der Straftaten verantwortlich. Berücksichtigt man die Kosten, die dadurch entstehen, würde es sich lohnen, wenn man solche Entwicklungen frühzeitig verhindern oder zumindest mildern könnte.
Dazu müssten allerdings etliche Fragen geklärt werden. Wie entwickelt sich die Störung? Was sind Schutz- und was sind Risikofaktoren? Welche Rolle spielen biologische, psychische und soziale Einflüsse?
Die Psychotherapie der ASPS
Die ASPS stellte lange Zeit eine große Herausforderung für Jugendämter, Justizbehörden und Psychotherapeuten dar. Es hat sich herausgestellt, dass Bestrafung keine Wirkung auf das Verhalten der Betroffenen war. Das Justizsystem hat sich eher als Risikofaktor erwiesen und gruppentherapeutische Angebote haben die Delinquenz sogar noch verstärkt. Die pessimistische Haltung: ‚Nichts funktioniert‘ hat sich breitgemacht.
Durch eine umfangreiche Metastudie wurde aber festgestellt, dass psychotherapeutische Maßnahmen die höchste Wirksamkeit entfalten und dass die Einbeziehung des sozialen Netzes in die Therapie sehr unterstützend für die Wirksamkeit ist.
Frau Taubner wollte eine spezifische Psychotherapie für ASPS entwickeln und musste sich dazu zunächst nach einem Modell umsehen, das ihr dabei helfen konnte. Die klassische psychiatrische Betrachtung ist nur beschreibend und diese war für eine evidenzbasierte PT, die sie anstrebte, nicht geeignet.
Sie nutzte also eine Betrachtung, die psychopathologische Entwicklungen von normalen Entwicklungen differenzieren kann, die Sprünge in der Entwicklung entdecken kann, die genetische und kulturelle Einflüsse berücksichtigt, interdisziplinär ausgerichtet ist, Transaktionen berücksichtigt und Risiko- und Schutzfaktoren benennen kann.
Dabei hat sich herausgestellt, dass viele Wege in Pathologien münden können – z.B. Missbrauchserfahrung, Frontallappenläsion oder genetische Einflüsse. Aber ebenso gilt, dass ein Weg zu verschiedenen Pathologien führen kann. So kann Missbrauchserfahrung sowohl zu extremem Rückzugsverhalten führen, als auch zu erhöhter Impulsivität.
Entwicklungswege
Die Entwicklungspsychologie des aggressiven Verhaltens zeigt, dass dieses Verhalten seinen Höhepunkt mit dem zweiten Lebensjahr erreicht. Zumindest ist das so bei drei Vierteln der Kinder – nur ein Viertel zeigt sich nicht aggressiv. Ab diesem Zeitpunkt nehmen aggressive Verhaltensweisen bei den meisten Kindern ab. Aber etwa 6% dieser Kinder bleiben aggressiv und das unabhängig von der Intelligenz. Diese Kinder sind allerdings weniger ängstlich. Die Schlussfolgerung daraus lautet: Gewalttätiges Verhalten muss verlernt werden bzw. dass Gewalt das Scheitern der kulturell geforderten Anpassung bedeutet.
Es folgen nun in schneller Folge etliche Diagramme und Tabellen, die wichtige Perspektivierungen darstellen. Als gut begründet gilt die Erkenntnis, dass die Probleme der Betroffenen bereits mit der Bindungsbeziehung beginnen. Fast alle zeigen vermeidende oder desorganisierte Bindungsmuster, ihr Lebensmotto besteht darin, dass sie nie wieder ein Opfer werden wollen.
Mentalisierung als therapeutisches Konzept
Über Mentalisierungsbasierte PT habe ich bereits in einem anderen Bericht geschrieben. Frau Taubner neigt ebenfalls zu dieser Herangehensweise. Sie erklärt „Mentalisieren“ so: Sich selbst von außen und die anderen von innen sehen zu können.
Wer effektiv mentalisieren kann ist neugierig auf mentale Erlebnisse – eigene und andere; es gibt ein Gewahrsein der Einflüsse, die Menschen aufeinander haben; die Einsicht, dass mentale Erlebnisse opak (undurchsichtig) sind; dass es verschiedene Perspektiven auf Geschehnisse gibt; dass es so etwas wie ein Grundvertrauen in andere gibt und die Grundeinstellung nicht paranoid ist.
Es scheint nicht verwunderlich, dass betroffene Jugendliche teilweise erhebliche Defizite in der Mentalisierung aufweisen. Die frühen Erfahrungen von abweisender, gewalttätiger oder vernachlässigender Behandlung führt zu einem feindseligen Erklärungsstil. Die Jugendlichen befinden sich in einer Art Dauer Alarmzustand, sind sehr misstrauisch und schwer zu erreichen.
Die Neurobiologie von aggressivem Verhalten
Es gehört zum Zeitgeist, dass keine psychotherapeutische Theorie mehr ohne Hirnscans auskommen kann. Wir bekommen einige solcher Aufnahmen präsentiert. Sie zeigen uns, dass Betroffene kaum über mentale Puffermöglichkeiten verfügen und deshalb eher handeln als nachdenken. Ihre Hemmschwelle ist gesunken, sie haben keine Einsicht in ihre Urheberschaft und sind nicht mit sozialen Werten identifiziert.
MBT der ASPS
Frau Taubner stellt uns kurz die Grundprinzipien der MBT dar. MBT ist ein manualisiertes Therapieverfahren und ein integrativer, transdiagnostischer Behandlungsansatz. Ihr Ziel ist die Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeiten. Für ihre Klientel hat sie ein Setting von dreißig Einzelstunden und zehn Familiensitzungen entworfen.
In der MBT ist die therapeutische Haltung zentral. Sie soll nicht-wissend sein, empathisch validierend, dabei neugierig und vielleicht sogar konfrontativ. Widerstände sollten wertschätzend behandelt werden.
Allerdings ist es nicht ganz einfach misstrauische Menschen, die gar keinen Therapiewunsch haben, in die Therapie zu bekommen. Entsprechend musste sie für ihre Studie in Kauf nehmen, dass zahlreiche Proband*innen vorzeitig abgebrochen haben.
Mit dem verbliebenen Rest konnte sie aber zeigen, dass die Gewaltbereitschaft abgenommen hat und die empathischen Fähigkeiten zugenommen. Etliche Teilnehmer*innen berichten von qualitativen Verbesserungen in ihrem Leben.
Zum Vortrag geht es hier