Soma Festival 2025

Soma Festival der Körperpsychotherapie

Die Szene der Körperpsychotherapie in Deutschland hat ein neues Format für ein Treffen ausprobiert. Anstatt eines Kongresses wurde ein Festival anberaumt. Im großen Yoga-Ashram in Bad Meinberg trafen sich viele Kollegen und Kolleginnen aus Deutschland und Europa. Ich hatte das große Vergnügen, daran teilzunehmen.

Am Anreisetag abends eröffnet Marc Rackelmann das Festival und gibt uns, unterstützt von Stefan Ide und Kathrin Stauffer einen kleinen Überblick über die Geschichte der KPT. Natürlich ist Wilhelm Reich dabei und Menschen wie Alexander Lowen, Gerda Boysen und natürlich David Boadella. Jeder Name wird durch eine kleine Erfahrung ergänzt, die für den/die Therapeut*in typisch ist. Unseligerweise wurde diese Präsentation durch einen Feueralarm vorzeitig beendet.

In der Pause bis zum Abendessen erkunde ich ein wenig das riesige Gelände und versuche, Orientierung zu finden. Es gibt zahlreich Räume für die Workshops und eine neue Idee sog. „Soma-Corners“. Gelegenheiten sich über Themen zu unterhalten wie: Wie arbeiten Therapeuten in Bulgarien/Kosovo/Italien/Deutschland? Was bedrückt mich gerade am meisten? Der schlechteste Therapeut überhaupt … An jedem Festivaltag wurde je drei solcher Soma-Corners angeboten.

Kulinarisch war ich sehr herausgefordert, denn natürlich ist die Küche im Ashram rein vegan und ebenso gibt es ein vollständiges Alkoholverbot. Ich habe mich dieser Herausforderung gestellt und souverän gemeistert.

Der Abend endete mit einer Runde „Ecstatic Dance“. Ich fand für mich leider nicht in die Ekstase, aber sehr viele der Kolleg*innen hatten große und lautstarke Freude.

Tag 2

Das Programm des zweiten Tags begann mit einem Vortrag von Maurizio Stupiggia mit dem Titel: „From Grounding to Homing-in. Cross-Cultural Pathways of the Emotional Body“. Maurizio ist im Verlauf seiner Karriere weit in der Welt herumgekommen. Insbesondere in Japan und Brasilien hat er viele Erfahrungen gesammelt.

Er berichtet über die Irritationen, die er mit seinen Vorstellungen von z.B. emotionalen Ausdrucksbewegungen, die traditionell in der KPT und in Europa als positiv und gesund betrachtet werden, in Japan allerdings ein ganz anderes Echo finden. Dort steht die soziale Harmonie im Vordergrund und dort werden die Mitmenschen eher nicht mit Emotionen belastet. Auf den ersten Blick unverständlich und leicht pathologisierend, hat er im Laufe der Zeit gelernt, diese kulturelle Differenz auch wertzuschätzen. Er macht daran den Unterschied von Grounding (Erdung) und Homing-in (~Einwohnen) deutlich. Geerdet ist die Anerkennung und der Umgang mit der umgebenden Realität, Homing-in hat etwas mit Heimat, Daheim-sein zu tun. Es ist die Qualität der Vertrautheit und Sicherheit, des Aufgehoben-seins mit anderen.

Ähnliche Erfahrungen hat er in Brasilien gemacht. Ähnlich insoweit, dass er auch dort einen ganz anderen Umgang mit Gefühlen kennengelernt hat. Insbesondere das Leid und der Schmerz wird dort über gemeinsamen Gesang ausgedrückt. Dazu zeigt er uns noch einen kurzen Film über einen Migranten, der darüber singt, wie er aus seiner Heimat vertrieben wurde, in der Wüste viele Freunde verloren hat, in der Fremde verfolgt wurde und wie er schließlich als einer von wenigen auch die Überfahrt übers Meer überlebt hat. Ein erschütterndes Zeugnis.

Nach einer kurzen Pause folgt Alexandra Algafari mit ihrem Beitrag: „OK, Boomer … Let us all breathe through that: Generational Differences in Body Psychotherapy“. Sie zeigt uns zunächst die Folge der Generationen: Baby Boomer (1946 – 1964): Aufgewachsen in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialen Wandels; geprägt von politischem Aktivismus, Optimismus und einem starken Einfluss auf die Popkultur. Boomer sind noch mit dem Wiederaufbau beschäftigt v.a. in Deutschland.

Generation X (1965 – 1980): Geboren zwischen den Boomern und den Millennials, bekannt für ihre Anpassungsfähigkeit, Unabhängigkeit und ihre Erfahrungen mit dem Aufkommen der Technologie. Sie sind auch als Schlüsselkinder bekannt geworden. Sie sind sehr selbstständig, haben es aber schwer, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken.

Generation Y / Millennials (1981 – 1994): Erste Generation, die in der digitalen Ära aufwuchs; geprägt von Technologie, einem starken Fokus auf Individualität, Flexibilität und einer wachsenden Bedeutung von sozialen Medien. Das ist die Generation der Hetze, Eile und der Schnelligkeit.

Generation Z (1995 – 2009): Aufgewachsen mit moderner Technologie, häufig als die ersten digital natives bezeichnet; vielfältig, global vernetzt und engagiert für soziale Gerechtigkeit und Umweltfragen. Hier kommen gänzlich andere Werte ins Spiel, die ein Boomer wie ich kaum nachvollziehen kann.

Generation Alpha (ab 2010): Geboren in einer Zeit des technologischen Fortschritts, geprägt von digitaler Kompetenz, einer diversen Gesellschaft und einem Potenzial für zukünftige Innovationen. Es ist noch etwas zu früh, über diese Generation zu sagen.

Natürlich ist das alles sehr holzschnittartig, aber es gibt einen Eindruck, wie das Lebensalter mit Werten und Erfahrungen zusammenhängt, die dann in der Therapie sehr relevant werden können. Die Herausforderung und Aufforderung, die bei diesem Festival fast ständig zu hören ist, lautet, offen und neugierig zu bleiben.

Workshops

Nach der Kaffeepause (der Kaffee wurde extra für das Festival zubereitet) suche ich mir einen Workshop aus. Workshop aussuchen, war für die Veranstalter ein Lernfeld. Ca. 300-400 Teilnehmer*innen sollen sich am Tag vor dem Workshop entscheiden, was sie besuchen wollen. Das gab einen enormen Andrang und die letzten mussten nehmen was übrigblieb.

Ich besuchte den Workshop von Iva Hristova: „Listen! Your body has something to tell you“. In einem schönen Raum stellte uns Iva ihr Projekt vor. Elemente der Tanztherapie verbunden mit einem Stein und einem Duftöl, das ich auf Wunsch auf meinen Handrücken bekam. Dann folgte eine zunächst geführte Körperreise in eine Form von Selbstverbindung, ähnlich dem Authetic Movement oder auch dem Butoh Tanz, in dem ich meine Körperimpulse wahrnehmen, erforschen und zum Ausdruck verhelfen durfte. Und tatsächlich erlebte ich einen sehr schönen, sehr tiefen Prozess. Ein Tanz auf dem Boden, liegend den Raum um mich herum erforschend. Also ging ich gut zentriert und geerdet in die kurze Mittagspause.

Danach wählte ich Federica Raso mit ihrem Angebot: „Connecting with your strength“. Federica erläuterte kurz den Hintergrund ihrer Arbeit mit Bioenergetik und Playfight. Sie warnte uns vor, dass der Workshop sehr dynamisch werden würde und das wurde er auch. Eine Reihe von Aufwärmübungen alleine und mit Partnern brachte alle Teilnehmer*innen in Stimmung für den „Fight“. Dazu hatte sie Matratzen ausgelegt. Die Spielregeln waren einfach. Wer kämpfen will, kämpft auf den Knien, er kann sich verschieden Vorbedingungen erbitten – z.B. kämpfen als wenn ich verletzt wäre oder einfach kämpfen. Natürlich sind Schläge und gefährliche Techniken verboten. Beide Schultern auf dem Boden ergibt eine Unterbrechung und der Zeitraum beträgt vier Minuten. Anschließen würdigen sich die Gegner*innen gegenseitig und erhalten auch Wertschätzung von der Gruppe.

Dann begannen etliche Kämpfe – Mann gegen Mann, Frau gegen Frau und Mann gegen Frau, jung gegen alt, schwer gegen leicht, kräftig gegen weniger kräftig. Es waren viele schöne Begegnungen, in den Entschlossenheit, Kampfgeist, Anmut u.v.m. zu bezeugen war.

Schließlich ging es in ein Gruppenspiel mit fließenden Übergängen – jeder durfte sich ein- aus auswechseln. Eine schöne Gelegenheit, auch für mich, mich mal wieder auf ein Kämpfchen einzulassen – es hat mir viel Spaß gemacht.

Vortrag und Interview

Nach der Pause sahen wir zunächst ein Video, in dem Stephen Porges uns seine „Polyvagale Theorie“ vorstellte. Diese ist insbesondere bei Trauma-Therapeut*innen sehr populär und beliebt, da sie auf plausible Art traumatisches Erleben und die heilsame Wirkung von „Vagus-Stimulation“ durch Mitmenschen begründen kann. Die Theorie an sich hat durchaus Kritiker und wird von einigen Fachlauten eher skeptisch eingeschätzt. Danach wurde Stephen Porges auch befragt als er dann live zugeschaltet wurde. Er relativierte die Kritik und verwies auf die erfolgreiche Arbeit, die seiner Ansicht nach mithilfe der Theorie getan wird. Ich werde mich bei Gelegenheit noch einmal intensiver damit befassen.

Nach diesem Vortrag und der Diskussion war ich so müde, dass ich auf die Soma-Corners und die Silent-Disco verzichtet habe und sehr früh ins Bett ging.

Tag 3

Der nächste Morgen begann mit einem weiteren Vortrag. Die Referentin war Merete Holm Brantbjerg und der Titel des Vortrags lautete: „Curious about what can go missing in stress and trauma?“ Das Phänomen der Übererregung im Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen ist gut bekannt. Aber was ebenfalls häufig vorkommt ist ein „Shut Down“, das Herunterfahren aller Systeme um zu überleben. Dieser Shut-Down kann das ganze System betreffen oder auch nur Teile davon. Stille breitet sich, Bewegungen kommen zum Erliegen, die Atmung wird flach und flacher. Häufig werden diese Anzeichen übersehen, weil es in anderen Körperbereichen gerade energetisch zugeht – die Augen sind weit aufgerissen, Hände öffnen und schließen sich, die Beine zittern … Merete ermahnt uns, auch auf die stillen Momente und Bereiche zu achten. Mit ihnen verbunden ist häufig Hoffnungslosigkeit und Selbstaufgabe. Sie ermutigt uns weiter sorgfältig dosiert in Intensität und Zeitaufwand mit stillen Bereichen Kontakt aufzunehmen. Die Bereiche zu identifizieren, in denen ein Muskel oder Klient insgesamt sich aufgegeben hat. Sie berichtet von vielen erfolgreichen Situationen, die sie so begleitet hat.

Nach der kurzen Pause betritt nun Matthew Appleton das Rednerpult. Er möchte uns etwas über: „The Matrix of Pre and Perinatal Trauma“ erzählen. Die Kongresssprache ist übrigens Englisch und überwiegend ein gut verständliches Englisch. Es gibt auch einen Übersetzungsdienst. Aber zurück zu Matthew. Er hat auch eine schöne Präsentation mitgebracht, mit deren Hilfe er seinen Input erläutert. Er betont, dass wir alle durch einen Geburtsprozess hindurchgegangen sind, und seine These ist, dass diese Erfahrung uns auch alle noch prägt – insbesondere in Übergangssituationen.

Aber zunächst berichtet er über seine Arbeit mit Babys oder besser gesagt „Schrei-Babys“ die selbst sehr belastet sind und ihre Eltern nicht selten an deren Grenzen bringen. Er unterscheidet hier das „Memory Crying“ – Weinen, weil der Geburtsprozess so schmerzhaft erinnert wird und Weinen aus Bedürftigkeit. Für letzteres wissen die meisten Mütter schnell, was zu tun ist.

Er erläutert uns im Schnelldurchgang vier Geburtsphasen. Phase 1 findet im Becken statt. Erfahrung von Druck, der sich bei Erwachsenen oft beim Beginn neuer Projekte wiederholt. Aber auch das „No Way out“ Gefühl, das manche Menschen in geschlossenen Räumen befällt. Gefühle von Hoffnungslosigkeit bis hin zur Depression können damit verbunden sein oder auch der Impuls, einfach hier raus zu müssen.

Die Stufe 2 findet in der Mitte des Beckens statt. Das Ungeborene muss sich nun drehen um in den Geburtskanal eindringen zu können. Matthew verbindet das mit Orientierungsverlust oder der Angst verloren zu gehen. Andererseits ist diese Phase auch assoziiert mit dem Vertrauen in die eigenen Instinkte. Weiter können Impulse auftauchen, die von einer Welt in eine andere wollen. Manche Menschen erleben sich zwischen Kopf und Herz gespalten. Auch Überzeugungen, sich immer falsch zu entscheiden, können mit dieser Phase verbunden sein.

Die Stufe 3 findet nun im Beckenausgang statt. Es geht darum, trotz Erschöpfung durchzuhalten oder eben aufzugeben. Ist es möglich, Schritt zu halten (mit den Wehen). Andere Erfahrungen können sich als die Erfahrung, gegen eine Mauer zu schlagen, zeigen. Oder auch Spekulationen darüber, wie es sein wird, wenn andere einen entdecken und sehen werden.

Die Stufe 4 ist schließlich die Ankunft in der neuen Welt. Hier kann eine Trennungsangst zurückbleiben. Die ersten Erfahrungen damit, wie ich angesehen werde – willkommen? Oder doch nicht so? Ist die Welt ein sicherer Ort? Sätze wie: „Ich muss schlecht sein, damit ich das verdiene.“ Können hier ihren Ursprung haben und zwischenmenschlich kann Berührungsangst und Rückzug hier mitgeboren worden sein.

Matthew beantwortet noch etliche Fragen auf sehr kompetente Art. Am Ende noch eine Statement, das ich von Herzen teile: „Trauma ist nicht das, was uns widerfahren ist, sondern das, was wir in uns tragen.“ Ich beschließe, nachher seinen Workshop zu besuchen.

Workshops

Aber vorher besuche ich „The embodied visceral Core-self – An Hands-on Session“ bei Siegfried Bach. Es wird eine kleine Wiederholung einiger bioenergetischer Übungen, einige sogar neu für mich und danach die Anleitung zu einer wohltuenden Tiefenentspannung – wirklich sehr erholsam, aber leider keine Hands-on.

Umso mehr freue ich mich jetzt auf Matthew, der seinem Workshop den Titel „The Birth-Story in the Body“ gegeben hat. Er möchte, dass wir nach dem Workshop Spuren der Geburt bei unseren Mitmenschen sehen können. Eine weitere kleine Präsentation erleichtert uns das Verständnis der schon im Vortrag genannten Geburtsphasen. Jetzt wird es aber sehr viel deutlicher wie anstrengend und fast schon gewalttätig eine Geburt sein kann. Gerade im Übergang von Phase zwei zu drei muss das Ungeborene eine sehr enge Stelle passieren, an dem nicht selten der Nasenknorpel sich vom Knochen löst. Manchmal verschieben sich die Schädelknochen so stark, dass einer unter den anderen gedrückt wird – bei Matthew war das der Fall. Es ist wieder ein sehr eindrücklicher Vortrag. Als Erfahrung bietet er uns an, dass wir mit einem Partner eine Beobachtungsübung machen. Einer betrachtet das Gesicht des Gegenübers und beschreibt, was er sieht. Wir bekommen dafür viel Zeit und die Übung ist intensiver, als sie sich vielleicht anhört. Das genaue Beobachten entfaltet nach und nach die Details im Gesicht des Gegenübers. Und die Schilderung meines Gesichts durch das Gegenüber ist irgendwie wohltuend für mich.

Matthew ermahnt uns, nett und neugierig zu uns und zu anderen zu sein. Die Asymmetrie in Gesicht und Körper anzunehmen und auch als Erinnerung an die Geburt zu betrachten und eben nicht als einen Makel, wie es so häufig der Fall ist.

Am späten Nachmittag biete ich dann selbst noch meinen Workshop an: „Raum – Grenze – Kontakt“ ist der Titel. Ich versammle immerhin sieben interessierte Interessent*innen und darf mit einer italienischen Kollegin demonstrieren, wie mein Teppich-Setting funktioniert. Die Erfahrung wird sehr positiv aufgenommen und ich freue mich sehr über die positiven Feed-Backs.

Am Abend war eigentlich ein Konzert angesagt, aber dieses musste aus unbekannten Gründen abgesagt werden. Stattdessen gab es Musik aus der Konserve. Die Stimmung war sehr ausgelassen.

Tag 4 und Abreise

Am nächsten Morgen habe ich mich früh auf den Nachhauseweg gemacht und den letzten Redebeitrag versäumt. Insgesamt fand ich dieses Format sehr reich und inspirierend. Es hat mir wieder einmal richtig Lust gemacht, mich mit KPT zu befassen und auch über die Vielfalt der Methoden und Herangehensweisen zu staunen. Gerne mehr davon.

Die Psychosomatik erkundet das Selbst III

Bericht vom 02.07.24 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Fynn-Mathis Trautwein Dr. rer. nat, Systemische Gesundheitsforschung, Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Freiburg:

Zwei Masken
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 „Das Selbst im Spiegel der Meditation: Kontemplative und neurowissenschaftliche Perspektiven“

Das sog. Selbst und das Selbsterleben stehen auch im Zentrum von meditativer Erfahrung. Meditation hat Effekte auf das Selbsterleben, einige davon sind erwünscht, andere weniger. Herr Trautwein möchte uns damit bekannt machen, was die Forschung heutzutage über die neuronalen Korrelate dazu herausgefunden hat. Aber nicht nur, auch einen phänomenologischen Zugang möchte er mit uns erkunden. Dieser trägt den Namen „Neurophänomenologie“ und der berühmte Biologe Francisco Varela hat diese begründet. Er sagt: „Jede Wissenschaft von Geist und Bewusstsein muss früher oder später mit der Grundbedingung zurechtkommen, dass wir keine Ahnung davon haben, was das Mentale oder Kognitive überhaupt sind, außer dass wir es selbst erleben.“ (Übersetzung BL) Psychologie und Kognitionswissenschaften brauchen also notwendig die Perspektive der persönlichen und subjektiven Erfahrung um voranzukommen. Diese wird klassischerweise als Erste-Person-Perspektive bezeichnet, die nun systematisch mit einer forschungstypischen Dritte-Person-Perspektive verknüpft werden soll.

Varietäten des Selbst

Bevor er das vertiefen wird, möchte Herr Trautwein noch einige Informationen vorausschicken. Es geht um das Verständnis dessen, was wir unter „Selbst“ verstehen wollen. Zwei Richtungen sind bekannt, deren eine das narrative/konzeptuelle/reflektive Selbst genannt werden könnte. Es verfügt über autobiografisches Wissen, ein Selbstkonzept und besitzt eine soziale Identität – es nimmt sich selbst zum Objekt.

Die andere Richtung bringt ein verkörpertes/minimales/präreflexives Selbst ans Licht. Es ist mit dem Körper identifiziert, ist das handelnde Selbst, verfügt über Selbstlokalisation und besitzt eine Ich-Perspektive, das direkten Zugang zu den basalen Körpergefühlen hat. Es ist das Selbst als Subjekt.

Selbst als Objekt

Es gibt bereits zahlreiche empirische Befunde zum narrativen Selbst. Es ist mit Aktivität im sog. „Default Mode Network“ assoziiert. Das sind Gehirnbereiche, die aktiv sind, wenn wir uns gerade mit nichts Besonderem befassen. Fast fünfzig Prozent der Zeit verbringen wir mit dieser „Fokussierung kognitiver Prozesse auf selbst-relevante Inhalte“. Selbstrelevant ist, wenn wir uns selbst Aufmerksamkeit schenken, unser Gedächtnis nutzen oder uns selbst ein wenig rosiger sehen, als wir es tatsächlich sind. Das ist wichtig für die Selbstwertregulation, so dass das Selbst schon einmal als „verzerrtes kognitives Konstrukt“ bezeichnet wurde. Es spricht einiges dafür, dass dies notwendig für ein gesundes, integriertes und selbstwirksames Ich ist.

Selbst als Subjekt

Es gibt inzwischen eine zunehmende empirische Forschung zum verkörperten Selbst. Das ist naturgemäß schwieriger als bildgebende Verfahren, hält sich dieses subjektive Selbst doch eher im Hintergrund der Erfahrungen auf. Bereits im Eröffnungsvortrag von Herrn Metzinger wurden die Forschungssettings mithilfe von virtuellen Realitäten dargestellt.

Ein weiterer Zugang stellt die Hypothese dar, dass das verkörperte und handelnde Selbst ein Produkt der Eigenaktivität des Organismus sein könnte. Da der Organismus ohnehin ständig in Interaktion mit seiner Umwelt ist, wirkt diese auf die Regulation des Körpers. Dies wiederum stößt eine Selbstregulation der Kognition an.

Veränderte Bewusstseinszustände

Veränderte Bewusstseinszustände könnten eine Möglichkeit bieten das Phänomen des Selbst besser zu verstehen. Damit kommt die Frage auf, ob es eine Art von „Selbstspezifität“ eine exklusive und nicht-kontingente Eigenschaft des Selbst geben kann. Welche Art von Wahrnehmung ist noch mit dem Selbst verbunden und dann stellt sich schnell heraus, dass das konzeptionelle Selbst (Narration) nicht notwendig für ein Selbstgefühl ist. Die Frage, ob auch auf das verkörperte Selbst verzichtet werden kann, ist Gegenstand derzeitiger Forschung. Gesucht wird das ‚Minimale Phänomenale Erleben‘.

Um diesem MPE auf die Spur zu kommen bietet sich Meditation an. Hierbei könnten erfahrene Meditierende behilflich sein, die mit den veränderten Bewusstseinszuständen sehr vertraut sind.

Meditation

Was für Meditationen gibt es überhaupt? Kann man eine einheitliche Definition geben? Eine Formulierung könnte lauten: Praktiken, die Körper und Geist selbst regulieren, die durch spezielle Aufmerksamkeit geistige Ereignisse hervorrufen. Dies ist allerdings einigermaßen unscharf und so fokussiert sich die Forschung auf ‚Achtsamkeitsmeditation‘.

Es geht dabei um Aufmerksamkeitsregulation – das Meta-Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung. Die affektive Haltung besteht dabei aus Offenheit, Neugierde, Akzeptanz

Eine weitere Betrachtung sind Familienähnlichkeiten von Praktiken. Da finden sich eher fokussierte oder eher offene Arten der Aufmerksamkeit. Dann gibt es die Meditationen, prosoziale Werte und Gefühle adressieren – konstruktiv genannt und dekonstruktiv wären Meditationen, die Zusammenhänge, die gesehen werden, auflösen können.

Meditierende 

Meditation findet eine zunehmende Verbreitung – 11 % der Befragten geben an täglich zu meditieren. 79 % haben schon einmal Meditation erprobt.

Die positive Wirkung auf Gesundheit und Wohlbefinden ist gut etabliert, so gibt es eine klinische Studie, die moderate Evidenz für Reduktion von Ängsten, Depressionen, chronische Schmerzen, Sorgen und verbesserte Lebensqualität zeigt.

Bei einer weiteren Studie wurde bei einer gesunden Population große Effekte auf Stress und moderate auf Angst Depression zeigt, sowie ebenfalls eine verbesserte Lebensqualität.

Aktuelle Forschungsfragen drehen sich darum, was bei fortgeschrittenen meditativen Praktiken und tiefen Meditationszuständen hinzukommen mag. Ganz grundsätzlich wird nach Modellen und Mechanismen gesucht, die erklären können, wie durch die im Grunde genommen simple Praxis der Meditation solche eindrucksvollen Effekte entstehen können.

In den Blick kommen auch Nebenwirkungen, also unangenehme Veränderungen im Selbsterleben und der Versuch, die entsprechenden neuronalen Prozesse zu verstehen.

Meditation und Selbsterleben

Eine sehr alte Tradition der Meditation stammt von Buddha bzw. dem Buddhismus. Für diesen spielt die Entstehung von Leid eine zentrale Rolle und eine wichtige Quelle von Leid ist die fehlgeleitete Sicht auf das Selbst. Mediation ist die Möglichkeit, dies zu verändern. Dazu noch ein Zitat: „Den Weg zu studieren, heißt das Selbst zu studieren. Das Selbst zu studieren heißt das Selbst zu vergessen. Das Selbst zu vergessen heißt von allen Dingen des Universums erleuchtet zu werden.“ Dieser kurze Ausflug in die Spiritualität soll genügen, stiftet aber den Übergang zur neuzeitlichen Forschung. Diese hat herausgefunden, dass das „Decentering“ ~ Desidentifikation eine hilfreiche Wirkung in der achtsamkeitsbasierten Depressionstherapie hat.

Als Beispiel bekommen wir eine kleine Grafik. Diese beginnt mit einer Wahrnehmung/Gedanken, dem eine Identifikation folgt, der wiederum eine Reaktivität folgt. Der Gedanke könnte sein: Das war ein Fehler und die sich daraufsetzende Identifikation könnte lauten: Nichts gelingt mir. Woraufhin die Reaktivität mit Traurigkeit und Hilflosigkeit reagiert. Mit der Fähigkeit des Meta-Gewahrseins ist es möglich, den Gedanken zu erkennen >>nichts gelingt mir<< und sich von diesem Gedanken zu desidentifizieren und damit auch neue Reaktionen zu ermöglichen.

Empirische Forschung: Effekte auf den narrativen/konzeptuellen Ebene

Diese Praxis ermöglicht den Meditierenden, sich weniger mit sich selbst zu beschäftigen, was sich z. B. darin zeigt, dass das Default Mode Network weniger aktiv ist. Auch andere Versuchssettings mit erfahrenen Meditierenden bestätigen diesen Effekt.

Gibt es auch Effekte auf das verkörperte/minimale Selbst?

Dazu stellt uns Herr Trautwein eine qualitative Forschung an Langzeitpraktizierenden vor. Von diesen berichteten 75 % von aversiven Erlebnissen. Sie schilderten intensive Veränderungen im Selbsterleben z. B. Verlust von Selbst-Welt Grenze. Dieser Effekt ist gut bekannt. Schon kurze Achtsamkeitsübungen z. B. ein Body-Scan können zu diffuserem Erleben der Körpergrenzen führen.

Wie sehen nun die Phänomenologie und die neuronalen Prozesse des veränderten Selbsterlebens bei intensiver Praxis aus?

Bei einer Studie in Israel wurden Interviews und verschiedenste Untersuchungen mit einem sehr erfahrenen Meditationslehrer durchgeführt. Er berichtete von einem graduellen Prozess der Auflösung der Selbst-Welt Grenze. Dies korrelierte mit einer reduzierten Beta-Aktivität in bestimmten Gehirnregionen.

Anschließend wurde versucht, ob dieses Ergebnis replizierbar und generalisierbar in einer größeren Stichprobe wäre. Die Probanden erhielten den Auftrag, sich abwechselnd ihres Körperselbst bewusst zu bleiben (Agency) und dann die Kontrolle loszulassen und in die Entgrenzung zu wechseln und das mehrere Male. Alle Proband*innen wurden gescannt und danach interviewt. Sowohl die Scanner Aufnahmen als auch die Interviews ergaben ähnliche Ergebnisse wie erwartet. Neurophysiologisch ist ein deutlicher Unterschied zwischen Entgrenzung und Agency wahrnehmbar.

Herr Trautwein kommt zu einem Fazit:

Die innere Distanzierung von Aspekten des narrativen/konzeptuellen Selbst ist ein grundlegender Prozess in der Achtsamkeitsmeditation.

Auch das verkörperter Selbst wird durch Meditation beeinflusst

Diffusere Köper-Welt-Grenzen entstehen schon nach einer kurzen Achtsamkeitsübung.

Auflösung der Selbstwahrnehmung als räumlich verkörpertes, mit der Welt interagierendes Subjekt in Meditationszuständen fortgeschrittener Meditierender

Dies geht einher mit reduzierter Aktivität in sensomotorischen Arealen sowie (bei umfassenden Entgrenzungserfahrungen) im posterioren medialen Cortex

Das bedeutet:

-> empirische Evidenz für das Selbst als dynamischen (en-)aktiven Prozess, welcher durch (mentale) Handlung hervorgebracht wird

-> der Einbezug der Erste-Person-Perspektive kann zum Verständnis des Gehirns beitragen

Damit begründet Herr Trautwein, dass „das Selbst ein dynamischer und aktiver oder enaktiver Prozess ist, also ein Prozess, der sich quasi aus seiner eigenen Aktivität hervorbringt. Das heißt, das Selbst entsteht durch die mentale Handlung, auch durch die körperliche Handlung und Interaktion mit der Welt und ist quasi ein Prozess, der ständig immer wieder hervorgebracht wird.“

Auf einer methodischen Ebene sind diese Ergebnisse ein Stück weit eine Bestätigung für die Idee, dass der Einbezug der ersten Person Perspektive die empirische Forschung ergänzen und bereichern kann.

Implikationen

Meditationen haben also einen Einfluss auf die Befindlichkeit. Dies trifft auf einen Zeitgeist, in dem unerwünschte Nebenwirkungen von Meditation bekannt werden. Die Frage bleibt, was ist erwünscht und was nicht?

  1. Nebenwirkungen von Meditation durch unerwünschte Veränderungen im Selbsterleben
  2. Veränderungen im Selbsterleben als Wirkmechanismus von Meditation?

Je nachdem wen man wie fragt, kommen die Forscher zu unterschiedlichen Ergebnissen. Bekannt ist die qualitative Erfassung an Personen mit belastenden Meditationserfahrungen. Es gibt Befragungen, die über diverse z. T. stark belastende Erfahrungen in verschiedenen Bereichen berichten – kognitiv, perzeptuell, affektiv, somatisch, sozial und im Selbsterleben. Bei 73 % moderate bis schwer, anhalten Beeinträchtigung, bei 17 % Hospitalisierung – Zahlen, die lt. Herrn Trautwein mit Vorsicht zu betrachten sind.

Denn, bei diesen erlebten Veränderungen im Selbsterleben müssen Überlappungen mit Psychopathologien berücksichtigt werden, also differenzialdiagnostische Erwägungen getroffen werden.

Die seriösere Erfassung in repräsentativen Stichproben berichten von 30 -50 % unerwünschten Nebenwirkungen wie Ängste, traumatische Erinnerungen und emotionale Sensitivität.

Bei 10 % ergaben sich dadurch funktionelle Beeinträchtigung, die zeitlich begrenzt auf kürzer als eine Woche waren.

Bei belastenden Kindheitserlebnissen wird das häufiger erlebt. Der wahrgenommene Nutzen war aber davon unabhängig.

Herr Trautwein folgert daraus:

-> die Notwendigkeit systematischer Forschung: Personen- und Kontextfaktoren? Kausalität?

-> eine Qualitätssicherung in der Ausbildung in angebotenen Gesundheitsprogrammen und Interventionen

Es bleiben offene Fragen. Z.B. ob die Veränderungen im Selbsterleben ein Wirkmechanismus von Meditation sind? Oder ob Selbsttranszendenz als transdiagnostischer Prozess betrachtet werden kann?

Ein spannender und informativer Vortrag:

https://uni-freiburg.cloud.panopto.eu/Panopto/Pages/Viewer.aspx?id=2809ec5f-058c-44c1-8cbb-b12c01035f24

Die Psychosomatik erkundet das Selbst II

Zwei Masken
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Bericht vom 18.06.24 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Kristina Musholt Prof. Dr., Kognitive Anthropologie, Institut für Philosophie, Universität Leipzig:

„Wie ich werde, wer ich bin: zur Entwicklung des Selbst in der Interaktion mit Anderen“

Frau Musholt stellt sich uns als analytische Philosophin vor und präsentiert uns zunächst die Gliederung, mit der sie uns durch den Vortrag führen möchte. Sie benennt dazu folgende Punkte:

Verschiedene Selbstbegriffe

Stufen der Selbst-Fremd-Differenzierung

Die 2.-Person-Persperktive/Social Scaffolding

Die Rolle der Sprache

Die Rolle der Emotionen

Die zwei Seiten der Sozialisation

Sie nimmt nun auch gleich ihr Fazit vorweg, nämlich das Plädoyer für die zwei Seiten der Sozialisation – als Voraussetzung für die Individuation – aber auch als mögliche Einschränkung der Individuation.

Arten von Selbstbewusstsein

Körperbewusstsein

Unser Körperwissen ist nahezu ständig und ohne Worte präsent. Wir spüren uns einfach und diese basale Selbstgewissheit ist der Ausgangspunkt für weitere Arten des Selbstbewusstseins.

„Ich“-Gedanken

Sobald Worte hinzukommen, kommt auch das Wörtchen „Ich“ ins Spiel, nämlich sobald ich über mich selbst spreche.

Selbst-Konzept/autobiografisches Narrativ

Ab einem gewissen Alter entwickeln Menschen eine Erzählung über sich selbst, eine Geschichte über unsere Eigenarten und Werte, eine Lebensgeschichte.

Rationalität

In der Philosophie bezeichnet man auch gerne die Fähigkeit zur Vernunft als Selbstbewusstsein.

Selbstwissen

Das Selbstwissen ist nicht das gleiche wie das Wissen um andere. Das typische Beispiel dafür ist die Erfahrung von Schmerz. Dieser stellt eine unangenehme Form von unmittelbarem Wissen dar, das wiederum unteilbar mit anderen Menschen ist. Ein anderer Mensch kann mir mitteilen, dass er Schmerzen hat, aber dies ist eben ein anderer Erkenntniszugang, weshalb der Philosoph Ernst Tugendhat dieses Phänomen „Epistemische Asymmetrie“ nennt.

Andere Arten von Selbstwissen

Eine explizitere Art von Selbstwissen illustriert die Vortragende mit dem Orakel von Delphi. Dort tauchen Fragen auf, wie: Was bin ich für ein Mensch? Was ist mir wichtig im Leben? Welche Werte habe ich? Solches Wissen über sich ist schwerer zu erlangen und braucht notwendig andere. Das wird auch als triviales vs. substanzielles Selbstwissen genannt.

Kein Selbstbewusstsein ohne andere

Wir brauchen andere für unser Selbstwissen, sogar für das triviale Selbstwissen des Schmerzes, denn wir leben in verkörperten Interaktionen und zwar vom ersten Moment unserer Existenz an. Die Erfahrungen in diesen Interaktionen formen unser Selbstverhältnis wesentlich mit – ob ich liebevoll oder nachlässig, vorhersehbar oder zufällig versorgt worden bin. Diese frühen Erfahrungen formen bereits das Körperbewusstsein.

Ich-Gedanken

Auch Ich-Gedanken erfordern Kontakt mit anderen. Bevor ein Mensch lernt, „Ich“ zu sich zu sagen, erlebt er zahlreiche sprachliche Interaktionen. Ein Ich kann erst im Kontrast zu einem anderen Menschen einer anderen Perspektive entstehen. Dieser Multiperspektivismus ist eine menschliche Grunderfahrung.

Selbstkonzept

Auch diese Fähigkeit, sich selbst Prädikate zuzuschreiben, kann nur durch Interaktion mit anderen erworben werden. Dies liegt einfach daran, dass sprachliches Bewusstsein zwangsläufig sozial eingewoben ist.

Stufen der Selbst – Fremd-Differenzierung

Nun folgt ein kleiner Überblick über die Entwicklungspsychologie. Angeboren ist die menschliche Fähigkeit, von Geburt an den Gesichtsausdruck eines Gegenübers zu spiegeln. Säuglinge bevorzugen auch schon deutlich die Stimulierung durch andere Menschen.

Neun-Monats-Revolution

Im Alter von 9 -15 Monaten findet die sog. Neun-Monats-Revolution statt. Das Kind entwickelt die Fähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit – eine Fähigkeit, die Menschen ganz speziell entwickeln.

Soziale Referenz

Im Alter von 8 – 24 Monaten entwickelt das Kind eine Fülle von neuen Fähigkeiten. Es besteht den Spiegeltest, kann sich also selbst im Spiegel erkennen und entwickelt damit eine Vorstufe der Theory of Mind – ein implizites Wissen, dass andere Menschen eine Perspektive auf mich haben.

Es entwickelt auch „Selbstbewusste/Sekundäre“ Emotionen wie Schüchternheit, aus dem Wissen, dass der andere mich sieht und Unterschiede in Wünschen oder Geschmäckern werden realisiert. Das Kind beginnt selektiv zu imitieren, zeigt Empathie zu Mitmenschen, kann also schon eine andere Perspektive übernehmen. Sog. „Turn-taking Activities“, also gemeinsame Tätigkeiten, mit geteilten Aufgabe, werden möglich.

Ab ca. vier Jahre

Um die Zeit des vierten Lebensjahres entwickeln Kinder die Fähigkeit sog. False-Belief Aufgaben zu lösen. Es geht dabei um die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, welche Überzeugungen ein anderer Mensch auf der Grundlage seines Hintergrundwissens haben muss. Das Kind gewinnt auch die Fähigkeit, andere bewusst zu täuschen und ganz allgemein die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.

Die erlangten Fähigkeiten, über sich und anderer nachdenken zu können, entwickeln sich ein Leben lang weiter. Dabei gehen die früheren Stufen nicht verloren. Wir bekommen noch einen tabelarischen Überblick.

Die 2.-Person Perspektive

Andere begegnen uns nicht als Objekte, sondern als Personen, als „Du“. D.h. sie begegnen uns als jemand, der uns zu etwas auffordern und nach Gründen für unser Verhalten fragen kann ( z. B. Fichte, Mead, Habermas, Levinas).

Anders ausgedrückt: Als Personen begegnen wir uns im Raum der Gründe d. h. im Raum der geteilten Normativität (Sellars). Wir spielen das Spiel uns gegenseitig Gründe zu geben und zu nehmen (Brandom).

„A person, perhaps, is best seen as one who was long enough dependent upon other persons to acquire the essential arts of personhood. Persons essentially are second  persons, who grow up with other persons.“ Annette Baier

Eine Person zu werden braucht also andere Personen, um das Miteinander im Raum der Gründe zu erlernen

Scaffolding

Scaffolding bedeutet so etwas wie ‚Gerüstbau‘ und befasst sich mit der Frage, wie Kinder in den Raum der Gründe eingeführt werden können. Dies erfordert eine aktive Strukturierung sozialer Interaktion (social scaffolding) von Seiten der Erwachsenen.

Sprache und Affektivität für Scaffolding

Wir lernen nun das „Sustained Shared Thinking (SST)“ ein Modell, mit dem die Vortragende selbst schon geforscht hat. Darin geht es darum, sich in der Welt der Gründe zu bewegen – Gründe abzuwägen, andere Gründe gelten lassen zu können …

Bewährt haben sich „interaktive Dialoge mit einer spezifisch explikativen Dimension“. Dieser ist charakterisiert durch:

  1. Anbieten einer Erklärungshypothese (Ich denke …, Ich vermute …)
  2. Signalisieren eines reduzierten epistemischen Status und das Explizitmachen der Quellen und Gründe für die angebotene Hypothese
  3. Aufforderung an das Kind, sich am gemeinsamen Denkprozess zu beteiligen

Wir bekommen ein anschauliches Beispiel für eine solche Interaktion, das nun auch noch semantisch erläutert wird.

Semantische Faktoren

  1. Macht inferenzielle (schlussfolgernde) Beziehungen explizit (Brandom)
  2. Über das Überprüfen und Einfordern epistemischer Validität
  3. Lädt zur Suche nach Gründen ein
  4. Durch SST werden genau die Eigenschaften von Sprechakten eingeübt, die wesentlich für das Navigieren im „Raum der Gründe“ sin

Narrative Identität

Theorien narrativer Identität zufolge lernen wir, wer wir sind, indem wir die eigene Biografie erzählen und damit zugleich interpretieren, einordnen und so unserem Selbst zu einer gewissen Kontinuität und Einheit, gerade angesichts stetiger äußerer und innerer Veränderungsprozesse verhelfen (Schechtman, Henning, Crone). Einzelne Aspekt werden gerne besonders hervorgehoben. Die Erzählung von Lebensepisoden können so die bevorzugten Eigenschaften hervorheben.

Hier vermischen sich dann auch Erzählungen von anderen über uns und auch die kulturellen Geschichten und Narrative fließen in die Selbsterzählung ein.

Nun möchte Frau noch auf die Rolle der Gefühle eingehen.

Affektivität

Soziale Interaktionen sind in aller Regel affektiv besetzt – wir finden die Dinge, die wir erleben, irgendwie.

Ein Kind lernt während Episoden sozialer Interaktion welche Objekte und Situationen welche Art von emotionaler Antwort einfordern, wie Emotionen identifiziert und benannt werden, aber auch welche Verhaltensdispositionen im Zusammenhang mit einer emotionalen Reaktion sozial angemessen sind.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Social referencing. In einer unbekannten Situation nutzt das Kind die mimischen und emotionalen Signale der Bezugsperson zur Orientierung.

Die Rolle der Emotionen

Kinder müssen lernen, die Emotionen richtig zu benennen und mit ihnen umzugehen. Das gelingt, indem sie den Ausdruck und das Erleben von Emotionen durch die Bezugsperson miterleben (funktionale Kopplung) – das Kind ist dabei, wenn die Bezugsperson in einzelnen Situationen emotional reagiert. Dabei gibt es sowohl kulturelle als auch familiäre Differenzen.

Darüber hinaus sind Emotionen so etwas wie kognitive Rahmen, die unsere Wahrnehmung der Welt, insbesondere der sozialen Welt, strukturieren. Emotionen können geradezu als Quelle unserer praktischen Gründe verstanden werden. Die Wut, die ich z. B. verspüre, wenn ich eine Ungerechtigkeit wahrnehme.

Gefühle werden neuerdings philosophisch nicht mehr als scharf getrennt von Kognitionen gedacht. Vielmehr wird ihnen so etwas wie ein Hinweischarakter für Kognitionen zugestanden – die Vernunft braucht Emotionen, um zu verstehen, was eine Interaktion bedeutet.

Zwischenfazit

Das Verstehen unserer Selbst und anderer) ist das Resultat einer Praxis (Wissen-Wie), die uns dazu befähigt, die normativ strukturierte soziale Welt zu navigieren. Wir werden in die soziale Praxis einsozialisiert, was körperliche, emotionale und kognitive Aspekte hat.

Implikationen für die Psychopathologie

Dies hat interessante Implikationen für bestimmte psychopathologische Phänomene, wie z. B. die Autismus-Spektrum-Diagnose. Frau Musholt argumentiert, dass nicht nur Betroffene die neurotypischen Menschen schlechte verstehen, sondern dass es auch umgekehrt ein schlecht Verstehen gibt. Sie deutet an, dass diagnostisch früher reagiert werden könnten, wenn das Verhalten der Kinder weniger Signale zur Prosozialität zeigt.

Die zwei Seiten der Sozialisation

Die Vortragende fasst ihre Gedanken so zusammen: Sozialisation befähigt uns zur Selbstbildung und gründeresponsiven Handlungsfähigkeit. Autonomie ist also immer abhängig von anderen (> relationale Autonomie).

Sozialisation kann aber auch einengend wirken. Hier dient das zeitgenössische Afghanistan als Beispiel, denn dort werden insbesondere Frauen sehr stark unterdrückt und eingeengt. Man muss natürlich nicht nur an solche extremen Beispiele denken, auch in unserer Kultur gibt es noch eine Menge von sozialen Normen, die individuelle Entfaltungen erschweren oder behindern.

Illegale Gefühle

Hier können sog. „disruptive“ Emotionen hilfreich werden. Sei es das ein Mensch aus äußeren oder inneren Gründen sein. Der falsche Weg macht sich emotional bemerkbar und diese mitunter heftigen Gefühle weisen uns letztlich den richtigen Weg.

Solche „illegalen Gefühle“ („outlaw emotions“) bieten neue Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen, indem sie alternative interpretative Rahmen zur Verfügung stellt.

Emotionen haben das Potenzial dazu, unser evaluatives Verständnis unseres Selbst und der sozialen Welt zu verbessern, auch dann – oder manchmal sogar vor allem dann – wenn sie sich gegen unsere „rationalen“ Überzeugungen wenden.

Aber ganz einfach ist das natürlich nicht – je nach der eigenen emotionalen Geschichte müssen wir unsere Gefühle auch überprüfen – Reflexion bleibt wichtig.

Fazit

Das Verstehen unserer Selbst, anderer und der Welt ist das Resultat affektiv aufgeladener sozialer Interaktionen.

Sozialisation ermöglicht Selbstbildung und autonomes Handeln, kann unsere Autonomie zugleich einschränken.

Daraus folgt, dass wir uns fragen sollten, wie wir unsere sozialen und kulturellen Praktiken so gestalten können, dass Personen sich bestmöglichentwickeln können. Dazu gehört auch das Kultivieren emotionaler Flexibilität.

Ein interessanter Vortrag.

Die Psychosomatik erkundet das Selbst

Es gibt kein Selbst nur ein Phänomenologisches Selbstmodell
Johnhain auf Pixabay

Bericht vom 14.05.24 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. em. Dr. Thomas Metzinger Philosophisches Seminar, JGU Mainz und Mitglied der Deutschen Nationalakademie Leopoldina:

„Warum es kein Selbst gibt und warum das Ich keine Illusion ist“

Das Dienstagskolloquium besteht nun seit siebzehn Jahren und ab diesem Semester gibt es ein neues Format. Es werden weniger Vorträge angeboten, diese drehen sich aber alle um ein Schwerpunktthema. Dieses Semester lautet das Thema: „Wer bin ich? – Selbst Selbstkonzept und Selbsterleben“ Die Auftaktvorlesung wird von niemand geringerem als Thomas Metzinger gehalten, der als führender Philosoph des Bewusstseins in Deutschland und weltweit Ansehen erworben hat.

Zur Einstimmung auf den Vortrag sind zwei Zitate von Ludwig Wittgenstein zu lesen: „Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Und: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was  mit Philosophie nicht zu tun hat -, und immer dann, wenn ein anderer etwas metaphysisches sagen wollte, ihm nachweisen, dass er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, dass wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzig streng richtige.“

Das lässt schon ahnen, wohin die Reise wohl gehen wird. Beide Zitate sind vom „frühen“ Wittgenstein, der eine große Nähe zum sog. Positivismus des Wiener Kreises hatte. Diese Denkrichtung vertrat die Ansicht, dass nur (physikalisch) Objektivierbares als wahres Wissen angesehen werden sollte. Der spätere Wittgenstein schrieb dann aber auch so etwas wie: „Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gässchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern.“

Herr Metzinger ist Philosoph der analytischen Richtung und offenbar möchte er uns naturwissenschaftlich fundierte Fakten philosophisch aufgewertet vermitteln. Dafür bietet sich ein sprachphilosophisches Fundament zum Thema „Selbst“ und „Ich“ sicherlich an.

Herr Metzinger präsentiert die Gliederung seines Vortrags. Im ersten Teil soll es um die ‚philosophischen Grundlagen‘ gehen. Dazu gibt es die Unterpunkte der ‚begrifflichen Probleme‘, die er an drei Beispielen erläutern will und dann möchte er noch etwas zu ‚ideologischen Kontaminationen‘ sagen. Im zweiten Teil möchte er referieren ‚Was es wirklich gibt‘ und dazu drei Unterpunkt erläutern. Diese wären sieben Beispiele aus der Forschung; das phänomenale Selbstmodell und die Transparenzauflage. Schließlich will er zur Konklusion kommen, die er vorab als ‚keine Illusion, kein Selbst‘ ankündigt.

Philosophische Grundlagen

Herr Metzinger kommt nun zur Sache. Die Überschrift auf der Leinwand verkündet den Imperativ: „Sagen Sie nie mehr „das Ich“! Darunter wird mit kleinerem Schriftgrad erläutert „logischer Unsinn, das phänomenale Selbst – und warum der Vortragstitel falsch ist.“

Begriffliche Probleme

Das Wörtchen „Ich“ ist ein Personalpronomen, das auf einen Sprecher zeigt, der es aktuell verwendet. Seine logische Funktion nennt Herr Metzinger die „Selbstlokalisation“ eines Sprechers in einem Kontext. Der Ausdruck „Das Ich“ wäre ein Gattungsbegriff, was das Wörtchen ‚Ich‘ eben gerade nicht ist. Es ist ein indexikalischer Ausdruck (auf etwas, also mich, deutendes) in einem kommunikativen Kontext.

Es ist gewissermaßen eine Unsitte nicht-philosophischer Sprecher*innen, dass sie das Wörtchen ‚Ich‘ so verwenden, als würde es eine Art inneres Ding, also ein Gegenstand bezeichnen. Philosoph*innen hingegen wissen, dass es keine Gattung von „Ichen“, „Selbsten“ oder gar „eine Identität“ gibt, die man in sich tragen könnte wie ein Herz oder die man besitzen könnte wie ein Fahrrad. Das Wörtchen „Ich“ bezieht sich nicht auf ein inneres Ding. Herr Metzinger fordert uns auf, nach Unterschieden in drei Beispielsätzen zu schauen.

Was ist der Unterschied von diesen Formulierungen …

  1. Ich fühle mich gerade besonders entspannt und glücklich!
  2. Ich lasse mir meine Identität nicht durch die Wissenschaft kaputtmachen!
  3. Ich denke, die Buddhisten hatten Recht und so etwas wie ein Selbst gibt es überhaupt nicht!

… zu diesen Formulierungen?

  1. Der Sprecher dieses Satzes fühlt sich gerade besonders entspannt und glücklich!
  2. Der Sprecher dieses Satzes wird sich seine Identität nicht durch die Wissenschaft kaputtmachen lassen!
  3. Der Sprecher dieses Satzes denkt, die Buddhisten hatten Recht und so etwas wie ein Selbst gibt es überhaupt nicht!

Der Vortragende hält sich nicht damit auf, uns den Unterschied zu erläutern – wir nehmen diese Frage mit nach Hause, um dort nach einer Antwort zu suchen.

Ich würde zunächst annehmen, dass ein und derselbe Sprecher diese Formulierungen verwendet – also: Ich fühle mich … oder: Der Sprecher fühlt sich … oder: Bernd Laserstein fühlt sich … Angesprochene würden auf die beiden letzteren Formulierungen irritiert reagieren. Selbstbetroffenheit wird eben in aller Regel mit „Ich“ markiert.

Herr Metzinger schließt diesen Teil mit der folgenden Positionierung ab:

„Es gibt weder auf empirischer Ebene noch in begrifflicher Hinsicht überzeugende Hinweise darauf, dass ein die Zeit überdauerndes Einzelding oder eine im ontologischen Sinne autonome Substanz existieren, die „das“ Selbst sein könnten.

Menschliche Wesen sind dynamische, sozial situierte Systeme.

Selbstbewusstsein ist also kein Ding, sondern ein diskontinuierlicher Vorgang, der zeitweise bestimmte Fähigkeiten erzeugt, die begrifflich am besten als globale Systemeigenschaften beschrieben werden.

  • Selbstbewusstsein ist ein körperlich verankerter und sozial eingebetteter Vorgang.“

Das Selbst kann nichts „in mir“ sein: Dann wäre ja das, mit dem ich identisch bin, nur ein konstituierender Teil von mir.

Das in lebensweltlichen Kontexten allgegenwärtige Reden von „unserem“ oder „meinem“ Selbst ist logisch widersprüchlich, weil es dann ja schon jemanden geben müsste, der das Selbst „hat“, also ein Selbst hinter dem Selbst, das zu diesem in einer Besitzrelation steht.

  • Selbstbewusstsein ist nichts, was man „haben“ oder besitzen kann wie ein Fußball oder ein Fahrrad.“

Ideologische Kontaminationen

Herr Metzinger stellt die (rhetorische) Frage, wer denn Interesse an echter Erkenntnis habe. Seine Erfahrung ist, dass sobald die Diskussion über ein „Selbst“ beginnt, verschiedene Teilnehmer die Debatte quasi verseuchen. Als Beispiele nennt er „Jubelbuddhisten“, denn Buddha hat ja schon vor langer Zeit gesagt, dass es kein Selbst gibt. Dann gibt es da die „auferstehungsgläubigen Christen“, für die klar ist, dass etwas bleiben muss, was wiederauferstehen kann. Weiter nennt er „Wohlfühlphänomenologen“, für die diese These reduktionistisch klingt und sich nicht gut anfühlt. Zu nennen wären auch noch „Alt-Linke“ Protagonisten, die die Gefahr erkennen, dass so das „politisch revolutionäre Subjekt“ verschwindet. Viele haben also kein echtes Erkenntnisinteresse, sondern ein weltanschauliches.

Wie könnte eine rationale und evidenzbasierte Theorie des Selbstbewusstseins aussehen?

Die Antwort beginnt mit einem Zitat von Wilhelm von Ockham (ca. 1285-1349): „Vielheit solle niemals ohne Notwendigkeit gesetzt werden.“ Dieses, auch als „Ockhams Rasiermesser“ bekannte Prinzip, heißt philosophisch „Parsimonität“. Es geht um die ontologische Sparsamkeit, die besagt: „Eine Theorie/Beschreibung/Erklärung, die weniger Entitäten oder weniger Annahmen braucht, ist einer zweiten, auf denselben Gegenstand bezogenen, Theorie vorzuziehen, wenn sie sonst der anderen gegenüber keine Nachteile hat.“ Mit dieser Einstimmung widmet sich Herr Metzinger der nächsten Frage:

„Kann man die Entstehung eines phänomenalen Selbst wissenschaftlich erklären?“

Seine Antwort lautet:

  • Ja, das kann man
  • Es gibt nämlich gar kein Selbst.
  • Was es gibt, ist ein phänomenales Selbstmodell (PSM)
  • Sein repräsentationaler Inhalt ist das Selbst, so wie es subjektiv erlebt wird

Zum Beleg für diese These und zur Erläuterung des Begriffs „Phänomenales Selbstmodell“ werden uns nun einige Experimente vorgestellt. Zunächst die Spiegel Illusion. Sie entstammt dem Versuch, Menschen, die Phantomschmerzen in einem nicht mehr vorhandenen Körperglied haben, therapeutisch zu helfen. Wird z.B. die noch verbliebene Hand so gespiegelt, dass sie vom Patienten als andere Hand gesehen werden kann, bekommt der Patient wieder einen „Zugang“ zum verschwundenen Glied. Die Hand „erscheint“ als sei sie wieder da. Die Schlussfolgerung lautet demzufolge: Dass wir also nicht in Kontakt mit unserem Körper sind, sondern mit dem PSM unseres Körpers.

Das nächste Argument kommt aus der Robotik. Ein kleiner Roboter wird mit einem Selbstmodell ausgestattet. So kann er zunächst lernen, sich auf vier Gliedmaßen zu bewegen. Nachdem ihm nun ein Glied entfernt wurde, lernte er das Gehen bzw. Hinken neu – nun mit nur noch drei Gliedern.

Nun folgt das Beispiel der „Gummihand-Illusion“. Bei dieser wird eine Hand des Probanden verborgen und durch eine Gummihand im Blickfeld ersetzt. Nun wird simultan sowohl die echte also auch die Gummihand z.B. mit einem Pinsel stimuliert. Nach nicht allzu langer Zeit ist der Proband davon überzeugt, dass die Gummihand seine Hand sei (Gefühl von Meinigkeit) und wenn nun überraschenderweise ein Stich auf diese Hand erfolgt, wird die echte Hand zurückgezogen.

Der nächste Beleg handelt von einer Frau, die ohne Arme und Beine geboren wurde aber dennoch angibt, dass sie eine Wahrnehmung sowohl von Armen und Beinen als auch von Fingern und Zehen habe. Gibt es also ein angeborenes Körperschema? Die Wissenschaft ist sich darüber noch nicht einig.

Außerkörperliche Erfahrung

Herr Metzinger interessiert sich schon sehr lange für „Außerkörperliche Erfahrungen“. Sie dienen ihm als Paradebeispiel für das Phänomenale Selbstmodell. Da sie eine universale menschliche Erfahrung sind, denkt er, dass sie die Grundlage für die Vorstellung von einer „Seele“ seien. Und es ist inzwischen möglich geworden diese Erfahrung durch direkte Gehirnstimulation hervorzurufen.

Zurück zu den Beispielen erfahren wir nun von Ganzkörper-Illusionen, die mit Hilfe von virtueller Realität ausgeführt werden können. Der Aufbau ist analog zur Gummihand und es lassen sich verschiedenste Variationen des Versuchs durchführen. Am eindrucksvollsten in der Version, bei der der Avatar (der Stellvertreter des Probanden) rhythmisch aufleuchtet, wobei die Frequenz des Rhythmus dem Herzschlag des Probanden entspricht.

Ein weiteres Experiment besteht darin, dass von einem Probanden Gehirnsignale abgeleitet werden, wenn er sich vorstellt, Hände oder Füße zu bewegen. Dabei sieht er Bilder, die von einem kleinen Roboter aufgenommen werden, der wiederum von einem Menschen aufgefordert wird, sich zu bewegen. Mit Hilfe der Signale kann der Proband nun den Roboter steuern, der sich im Zweifelsfall auf der anderen Seite des Atlantiks befinden kann.

Leibphänomenologie

Wir erfahren, dass Aristoteles meinte, dass die Seele die Form des Leibes sei und Spinoza, dass die Seele die Vorstellung sei, die der Körper von sich selbst hat. Wir kommen also von der analytischen Philosophie langsam zur Leibphänomenologischen. Dazu passt auch ein Zitat von Maurice Merleau-Ponty: „Der Leib ist also nicht lediglich einer unter anderen äußeren Gegenständen, der allein dadurch sich auszeichnet, stets da zu sein. Seine Ständigkeit ist eine absolute, die jederlei relativer Ständigkeit der eigentlichen, stets Abwesenheit fähigen Gegenstände erste den Grund gibt.“ Mit diesem Ausflug in die „Leibphänomenologie“ bringt uns Herr Metzinger nahe, dass unsere Körper- bzw. Leibwahrnehmung unseren phänomenalen Raum zentriert, also den Mittelpunkt unserer subjektiven Welt einnimmt. Weiter, dass das propriozeptive (Muskel-, Gelenk-, Raumsinn) und das interozeptive (Bauch-, Brustgefühle) Selbstmodell eine zentrale Rolle in der Erscheinung (Phänomenologie) der Substanzialität spielt.

Dann erinnert uns Herr Metzinger auch an die Arbeiten von Antonio Damasio zum Thema Selbstgefühl. Dabei geht es darum, dass, lange bevor eine Erfahrung bewusst wird, bereits ein präreflexives und vorsprachliches Selbstgefühl in der Körperwahrnehmung und im emotionalen Selbstmodell vorhanden ist.

All das ist natürlich viel Wasser auf den Mühlen eines körperorientierten bzw. leibphänomenlogisch arbeitenden Therapeuten.

Was ist ein Selbstmodell?

Ein phänomenales Selbstmodell (PSM) ist eine mentale Repräsentation, also ein inneres Bild der Person als Ganzer, inklusive ihrer psychologischen und sozialen Eigenschaften. Das PSM soll ja das nicht dinglich vorhandene Selbst ersetzen. Wie können sich Nicht-Philosoph*innen das vorstellen? Herr Metzinger bietet dazu verschiedene Perspektiven an:

  • Es besitzt eine wahre neurobiologische Beschreibung

Beispiel: ein komplexes, weitverteiltes Aktivierungsmuster im menschlichen Gehirn, das sich ableiten lässt

  • Es besitzt eine wahre repräsentationalistische Beschreibung

Beispiel: Ein Inhalt des Bewusstseins, den wir benennen können

  • Es besitzt eine wahre evolutionsbiologische Beschreibung

Beispiele: Körpermodell | Erfolgreiche Selbsttäuschung | Soziale Kognition | kulturelle Evolution – in allen Bereichen wird das PSM gebraucht. Herr Metzinger beschreibt es als: Eine Waffe, die im Verlauf eines kognitiven Wettrüstens erfunden und optimiert wurde

  • Es besitzt eine wahre funktionalistische Beschreibung

Beispiel: Beim Aufwachen brauchen wie einen kurzen Moment, um wieder zu uns zu kommen. Das PSM ist ein virtuelles Organ, ein transientes komputationales Modul, das vom System episodisch aktiviert wird, um seine Interaktion mit der Umwelt zu regulieren

  • Es gibt ein bewusstes und ein unbewusstes Selbstmodell

Beispiel: Psychosomatische Erkrankungen

  • Das Selbstmodell verändert sich durch Lernvorgänge und hat vielleicht einen angeborenen Kern.

Beispiel: Die Frau ohne Gliedmaßen (s.o.)

Das menschliche Selbstmodell ist das Fenster (Interface) in die soziale Dimension

Beispiel 1: Motor resonance (Spiegelneuronen)

Spiegelneuronen sind in Freiburg gut bekannt, dennoch erläutert Herr Metzinger kurz deren Bedeutung: „Eine unmittelbarer Form erlebnismäßigen Verstehens von anderen […] Dieser Modellierungsmechanismus ist einfach das, was ich mit >>verkörperter Simulation<< meine […] Durch einen gemeinsamen neuronalen Zustand, der in zwei verschiedenen Körpern realisiert wird, wird der >>vergegenständlichte Andere<< zu einem zweiten Selbst.“ (Vittorio Gallese)

Dass der eigene Leib eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von Kunstwerken und Architektur spielt, fiel auch einigen deutschen Philosophen und Psychologen auf: „Das Bild unserer Selbst schieben wir allen Erscheinungen unter.“ (von Heinrich Wölflin 1886 (!))

Beispiel 2: Empathie – Einfühlung

Und: „Es ist also ein unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektform. Hieraus ergab sich mit der Begriff, den ich Einfühlung nenne.“ Robert Vischer 1927

Und: „Die ästhetische Lust hat also ihren Grund in der Einfühlung. Sie ist Lust an dem Ich, sofern es in das Objekt hineingefühlt ist.“ und: „Ich habe ein Lustgefühl angesichts des sinnlich Wahrgenommenen oder Vorgestellten, als welches mir das schöne Objekt unmittelbar entgegentritt.“ Theodor Lipps 1903

Daraus folgert Herr Metzinger, dass

  • Dass ästhetischer Genuss als „objektivierter Selbstgenuss“ betrachtet werden kann
  • Dass der umbaute Raum dynamisch in das phänomenale Selbstmodell integriert wird
  • Dass nicht nur affektive, sondern auch somatomotorische und kinästhetische Ebenen des PSM relevant sind
  • Dass die Raumrepräsentation wichtig für die Integration mit dem globalen körperlichen Bezugsrahmen ist
  • Dass das interozeptive Selbstmodell eine kritische Rolle z.B. für die Weitung des Herzens (in einem großen Raum) spielt

Die Transparenzauflage

Was ist ein phänomenales Selbst? Problem: Ein „Selbstmodell ist noch lange kein Selbst, sondern nur eine Repräsentation des Systems als Ganzem – ein Systemmodell.

Die philosophische Frage:

Wie kommt man von einem bewussten Selbstmodell (PSM) zu einem echten phänomenalen Selbst? bzw.: Was also ist ein phänomenales Selbst?

Antwort: Fast alle bewussten Zustände sind „phänomenal transparent“.

  • Wir können unsere inneren Zustände nicht als innere Bilder erleben.
  • Wir können unsere Aufmerksamkeit nicht auf den Konstruktionsprozess im Gehirn richten
  • Wir können deshalb ihren repräsentationalen Charakter subjektiv nicht erleben
  • Wir schauen quasi „durch sie hindurch“ direkt auf ihren Inhalt, als ob wir in direktem und unmittelbaren Kontakt mit der Wirklichkeit wären
  • Erlebnismäßig sind wir naive Realisten – Repräsentationen werden nicht als Repräsentationen erlebt.

Der Begriff „Phänomenale Transparenz“ kommt von dem Philosophen G. E. Moore, der schrieb: „[…] das, was ich „Bewusstsein“ genannt habe – also das, was eine Blauempfindung mit einer Grünempfindung gemeinsam hat – ist extrem schwer festzulegen.“ Und: „Wenn wir introspektiv auf die Blauempfindung zuzugreifen versuchen, dann ist alles, was wir sehen können das Blau: Das andere Element ist als ob es durchsichtig wäre.“

Man kann das Bewusstsein an sich kaum bewusst erleben, aber Mr. Moore, der analytische Philosoph, kommt zu einer Ansicht, die der buddhistischen sehr nahe ist, nämlich, dass dem Bewusstsein als solches in der Erfahrung der Leere auf die Spur zu kommen möglich ist.

Anwendung auf das Selbstmodell

Wir selbst sind Systeme, die nicht in der Lage sind, ihre eigenes subsymbolisches Selbstmodell als Selbstmodell zu erleben. Deshalb operieren wir unter den Bedingungen eines „naiv-realistischen Selbstmissverständnisses.“

  • Es entsteht die Phänomenologie der Identifikation
  • „Ich bin das“

„Anhaften“: Wir erleben uns notwendigerweise so, als wären wir in direktem und unmittelbarem epistemischen Kontakt mit uns selbst.

  • Wir sind uns selbst „unendlich nah“
  • Das „bewusste Selbst“ ist der (sprachlich reifizierte) Inhalt eines transparenten PMS

Die Erfahrung eine Selbst ist also das Ergebnis von zwei Verdinglichungen 1. durch das Gehirn und durch die Phänomenologie der Identifikation und 2. Sprachlich durch Verdinglichung indem wir von „Dem Ich“ oder „Dem Selbst“ sprechen. Das ist ein verdoppelter Abstand zur tatsächlichen Wirklichkeit – zunächst schneidet unser PSM einen Tunnel hinein und dann werden die Phänomene auch noch in Sprache verpackt.

Begrifflich klärt uns Herr Metzinger noch kurz über den Unterschied von Illusion und Halluzination auf.

Illusion: Sensorische Fehlrepräsentation eines existierenden Reizes z.B. optische Täuschung.  Phänomenologie ist meistens opak – wissen, dass es eine Fehlinterpretation ist.

Halluzination: Sensorische Fehlrepräsentation eines nicht existierenden Reizes. Phänomenologie: meistens transparent, oft komplex

Kann man die Entstehung eines phänomenalen Selbst wissenschaftlich erklären?

Ja, das kann man

Es gibt nämlich gar kein Selbst

Was es gibt, ist ein phänomenales Selbstmodell

Sein repräsentationaler Inhalt ist das Selbst, so wie es subjektiv erlebt wird

Zusammenfassung

  1. Es gibt weder empirische Evidenz noch rationale Argumente für die Existenz eines Einzeldings oder einer metaphysischen Substanz, die „das“ Selbst sein können.
  2. Für alle wissenschaftlichen und philosophischen Zwecke kann der Begriff „eines“ Selbst eliminiert werden, zugunsten feinkörnigerer Beschreibungen.
  3. Positiver Vorschlag:
  4. Der Inhalt des phänomenalen Selbstbewusstseins ist der repräsentationale Inhalt eines PSM.
  5. Ein transparentes PSM erzeugt die Phänomenologie der Identifikation
  6. Das PSM ist ein virtuelles Organ, dass der Körper benutzt um globale Eigenschaften seiner selbst zu erkennen und intern darzustellen:
  7. Für die prädikative Kontrolle äußeren und inneren Verhaltens;
  8. Als Interface in die soziale Welt

Auf der Schlussfolie ist zu lesen:

Das „Ich“ als Interface

Warum es kein Selbst gibt …

   … und warum das Selbst keine Illusion ist

Hier geht’s zum Vortrag

Die Psychoanalyse erkundet Leiblichkeit

Leib und zwischenleibliche Resonanz

Bericht vom 14.11.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Timo Storck, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Psychologische Hochschule Berlin (PHB):

„Der Leib als Wahrnehmungsorgan in der Psychotherapie“

Herr Storck beginnt damit, dass er uns kurz erläutert, was er uns in seinem Vortrag nahebringen möchte. Nämlich, dass der Leib ein Wahrnehmungsorgan ist, das uns einen, wenn nicht den Zugang zur Welt ermöglicht. Er gibt uns seine Gliederung zum Thema:

1. Wahrnehmungsvorgänge können zwei „Richtungen“ haben (allgemeinpsychologisch)

2. Der Leib vermittelt das Erleben von Selbst und Anderem (entwicklungspsychologisch)

3. Psychosomatische Störungen lassen sich als eine Entleiblichung verstehen (psychopathologisch)

4. Die Arbeit mit der leiblichen Gegenübertragung ist ein Weg zur Symbolisierung verkörperter Zustände (behandlungstechnisch)

Leibliche Wahrnehmungsvorgänge haben zwei Richtungen

Der Begriff des Leibs im Unterschied zum Körper erscheint in der Philosophie mit der Phänomenologie. Prominent darin z. B. Edmund Husserl und in dessen Nachfolge und für den Leib besonders fruchtbar, Maurice Merleau-Ponty. Dieser Philosoph sprach vom Leib, der ich bin und dem Körper den ich habe. Dabei kommen beide Aspekt immer gemeinsam vor, haben gewissermaßen einen Doppelaspekt.

So ist es auch mit der Leibwahrnehmung, insbesondere mit der Berührung. Immer, wenn ich etwas oder mich selbst berühre, kommen mir zwei Wahrnehmungen ins Bewusstsein – das Berührte und z. B. meine Finger. Diese Betrachtungen sind auch für die psychotherapeutische Arbeit sehr wertvoll. Von Merleau-Ponty kommt auch der Begriff der Zwischenleiblichkeit, womit er beschreiben wollte, dass in personalen Begegnungen leibliche Erfahrungen gemacht werden, die sich von rein physikalischen Gegenständen unterscheiden.

Auch Sigmund Freud hat sich Gedanken zur Wahrnehmung bzw. dem Wahrnehmungsbewusstsein gemacht. Einige dieser Gedanken hat Freud als Zeichnungen zu Papier gebracht. Diese sind ein Teil seiner Wahrnehmungs- und Erinnerungstheorie. Die Wahrnehmung ist für Freud eine Art Kappe, die auf dem Psychischen quasi aufsitzt. Das BW betrachtet er als das Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten (innere und äußere Reize). Dies schafft dann erst die Psychische Realität. Diese Überschneidung von Wahrnehmung und Gedächtnis führt zu Befriedigungserlebnissen, weil wir uns erinnern können, was wir schon früher als befriedigend erlebt haben.

Aus dieser Perspektive gewinnen wir körperliches Bewusstsein in  mehr oder minder großen Ausmaß. Dabei kann die Wahrnehmung, z.B. von bestimmten Affekten, gestört oder verzerrt sein. Diese Sichtweise ist in der Psychosomatischen Medizin und der Psychoanalyse gut bekannt. Herr Storck möchte aber die Perspektive umdrehen und untersuchen, wie das Leibliche die Wahrnehmung steuert.

2. Der Leib vermittelt das Erleben von Selbst und anderem.

Zur Verdeutlichung bekommen wir nun eine kurze Video Sequenz gezeigt. Es geht um eine typische Psychoanalytische Sitzung im „Couch-Setting“. Die Patientin wird von einer Schauspielerin dargestellt.

 Im Video „wimmelt“ es nur so von leiblichen Befindlichkeiten und Interaktionen – Bedürftigkeiten, Kuscheln, Küssen usw. Therapeutisches Thema wie Abstandsregulation oder die Unterscheidung von Selbst und anderem.

Auch bei diesem Thema mischen philosophische Betrachtungen mit. Da gibt es zum einen Plato, dessen Meinung über Körperliches eher geringschätzig war. Ganz im Gegensatz zu Aristoteles, der die Seele als Form des Leibes betrachtet hat und die Seele als durchformt vom Leib.

Neuere phänomenologische Philosophen im deutschsprachigen Raum wären z. B. Helmuth Plessner oder Thomas Fuchs u. a. Alle unterscheiden den subjektiven Leib vom objektiven Körper.  Sie kommen auch zu dem Schluss, dass der Leib der primäre Zugang zur Welt überhaupt darstellt.

Noch aktuellere Betrachtungen wären Theorien zum „Embodiment“, die derzeit En Vogue sind.

Ein berühmtes Zitat von Freud dazu lautet: „Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. Er wird wie ein anderes Objekt gesehen, ergibt aber dem Getast zweierlei Empfindungen, von denen die eine einer inneren Wahrnehmung gleichkommen kann. Es ist in der Psychophysiologie hinreichend erörtert worden, auf welche Weise sich der eigene Körper aus der Wahrnehmungswelt heraushebt. Auch der Schmerz scheint dabei eine Rolle zu spielen und die Art, wie man bei schmerzhaften Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist vielleicht vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt. Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondernd selbst die Projektion einer Oberfläche.“ (Freud 1923b, S.253)

Und weiter. „Das heißt, das Ich leitet sich letztlich von körperlichen Gefühlen ab, hauptsächlich von solchen, die auf der Körperoberfläche entstehen. Es könnte deswegen als eine psychische Projektion der Körperoberfläche angesehen werden und nicht nur wie wir oben gesehen haben, als Darstellung der Oberfläche des psychischen Apparates.“

Daraus folgert Herr Storck, dass der Leib nicht nur Wahrnehmungsorgan des Psychischen ist, sondern jegliches Selbst-Erleben formt. Damit wird das Selbst zu einem zwischenleiblichen Phänomen. Es bildet sich aus den Erfahrungen von Berührungen an der Hautgrenze, als Unterschied zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Dabei verinnerlicht das Selbst-Erleben die Kontur der Körperoberfläche und Repräsentiert den Körper als erste Form des Selbst.

Herr Storck spekuliert noch darüber, wie der Begriff des „Triebs“ bei Freud als Grenzbegriff zwischen Psyche und Soma aktualisiert werden könnte.

3. Psychosomatische Störungen lassen sich als eine Entleiblichung verstehen

Alles ist psychosomatisch, denn alle Patient*innen bringen ihre Körper mit in die Therapie. Die alten Konzepte von spezifischen Krankheitspersönlichkeiten führen nach Ansicht des Vortragenden nicht weiter. Tatsächlich erscheinen die Psychodynamischen Phänomene als äußerst diffus. Das könnte aber gerade ein verwertbares Indiz darstellen. Theoretisch ließe sich das sowohl triebtheoretisch als auch objektbezogen gut begründen. Im ersten Fall fände so etwas wie Seele-Körper-Dissoziation statt, im zweiten Fall würde der Körper eine unzuverlässige Bezugsperson repräsentieren.

Beide Zugänge lassen sich in einem Modell zusammenführen. Dies wurde von Armando Ferrari durchgeführt. Das Modell bietet zwei Achsen – Individuum-Umwelt und Psyche-Soma. Bei bekömmlicher Entwicklung entsteht so ein quasi dreidimensionaler Raum von Erleben. Nun ist es so, dass Veränderungen auf der einen Achse auf die andere Achse einwirken. Dass also Störungen im Verhältnis von Individuum-Umwelt zu Störungen des Verhältnisses Psyche-Soma führen. Diese Störung führt wiederum zu Störungen der anderen Dimension und so kann der Erlebnisraum auf eine Zwei- oder gar Eindimensionalität einschrumpfen.

Für Betroffene entsteht so ein Beziehungserleben, das zwischen Verschmelzung und Isolation pendelt. Das erschwert es, sich als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Sich in Kontakt fühlen ist dann nur möglich, wenn wir einander völlig gleich sind, andernfalls erscheint der Eindruck, verlassen zu sein.

Herr Storck präsentiert uns nun ein Fallbeispiel. Es geht dabei um eine Frau, die über Schmerzen klagt, die durch den ganzen Körper wandern. Er erläutert kurz die Biografie der Patientin und stellt uns dann einen Ausschnitt aus dem Thematischen Apperzeptionstest vor. Es geht bei diesem Test darum, eine Geschichte zu einer Abbildung zu erfinden.

Beispielhaft wird an den Antworten der Patientin deutlich, dass sie eine Vorstellung entwickelt hat, dass körperliches Leiden und die Anfälligkeit des Körpers die Seele verunreinigen. Dass also Seele und Körper eher voneinander getrennt sind und auch unterschiedliche Werte aufweisen.

Die Schmerzen lassen sich als Prothese verstehen, mit deren Hilfe sie ihren Körper ganz wahrnehmen kann. Allenfalls, wenn die Patientin von Wasser umgeben ist, hat sie keine Schmerzen und Herr Storck nimmt an, dass sie mit Hilfe des Wassers, das sie vollständig umgrenzt, ihren Körper spüren kann und dann die Schmerzen nicht braucht.

4. Die Arbeit mit der leiblichen Gegenübertragung ist ein Weg zur Symbolisierung verkörperter Zustände

Herr Storck möchte nicht nur über das „Herumdoktern“ an unseren Patient*innen berichten, sondern auch darauf eingehen, wie Therapeut*innen ihren eigenen Leib in der Therapie einsetzten können.

Dazu möchte er auf die Übertragungsbeziehung und die Übertragungsdynamik eingehen. Übertragung, als zentrales Element der Psychoanalytischen Therapie kann als Übertragungsneurose betrachtet werden. Innerhalb dieses Beziehungsmodus können Affekte auftreten und dann auch erfolgversprechend analysiert werden.

Darüber hinaus gibt es auch Übertragungspsychosen und Übertragungsmuster von Persönlichkeitsstörungen, auf die Herr Storck jetzt aber nicht eingehen möchte.

Relativ neu ist die Formulierung einer Übertragungspsychosomatose, in der körperliche Symptome als Regulation in der Beziehung verstanden werden. Herr Storck vermutet auch hierbei das Beziehungsdilemma zwischen Isolation und Verschmelzung.

Aber gibt es so eine Form der Übertragung überhaupt? Herr Storck bejaht das und führt an, dass Therapeut*innen sehr vertraut mit dem Phänomen sind, dass sich, in der Arbeit mit Psychosomatik Patienten, der eigene Leib öfter meldet – z.B. mit einem Zwicken oder einer gewissen Übelkeit.

Das Beziehungsthema macht sich häufig als Scheu bemerkbar, z.B. auf Unterschiede voneinander hinzuweisen oder auch als ein gewisser Druck, Gleichheit herzustellen.

Herr Storck möchte einen genaueren Blick auf die körperlichen Reaktionen werfen und betrachtet dazu die besondere Form der „Projektiven Identifikation“ – sog. ein Abwehrmechanismus, der alles andere als einfach zu erläutern ist. Er möchte uns sein Verständnis dieser Dynamik nahebringen.

Zunächst ist es so, dass der Patient einen unliebsamen Selbstanteil auf den Therapeuten projiziert, ihn also im Gegenüber erlebt. Dies ist zunächst ein rein innerer Prozess. Beispielsweise fühlt sich der Patient gereizt, erlebt aber die gereizte Stimmung als vom Therapeuten ausgehend.

Diese Stimmung färbt natürlich die Kommunikation und Interaktion zwischen Patient und Therapeut. In der Folge wird der Therapeut sich zunehmend gereizt fühlen und zunächst nicht unterscheiden können, woher dieses Gefühl stammt. Er identifiziert sich nun mit diesem Affekt. Erst in einem weiteren Schritt, wird es dem Therapeuten möglich, diese Gereiztheit als eine Art Antwort an den Patienten zu verstehen. Dann wird es möglich, das reflektierte Gefühl dem Patienten in sprachlicher Form wieder anzubieten.

Herr Storck möchte mit zwei Aufforderungen enden. Zum einen plädiert er dafür, dass Therapeuten ihre Leibwahrnehmung zur Verfügung stellen, um es den Patient*innen zu ermöglichen ihre Leibwahrnehmungen besser wahrnehmen zu können.

Weiter fordert er dazu auf, so etwas wie „mentalisierte Alterität“ anzubieten. Also versprachlichte Formen des Anders-Seins, die als nicht bedrohlich erlebt werden können. Anders sein muss dann nicht mehr als Bedrohung der Beziehung erlebt werden.

Dieser dichte Vortrag lässt das Herz eine Körperpsychotherapeuten durchaus höher schlagen und auch das Auditorium ist sehr davon angetan.

Hier geht es zum Vortrag