Die Psychosomatik erkundet Psychosen

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Tania Lincoln, Universität Hamburg: „Psychotherapie bei Wahnsymptomen. Ist das verrückt?“

Einführung

Frau Lincoln möchte uns die neuesten Entwicklungen für die Psychotherapie von Psychosen vorstellen. Dazu möchte sie uns zunächst aber mit einigen grundlegenden Merkmalen der Psychose vertraut machen und das sind zunächst die Wahnsymptome. Das sind:

„Falsche Überzeugungen, die gewöhnlich mit einer Fehldeutung von Wahrnehmungen oder Erfahrungen einhergeht.“

Als Beispiele wählt sie Beziehungsideen, den Verfolgungswahn und den Größenwahn.
Beziehungswahn bedeutet, dass die Betroffenen Dinge auch sich beziehen, z. B. Zeitungsmeldungen oder auch das Getuschel der Nachbarn. Damit eng verwandt ist der Verfolgungswahn, der die Überzeugung beinhaltet, dass andere mit bösen Absichten hinter einem her seien. Größenwahn beschreibt Vorstellungen, die beinhalten, dass man z. B. Jesus, Napoleon o. ä. sei.
Wahnvorstellungen sind sehr typisch für Psychosen. In 80 % aller Erkrankungen kommen sie vor.

Stand der Dinge

Diesen Abschnitt leitet Frau Lincoln mit dem Brief einer Mutter ein. Darin beklagt die Mutter, dass ihre Tochter seit fünf Jahren stationär untergebracht ist und dass in dieser Zeit kaum eine Psychotherapie stattgefunden habe. Die Begründung dafür lautet, dass eine Psychotherapie erst nach dem Abklingen der Positivsymptome sinnvoll sei.
Diese Ansicht vertreten derzeit noch viele in der Psychiatrie tätige Menschen. Als Beleg dafür weist uns die Referentin einen Wochenplan vor, der für psychiatrische Patienten gerade eine halbe Stunde Gespräch, das nicht unbedingt psychotherapeutisch sein muss, einplant.
Ähnlich schlecht sieht es in der ambulanten Versorgung aus. Zu erwarten wäre ein Anteil von 9 % in den Praxen, tatsächlich macht der Anteil von Betroffenen gerade einmal 2,6 % aus. Sie schließt daraus, dass die Psychotherapie von Psychosen noch keine gängige Praxis im deutschen Versorgungssystem sei. Das führt sie zur Frage, warum das so ist.

Grundannahmen über Wahn

Dazu bekommen wir ein Zitat von Karl Jaspers:

„Bei Symptomen wie Wahn handelt es sich um <<gänzlich fremde erlebniswelten>>. Es ist unmöglich, einen Wahn in seiner Genese zu verstehen.“

Diese Sichtweise herrschte lange vor und kann erklären, warum es kaum Versuche gab, einen psychotherapeutischen Zugang zum Wahnerleben zu erlangen. Wahnerleben scheint außerhalb der allgemeinen psychologischen Theorien zu liegen und damit erscheint es wenig aussichtsreich.

Alltägliche Gedanken

Aber stimmen die Annahmen von Karl Jaspers überhaupt? Ist Wahn tatsächlich gänzlich fremd? Liegen uns paranoide Gedanken tatsächlich so fern? Frau Lincoln lädt und ein, das einmal bei uns selbst zu überprüfen, indem wir uns fragen: Müssen Sie sich davor schützen, von anderen ausgenutzt oder verletzt zu werden? Oder: Entdecken Sie manchmal versteckte Drohungen oder Beleidigungen, in dem, was andere sagen? Ihre Annahme ist, dass vielen Menschen solche Gedanken zumindest ansatzweise vertraut sind. Es gibt dazu auch eine Statistik, die besagt, dass 28,1 % der Bevölkerung Misstrauen kennt, 19 % Beziehungsideen und 9 % Verfolgungsideen.
Gänzlich fremd erscheinen Wahnideen also keinesfalls. Die Thematik lässt sich als Pyramide darstellen. An deren Basis, die viele Menschen umfasst, finden sich Ängste vor Zurückweisung, darüber, weniger Betroffene erfassend, Gedanken über Beziehungsideen, noch höher findet sich ein mildes Bedrohungsgefühl, darüber noch ein moderates Bedrohungsgefühl, das Ausweichmanöver begründet und ganz an der Spitze sind dann die wenigen Menschen, bei denen starke Bedrohungsgefühle bis hin zu Verschwörungstheorien zu finden sind.
Diese Häufigkeit bestärkt die Referentin in der Annahme, dass Wahn nicht so fremd sein kann, wie Jaspers es annahm und weiter, dass Wahn im Spektrum der psychologischen Möglichkeiten liegt und damit auch ein psychotherapeutischer Zugang möglich erscheint.

Kognitive Verhaltenstherapie

Der Grundgedanke der Kognitiven Verhaltenstherapie ist sehr schlicht. Jedes Ereignis führt zu einer Bewertung, die wiederum zu einer Reaktion führt. Wenn ich z. B. mitbekomme, wie meine Nachbarn miteinander tuscheln, könnte ich auf die Bewertung kommen, dass sie über mich tuscheln und das würde mich dann vielleicht dazu bringen, mich in meine Wohnung zurückzuziehen.
Dieser Ansatz hat sich für die Behandlung etlicher Depressionen sehr bewährt. Durch die psychotherapeutische Bearbeitung der Bewertungen kann die Psychotherapie erfolgreich sein. Was lag also näher, als dieses Modell auch auf Wahnsymptome anzuwenden.
Es hat sich dann herausgestellt, dass es doch nicht ganz so einfach ist. In der Behandlung psychotischer Patienten braucht es sehr viel mehr Vorarbeit, bevor man die „kognitive Umstrukturierung“ beginnen kann. Dieser Ansatz wird seit den 90er Jahren verfolgt und wird seither verfeinert. Damals war es quasi eine Sensation und heute gilt er schon als alter Hut, so Frau Lincoln.
Inzwischen gibt es Leitlinien und Manuale zur Behandlung z. B. von Schizophrenie. Deren Wirksamkeit wird natürlich ebenfalls erforscht und diese Forschung ergab, dass die VT kurz- und langfristige Effekte auf die Symptomatik hat. Allerdings schüttet Frau Lincoln gleich ein wenig Wasser in den Wein, denn Follow-Up Studien konnten die ohnehin schwachen Effektstärken nicht immer finden und der Effekt auf das Wahnerleben, war ohnehin sehr gering.

Wahn und Lebensverhältnisse

Das spornt die Vortragende an, nach besseren und wirkungsvolleren Möglichkeiten zu suchen um Psychosen zu behandeln. Also zurück zum zweiten Teil von Jaspers‘ Aussage, dass Wahn unmöglich zu verstehen sei.
Basierend auf der Erfahrung, dass Wahn prinzipiell veränderbar ist, liegt der Gedanke nahe, dass die Lebensverhältnisse eine Rolle bei der Wahnbildung spielen könnten. Wenn man nun noch die psychologischen Mechanismen identifizieren könnte, die von misslichen Lebensumständen zu Wahnvorstellungen führen, dann könnten daraus neue therapeutische Strategie entstehen.
Bekannt ist ebenfalls schon, dass psychotische Episoden häufig getriggert werden. Es gibt also soziale Stressoren, die den Ausbruch einer Wahnepisode begünstigen können.
Ebenfalls gut bekannt sind Risikofaktoren, die eine Erkrankung wahrscheinlicher werden lassen. Zu den Klassikern dieser Faktoren zählen Gen-Defekte und Gehirnschädigungen. Aber diese reichen bei weitem nicht aus, alle Wahnerkrankungen zu erklären, also müssen die sozialen Risikofaktoren unbedingt mitbedacht werden.
Eine Unvollständige Liste sozialer Risikofaktoren umfasst: Traumata, Migration, Mobbing, Diskriminierung, Minderheitenstatus, Geringes Einkommen, Aufwachsen in einer Großstadt … Betrachtet man diese Liste wird deutlich, dass die Betroffenen tatsächlich eine Menge negatives Feedback von ihrer sozialen Umwelt erhalten, also reale Erfahrungen von Zurückweisung bis Feindseligkeit vorhanden sind.

Zusätzliche Faktoren

Eine weitere Erkenntnis besteht darin, dass sich genetische und soziale Risikofaktoren addieren, also unabhängig voneinander wirksam werden können. Hinzu kommen auch noch biografische Vulnerabilitäten, wie z. B. Kindheitstraumen. Diese begünstigen eine psychotische Entwicklung, aber es sind dann immer die aktuellen Stressoren, die zu einem Ausbrauch führen.
Es liegt auf der Hand, dass soziale Stressoren nicht so einfach psychotherapeutisch zum Verschwinden gebracht werden können und dasselbe gilt für die Alltags-Stressoren.
Hier taucht dann die Frage auf, wie denn diese Zusammenhänge vermittelt werden. Wie machen Risikofaktoren jemanden anfällig? Was passiert auf dem Pfad zur Psychose? Wie also hängen Risikofaktoren, Vulnerabilität, Mediatoren mit aktuellen Stressoren und Wahnsymptomen zusammen?

Mechanismen der Wahnentstehung

Zunächst betrachtet Frau Lincoln auf welchen Wegen sich die Vulnerabilität bemerkbar macht bzw. übermittelt. Dazu möchte sie die affektiven, kognitiven und physiologischen Pfade etwas näher untersuchen.
Zu dieser Fragestellung hat sich auch selbst geforscht. Ein zentrales Ergebnis dieser Forschungen ist, dass Menschen aus Risikogruppen sehr ausgeprägt mit Angst reagieren, wenn sie unter Stress geraten. Diese Angst und die damit einhergehende vegetative Erregung sind als Vorläufer Symptome für Psychosen gut bekannt.
Damit ergeben sich neue Hinweise für die spezifische Vulnerabilität, nämlich dass Betroffene häufig Probleme mit der Emotions- und Stressregulation haben, was wiederum ein Hinweis auf belastende Kindheitserfahrungen ist.
Auch der physiologische Weg wurde schon erforscht und das zentrale Ergebnis besagt, dass Betroffen eine geringere Herzratenvariabilität aufweisen. Diese zeigt, wie schnell und vielseitig die Herztätigkeit auf verschiedenen Situationen reagiert. Eine geringe Variabilität findet sich sehr ausgeprägt bei Patienten mit Psychosen.

Emotionsregulation

Schaut man genauer auf die Strategien der Emotionsregulation, findet man bei Betroffenen sehr häufig dysfunktionale Strategien. Sie versuchen, die Gefühle zu unterdrücken oder kommen ins Grübeln und neigen zu Selbstbeschuldigungen. Gesunde Vergleichspersonen nutzen dagegen Ablenkung, Neubewertung oder Akzeptanz um wieder zur Ruhe zu kommen.

Das Gesamtbild

Wir sehen nun das ausgearbeitete Diagramm der Psychose Entstehung. Auf der Basis von genetischen Dispositionen, frühen Hirnschädigungen und sozialen Risikofaktoren stehen nun gestörte Emotions- und Stressregulation, die sich als Übergebrauch ungünstiger Strategien zur Emotionsregulation, sowie als gestörte psychophysiologische Selbstregulation zeigen. Diese begünstigen die Wahnsymptomatik sobald ein aktueller sozialer Stressor auftritt. Damit wären potenzielle therapeutische Ansatzpunkte klarer.

Therapeutische Erfahrungen

Frau Lincoln berichtet uns von einigen Therapie Studien, die auf der Grundlage dieses Modells durchgeführt wurden. Zum einen ging es um Achtsamkeit im Umgang mit Triggern und Sorgen in einem Kurzzeittherapie-Setting. Dies hat sich als gering hilfreich erwiesen.
Der Versuch, mithilfe von Bio-Feedback auf physiologischem Weg Einfluss zu nehmen, war nicht wesentlich erfolgreicher.

Noch mehr Faktoren

Bisher ging die Referentin noch nicht auf den kognitiven Pfad der Wahnentstehung ein, was sie nun nachholt. Kognitiv erfolgen die Bewertungen eines Ereignisses und die Bewertungsschemata entwickeln Menschen z. T. früh im Leben, meist durch die Eltern vermittelt. Es geht um die Art und Weise, sich selbst, die anderen und die Welt zu erleben und zu bewerten.
Hier zeigt die Forschung, dass Betroffene die Welt eher als gefährliche und unberechenbar erleben, sich selbst eher als schwach und wertlos und andere Menschen als stark. Gut erforscht wurde z. B. der negative Effekt von Stress auf den Selbstwert.
Damit wäre ein weiterer therapeutischer Zugang eröffnet – die Arbeit am Selbstwert. Die bisherigen Ergebnisse fallen allerdings auch hier bescheiden aus.
Also bezieht Frau Lincoln nun auch noch das Phänomen der Dopamin Dysregulation ein, denn es ist bekannt, dass dies sehr spezifisch für psychotische Erkrankungen ist. Dopamin Überschuss kann zu verzerrten Wahrnehmungen führen, was einer psychotischen Verarbeitung natürlich zuspielt.
Betroffene nehmen also einen eigentlich harmlosen Reiz bedrohlich wahr, die Angst nimmt relativ unreguliert zu und verunsichert zusätzlich. Nun sucht der Betroffene eine Erklärung für sein Erleben und die wahnhafte Erklärung kann ihm nun ein Gefühl der Erleichterung verschaffen.

Die Rolle des Denkstils

Diese ganze Dynamik wird gestützt und getragen von der Neigung der Betroffenen, schnelle Entscheidungen zu treffen. Diese Art des „schnellen Denkens“ ist gut bekannt bei psychotisch Erkrankten.
Das bringt nun eine neue therapeutische Möglichkeit ins Spiel – die Arbeit mit dem Denkstil. Im Ergebnis scheint es möglich zu sein, den Denkstil tatsächlich zu verlangsamen.

Rückzug und Vermeidungsverhalten

Ein weiteres Merkmal der Erkrankung ist, dass Betroffene sich ungern auf Augenkontakt einlassen. Weiter versuchen sie ihre Ängste mit Vorsorgemaßnahmen einzudämmen z. B. die Tür doppelt abzuschließen o. ä. Dieses Verhalten erleichtert kurzfristig führt aber langfristig immer tiefer in die Ängste.
Hier gab es psychotherapeutische Versuche in virtuellen Umwelten, die durchaus Effekte erzielt haben.

Neue Konzepte

Im Ergebnis gibt es nun eine ganze Reihe von Komponenten, die sich auch alle therapeutisch adressieren lassen, aber jede für sich nur geringe Effektstärke zeigt. Daraus ergibt sich der Gedanke: Könnte man nicht höhere Effektstärken erzielen, wenn alle Komponenten angesprochen würden? Und genau dieser Versuch wurde nun im „Feeling Safe Programm“ verwirklicht.
Es zielt auf Emotionsregulation und Verminderung von Sorgen, sowie auf eine Veränderung des Denkstils sowie das Schlafverhalten und den Umgang mit Stimmen. Das ganze Programm ist modular aufgebaut und kann an die spezifischen Bedürfnisse einzelner Patienten angepasst werden.
Das Programm erzielt tatsächlich relativ hohe Effektstärken und ist inzwischen sehr anerkannt. Wir sehen noch den Werbeclip dazu.
Frau Lincoln schließt, wie sie angefangen hat mit Karl Jaspers. Diesen hat sie mit ihrer Präsentation widerlegt. Symptome von Wahn sind ein Erleben, das tatsächlich verstehbar ist.

Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet die Entwicklungspsychologie

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Stephan Doering, Leiter der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien: „Der Tanz mit dem Baby – entwicklungspsychologische Modelle der frühen Interaktion“

Herr Doering klärt uns zu Beginn darüber auf, dass er weder Bindungsforscher noch Kinder- und Jugendpsychotherapeut ist, sondern Psychoanalytiker und Psychotherapieforscher. Er möchte uns aber etwas zur Bindungsforschung und zur Interaktion zwischen Mutter und Kind berichten, weil die Forschungsergebnisse aus diesen Bereichen sehr relevant für die Psychotherapie sind. Ich kann vorwegnehmen, dass Herr Doering uns die historische Entwicklung und Meilensteine der frühkindlichen Entwicklungspsychologie vorstellen wird.

Anfänge

Wir bekommen zunächst ein Diagramm präsentiert. Es stellt die allmähliche Ausbildung eines psychischen Raums beim heranwachsenden Baby dar. Die im Diagramm veranschaulichte Theorie nimmt noch an, dass es eine frühe Phase einer sog. „undifferenzierten Matrix“ gibt, die ein Baby erlebt. Diese werde als weitestgehend vegetativ erlebt, also ähnlich einer Pflanze.
Relativ bald wurde diese Betrachtung angegriffen bzw. durch besseres Wissen ersetzt. Insbesondere die Forschungsarbeiten von Daniel Stern revolutionierten die Vorstellungen über die Bewusstseinsvorgänge eines Babys.
Dann werden wir an das Buch „Der kompetente Säugling“ erinnert. Darin stellte Martin Dornes das entwicklungspsychologische Wissen dieser Zeit (1993) umfassend dar und glich es auch mit psychoanalytischen Modellen ab. Seither kann man davon ausgehen, dass Babys sehr wohl über eine gewisse Selbstwahrnehmung verfügen und dass sie sich an ihre Betreuungspersonen anpassen können.
Anhand dieser Grundlagen möchte uns Herr Doering nun die Arbeit von Beatrice Beebe und Frank M. Lachmann vorstellen. Beides sind Säuglingsforscher, die auf der Basis ihrer Einsichten die Relevanz insbesondere für die Psychoanalyse, im Weiteren aber auch für Psychotherapie insgesamt relevant halten. Das Eingangszitat dazu lautet:

„[…] weil sich die basalen nonverbalen Interaktionsprozesse so ähnlich bleiben, […] vermag [das] unser Verständnis der Analytiker-Patient-Interaktion zu vertiefen.“

Die Interaktionsprozesse verändern sich natürlich durch Sprache und Kognitionen, aber der nonverbale Grund bleibt dabei erhalten. Der Ansatz wäre also nun, vor diesem Hintergrund die folgenden Fragen zu beantworten: Was geschieht eigentlich in einer Psychotherapie? Was passiert jenseits der Worte? Herrn Doerings Forschungsarbeit besteht nun genau darin, zu versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Was ist eine Repräsentation?

Das klassische Verständnis dieses Begriffs umschreibt die Anwesenheit von etwas im Bewusstsein, das nicht real präsent ist. Die Hypothese dazu lautete immer, dass dafür so etwas wie symbolischen Fähigkeiten notwendig wären, also Sprachfähigkeit.
Nun hat sich aber herausgestellt, dass es auch präsymbolische Repräsentationen gibt. Diese lassen sich ab dem zweiten Lebensmonat feststellen und es geht dabei um Bilder, Töne und Geräusche sowie um Gerüche, die in Beziehungskontexten eine Rolle spielen. Diese bilden präsymbolische Repräsentanzen, die zum impliziten Beziehungswissen gezählt werden. Es wird angenommen, dass sie uns ein Leben lang erhalten bleiben.
Klassische Experimente, die diese Hypothese stützen, sind: Dass ein Säugling innerhalb von fünf Tagen nach der Geburt die Mutter am Geruch erkennen kann, nach nur drei Tagen die mütterliche Stimme und ihr Gesicht nach etwa zwei Tagen. Aus diesen Erkenntnissen wurde im Anschluss die Entwicklungspsychologie der Klein‘schen Objektbeziehungstheorie erweitert.

Implizites Beziehungswissen

Alle diese präsymbolischen Repräsentationen werden in Beziehungen erworben und bleiben für Beziehungen relevant, auch nachdem symbolische Repräsentanzen gebildet werden können. Es ist implizit-prozedurales (unwillkürliches) Beziehungswissen, das ein Stück weit unsere Erwartungen an und Handlungen in Beziehungen beeinflusst.
Daniel Stern hat diese Art von Wissen als RIGs „Representations of Interaction that have been Generalized“ bezeichnet. Diese umfassen Gefühle, Handlungen und Interaktionen in komplexen Mustern.

Synchronisierung

Wie bilden sich nun die präsymbolischen Repräsentanzen oder RIGs? Eine zentrale Rolle spielt dabei die Synchronisation, also die zeitliche Abstimmung zwischen Partner.

Bekannt ist das Phänomen der Fähigkeit des Säuglings, bereits wenige Stunden nach seiner Geburt die Mimik eines Gegenübers nachahmen zu können. Ob das bereits ein Effekt des Gesichts-Feedbacks ist (facial feedback) ist noch nicht geklärt.

Die Rolle des „Spiegelns“ hingegen scheint sehr viel eindeutiger geklärt. Es ist eine der häufigsten Interaktionen zwischen Mutter und Kind, dass wechselseitig Gesichtsausdrücke produziert und zurückgespiegelt werden. Diese Abstimmung erfolgt in Zeiträumen von Mikrosekunde, ist also hochdynamisch. Da Mimik aber auch zum Gefühlsausdruck zählt, findet hier auch schon eine Affektregulation und damit Aufbauprozesse eines Selbsts statt. Frau Beebe formuliert die Erfahrung so:

„Ich erlebe mich selbst als eine Person, die dir folgt und der du folgst.“

Ein weiteres Forschungsergebnis von Frau Beebe ist, dass eine zweieinhalbminütige Beobachtung einer Mutter-Kind-Interaktion (das Kind ist vier Monate alt), das Bindungsmuster mit einem Jahr vorausgesagt werden kann. Mithilfe einer guten Filmaufnahme dieser Interaktion lassen sich Spiegelungs-, Berührungs-, Handlungs- und Abstimmungssequenzen analysieren und auf ihre Angemessenheit und Synchronität prüfen. Gelingende Interaktionen muten an wie ein Tanz von Mutter und Kind.
Wir sehen nun eine kleine Videosequenz einer solchen Mutter-Kind-Interaktion, die das Gehörte eindrücklich illustriert. Dieses Beispiel dokumentierte eine gute Abstimmung zwischen Baby und Mutter.

Misslingende Abstimmung

Nun nennt uns Herr Doering einige Anzeichen, die für ein desorganisiertes Bindungsmuster sprechen. Die Kinder zeigen mehr Kummer in der Mimik, sie zeigen auch Abweichungen zwischen stimmlicher Äußerung und Affektausdruck, die Rhythmen sind schwer vorhersagbar und die Kinder berühren sich selbst weniger mit ihren Händen.
Die Mütter wenden ihren Blick häufiger ab, kommen aber auch häufiger besonders nah oder zu nah. Wenn das Kind Kummer zeigt, zeigen sie sich überrascht und eher positiv und sie können sich nicht gut zeitlich abstimmen. Sie versuchen stark ihre Mimik zu beherrschen und berühren ihr Kind eher unkoordiniert.
Zum besseren Überblick bekommen wir noch ein Diagramm, das uns die Zeitlinie der Synchronität darstellt. Diese beginnt bereits vorgeburtlich und macht in den ersten sechs nachgeburtlichen Monaten vor allem Erfahrungen in Interaktionen. Dabei hilft dem Baby ein angeborener „Kontingenz-Detektor“, denn es sucht nach wenn-dann Beziehungen.
Etwa ab dem neunten Monat entsteht so etwas wie Intersubjektivität und etwa ab dem ersten Lebensjahr beginn allmählich die Bildung symbolischer Repräsentanzen.

Abriss und Reparatur

Aber keine Harmonie hält ewig und es kommt auch immer wieder zu Abbrüchen und Missverständnissen. Wieder war es Daniel Stern, der dieses Phänomen neu gedeutet hat. Danach sind die Unterbrechungen und ihre Reparatur sehr wichtige Erfahrungen für den Säugling, denn er trainiert damit seine Toleranzschwelle und macht auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, wenn es ihm gelingt, die Mutter wieder zum Tanzen zu bringen. Genauere Forschungen haben ergeben, dass nur 30 % der Zeit in Harmonie verbracht werden und während 70 % der Zeit eine gewisse Dissonanz vorherrscht.

Das berühmteste Experiment zu diesem Thema ist das „Still Face Experiment“. Darin bekommen Mütter die Aufgabe, drei Minuten lang ihre Gesichtszüge nicht zu verändern. Wir sehen ein solches Experiment in einem kurzen Video und es ist sehr anrührend, welche Anstrengungen das Kind macht, um die Mutter wieder in Einklang zu bringen. Der Forscher Ed Tronick nannte das: „Das Gute, das Schlechte und das Hässliche“. Gut sind die normalen Dinge, wenn Einklang zwischen Mutter und Kind herrscht. Schlecht ist, wenn der Einklang gestört ist und hässlich ist, wenn es keinen Rückweg aus dem Missklang gibt.

Eine gelingende Beziehungsgestaltung umfasst also sowohl Harmonie als auch Dissonanz und die Wege dazwischen. Reine Harmonie ist so schädlich wie reine Dissonanz. Genau das besagt das „Mutual Regulation Model“

Mutter und Kind beeinflussen gegenseitig, also beide sind sowohl aktiv als auch passiv an der Beziehungsgestaltung beteiligt. Dabei hilft auch das sog. „Social Referencing“. Dieser Ausdruck will sagen, dass das Kind in unbekannten Situationen auf den Gesichtsausdruck bzw. die Reaktion der Mutter achtet, um einen Hinweis darauf zu bekommen, ob die Situation womöglich gefährlich ist.

Kreuzmodale Entsprechung und Affektabstimmung

Es ist schon länger bekannt, dass kleine Kinder verschiedene Objekte mit mehreren Sinnen erforschen und zwar visuell, taktil, evtl. über den Geruch oder auch auditiv. Zum Verständnis dieses Phänomens hat wieder Daniel Stern einiges beizutragen. Er vermutet eine „supra-modale Wahrnehmung“, die weder taktil, auditiv oder visuell ist, aber die Möglichkeit bietet, ein und denselben Gegenstand in unterschiedlichen Modi wiederzuerkennen.

Stern bringt auch noch den sog. „Vitalitätsaffekt“ ins Spiel. Damit möchte er die Erlebniswelt des Kleinkinds beschreiben, die als ein Auf und Ab von Gefühlen und Intensitäten vor sich hinfließt. Damit ist es möglich, die typischen Gesprächsformen zwischen Eltern und Kindern zu verstehen. Übertrieben laute oder leise, hohe oder tiefe Sprache, eine übertriebene Mimik und alles geht mit dazu passenden Bewegungen einher, die entsprechend schnell und kräftig sind.

Dies wird ab dem neunten Lebensmonat noch einmal intensiver und um eine neue Dimension erweitert, denn in dieser Zeit beginnt die Affektabstimmung eine wichtigere Rolle zu spielen. Affekte und Emotionen haben auch eine Erregungskurve z. B. ansteigend im Ärger oder abfallend bei der Trauer. Diese Verläufe lassen sich nun auch in der Stimme, der Bewegung oder dem Gesichtsausdruck nachvollziehen. Der Vortragende gibt uns ein schönes stimmliches Beispiel des „Kuckuck-Da“ Spiels, das von sechs bis acht Monate alten Kindern so innig geliebt wird.
Wir bekommen noch weitere Beispiele für kontingentes Spiegeln, also kongruente und markierte Wiedergaben der Äußerungen des Kindes, sodass es die Möglichkeit hat, sich sowohl gesehen als auch verstanden zu fühlen. Auch die Beispiele, bei denen die Spiegelung nicht klappt, sind eindrucksvoll.

Konsequenzen für die Psychotherapie

Herr Doering plädiert dafür, dass diese Prozesse von Synchronität, Grenzverfehlungen, kontingente Spiegelungen sowie der Verlauf von Erregungskurven und die kreuzmodalen Übersetzungen eine wichtige Rolle für den Verlauf und den Erfolg einer Therapie spielen. Patient*innen haben eher ungute Abstimmungserfahrungen gemacht und in ihrem impliziten Gedächtnis sind wohl häufiger ungute Interaktionserfahrungen abgelegt.
Diese impliziten Inhalte zeigen sich im nonverbalen Verhalten, der Inszenierung, der Art und Weise der Annäherung und des Abschieds und in den Möglichkeiten der gegenseitigen Regulation. Herr Doering möchte uns dafür sensibilisieren.

Hier geht es zu diesem überaus reichhaltigen Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Geist und Körper

Der Mensch ist nicht nur seine Gedanken

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: PD. Dr. Donata Schoeller, Universität Island und Koblenz: „Zu sich kommen im Denken: wenn der Geist auf den Körper hört“

Der verkörperte, eingebettete und aktive Geist

Es gibt eine lange Tradition, die Körper und Geist als zwei verschiedene Aspekte der Welt betrachtet. Diese Art über sich und seinen Körper zu denken, hat zu einer gewissen Abwertung des „rein“ körperlichen geführt. Diese Sichtweise wird heute kritisiert und Frau Schoeller möchte uns diese kritische Sichtweise näherbringen.
Zunächst einmal sind Körper nie nur Körper, sie sind immer in Umwelten eingebettet und sich selbst ebenfalls eine Umwelt. Dazu liest sie uns ein Zitat von Eugene Gendlin vor. Sie fordert uns dazu auf, wahrzunehmen, welche Auswirkungen der Text auf unser Körperempfinden hat.

„Der Blutkreislauf wird häufig als die Umwelt der Zellen bezeichnet, die er ernährt. Die vielen Prozesse im Körper haben unterschiedliche Teile als ihre Umwelt. Die Hautlinie ist nicht die große Scheidelinie (…)
Der Körper ist eine Umwelt, in der sich der Körperprozess weiter fortsetzt.
Der Körper ist durch einen im Prozess befindlichen Embryo entstanden. Die Struktur des Körpers ist aber nicht nur entstanden, sondern wird auch durch fortlaufende Prozesse erhalten – wenn diese aufhören, fällt er auseinander.
Betrachten wir die Linien auf eine Muschel: ein kleiner erster Teil ist bereits Muschel und war das Gehäuse eines kleineren Tiers; Ringe und noch mehr Ringe werden durch Wachstum hinzugefügt. Die Muschel ist charakterisiert durch die Spur eines aktiven Geschehens, sie ist verdichteter Prozess. Der Körper ist genauso, er ist ein Beleg, eine Spur eines aktiven Geschehens.“

Wenn wir diese Perspektive einnehmen, ist es nicht mehr so einfach zu bestimmen, was genau mit „innerhalb“ oder „in“ eigentlich gemeint ist. Als Beispiele nennt sie die Erfahrung des Drucks an der Fußsohle, die sich im ganzen Körper wahrnehmen lässt, aber nicht mehr scharf umrissen ist. Oder die Atmung, die Sauerstoff aus der Luft aufnimmt, der dann wiederum von den Zellen des Körpers aufgenommen wird.

Der Körper ist in der Umwelt und die Umwelt im Körper.

Geist als emergenter Effekt

Jenseits von physikalischen, chemischen und biologischen Umwelten leben Menschen immer und zwangsläufig mit anderen Menschen zusammen. In Familien, Beziehungen, Kulturen und Städten entsteht durch die Sprache auch eine Art Umwelt. Sprache ihrerseits erschließt dann die weiteren Umwelten von Bedeutung und Geist.
Auch hier bekommen wir Zitate zur Verdeutlichung:

„Durch die Lebensprozesse von Generationen sind geistige Inhalte und Bedeutung wie eine zunächst neue, sich stets generierende Umwelt gewachsen, eine Körper-Umwelt, in der nun unsere Lebensprozesse vor sich gehen …“

„Mit uns als Menschheit hat sich auch eine Umwelt der Bedeutungen entwickelt, die unsere Körper, unsere Lebensweisen implizieren …“

„Sprachliche Bedeutung ist die durch den Lebensprozess der Menschheit entstandene Umwelt, in der dieser Prozess nun weitergeht.“

Körper, Sprache und Bedeutung sind in dieser Sichtweise immer miteinander verknüpft und verbunden, jegliche Trennung oder Teilung wäre reine Willkür. Frau Schoeller drückt es so aus:

„Sprachsysteme sind gewachsen aus einem uralten, gewebten Teppich von gelebten, gekreuzten, gegenseitig interaffizierten Lebenskontexten, über Jahrtausende.
Sprachmuster sind mit dem Mustergefüge menschlicher Situationen und Kulturen entstanden und aus den /Sprach-)Körpern, die sich entwickelt haben.
Bedeutungssysteme in Sprache, Bedeutungen in Worten werden gelebt, erlebt, weiterentwickelt, dadurch neubelebt, von Generation zu Generation erneuert …“

Ein anderer Blickwinkel

Es kommt Frau Schoeller nicht darauf an, hier eine philosophisch abstrakte Debatte zu führen. Sie möchte auf die praktische und alltägliche Kommunikationspraxis schauen, die sich in diesem Licht ganz anders und neu darstellt.
Um aber diesen neuen Blick zu gewinnen, lohnt es sich zunächst auf konventionelle Modelle von Bedeutung zu besinnen.

Populär ist hier vor allem das Repräsentationsmodell. Ein Wort verweist auf einen Gegenstand – z. B. dieser Apfel hier.

Das andere häufig verwendete Modell wäre das der Konstruktion, in dem die Begriffe der schon vorhandenen Welt dem Verstand oder Gehirn entspringen.

Die dazugehörigen Verfahren praktizieren dann logische Betrachtungen, begriffliche Implikationen, Strukturen, Grammatik, Wahrheitsbedingungen und Sprachkonventionen und nirgendwo taucht dabei der Körper auf.

Dabei kommt aber etwas zu kurz. Wir kennen die geschliffenen Sprachkonserven, feststehende Phrasen, die elegant klingen mögen uns aber nicht zum Schwingen bringen. Andererseits gibt es die Erfahrung, dass durch die Beschäftigung mit einem Begriff neue Nuancen auftauchen, dass diese Beschäftigung uns ergreift.

Ein Wort steckt quasi voller Bedeutungen, je nach Kontext, Zeit und Mensch, der das Wort verwendet. Oder auch die Erfahrung, dass ein gutes Wort zur rechten Zeit eine Situation völlig verändern kann.

Um diese Phänomene besser erfassen zu können, passt der Begriff der Performativität wesentlich besser, als das Sender – Empfänger Modell der Kommunikation.

„Sprache geschieht hinein in ein stets bewegtes verkörpertes Erlebnisgeschehen – in den Strom eines Bewusstseins.“

Ein Phänomen, das auch in der Psychotherapie immer wieder erlebt wird.

Konsequenzen für Forschungspraktiken

Folgende frage führt den nächsen Abschnitt ein:

Gewähren akademische Forschungspraktiken genügend Raum, um dieses Aufeinander Wirken der untrennbaren körperlichen und geistigen Umwelten auf den Lebensprozess zu kultivieren?

Diese Frage ist wichtig, weil der Zugang über eine verkörperte Sprache ganz andere Bedeutungsbereiche erschließen kann.

Dazu hören wir ein Zitat des Philosophen Thomas Nagel. Darin stellt er klar, dass wir mit dem Ideal der Objektivität, das in der Wissenschaft der Goldstandard ist, etliche subjektive Erfahrungsbereiche gar nicht erkennen können.
Die Forderung, objektiv zu denken, trennt uns von den körperlichen Quellen des Denkens von einem Standpunkt aus. Um aber diesen Standpunkt finden zu können, braucht es eine Wahrnehmung des Körpers. Diese zu gewinnen, ist wiederum alles andere als einfach. Körperlich verbunden zu sprechen braucht Unterricht und Übung, die hierzulande kaum eine Tradition haben. Um diesen anderen Zugang zu Bewusstsein zu gewinnen, bräuchte es eine verbundene Art des Sich-Einlassens auf die Welt, eine Art Hingabe.

Schulung im anderen Denken

Diese Art von Schulung hat Frau Schoeller mit einer Kollegin entwickelt. Das Programm hat den Namen: „Embodied Critical Thinking“. Dieses Programm baut sich auf vier Prinzipien auf.

  1.  Einen Raum für gelebte Erfahrung schaffen – das bedeutet verlangsamen, eintauchen, in Kontakt kommen mit dem Reichtum, der Subtilität und impliziten Präzision der gelebten Erfahrung.
  2. Reflexive Fürsorge – halten und zulassen. Sich an die erlebte Bedeutsamkeit (felt sense) eines Problems, einer Frage, einer Situation halten, sie sich entfalten lassen um den Denkprozess zu bereichern.
  3. Verbundenes Sprechen – die Freiheit lassen, Sinn entstehen zu lassen. Auf sich selbst und den anderen achten, um den ausschlaggebenden Punkt zu berühren beim Formulieren und entstehende Bedeutungen nicht unter dem Druck akzeptabler „Sprachspiele“, Meinungen und Mustern zu verlieren.
  4. Radikales Zuhören. Auf die Resonanz der Formulierungen achten und sich gegenseitig durch aufmerksames, nicht unterbrechendes Zuhören unterstützen.

Es braucht Zeit, um Zuhören zu können. Zeit als Bedingung, um unterschiedliche Wissensformen (der Ersten und Dritten Person) zusammenzubringen. Dabei geht es darum Zuhören zu üben und für tastend zu formulieren, damit sich die Ebenen der begrifflichen Implikationen und der erlebten Bedeutsamkeit verbinden können. So kann Solidarität entstehen, um die Verletzlichkeit im Denken zu schützen und sie kann eine Quelle sein, um über Muster hinaus zu fühlen und zu denken.

Techniken

Wir bekommen nun noch zwei Techniken vorgestellt, mit denen diese Art des Zuhörens geübt werden kann. Das erste Beispiel (Dropping und Dipping) handelt von der Erforschung des Kernbegriffs „Zuhause“. Ein langsames eintauchen in die zahlreichen Facetten, die dieser Begriff für den Forscher entwickelt.
Eine zweite Übung heißt „Crossing“ – Erlebnisse kreuzen. Darin werden zwei Erlebnisse assoziiert bzw. die Assoziationen von Erlebnissen gefunden und vertieft erforscht. Auch dieses Beispiel ist sehr eindrucksvoll.
Frau Schoeller macht uns anhand der Beispiele noch einmal klar, dass das Sprechen über etwas, das Erleben verändert und dass verändertes Erleben die Sprache verändert. Bedeutung und Erleben erlauben sich gegenseitig.

Gesamtgesellschaftliche Relevanz dieser Sicht

Objektivierende Sprechweisen haben Rückwirkungen auf das Erleben des Besprochenen. Aber diese Rückwirkungen werden in aller Regel nicht berücksichtigt. „Man bewegt sich im alltäglichen oder wissenschaftlichen Sprachsystem oft wie in einem abgeschlossenen System, in konventioneller oder paradigmatischer antrainierter Eingespieltheit – man sagt, was man zu verbinden und zu sagen erlernt hat, was schnell geht, was den Ablauf nicht stört, ein gewohntes schnelles Pingpong mit wenig Überraschungen.“
Und: „Entkoppelte Sprache – erlebte Kontexte werden in einem alltäglichen akademischen Sprachgebrauch zu gering oder gar nicht mehr berührt, tangiert, vorangetragen, sondern oftmals chronisch übergangen, diffus verletzt, verloren, ohne dass das je zur Sprache kommen kann. Denn das Problem liegt u.a. im Sprachgebrauch. Geistige Produkte werden zu rigiden Umwelten des Körpers. Es kommt zu Entladungen in aufgeheizten Debatten, in denen Worte wie Messer wirken.“
Diese Art von Sprachgebrauch lässt sich auch in politischen Debatten oder Talkshows gut beobachten.
Um das zu ändern bräuchte es neue Sprachformen und -praxen. Ein Beispiel für dieses neue Paradigma wäre das Resonanz Modell von Hartmut Rosa. Frau Schoeller bevorzugt aber die Sprachphilosophie von Eugene Gendlin, die den Begriff ‚Responsivität‘ verwendet. Darin geht es um Verantwortlichkeit und Empfänglichkeit um die vielfältigen bedeutsamen Umwelten zu kultivieren, die der zerbrechlich-starke Lebensprozess bedarf und die spürbarer werden, wenn im Denken zu sich kommt.
Ein tiefgründiger und spannender Vortrag!

Hier geht’s zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet Traumata von Kindern

Kindheitstrauma

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Prof. Dr. med. Martin Sack, TU München: „Folgen schwerer Traumatisierung in der Kindheit – wie kann Psychotherapie helfen?“

Einführung

Herr Sack erläutert uns zur Einführung, dass in den letzten dreißig bis vierzig Jahren ganz erhebliche Fortschritte zu den wichtigen Themen Trauma, Trauma Folgen und Trauma bedingte Störungen zu verzeichnen sind. Geforscht wurde und wird dazu in der Psychotherapie, der Psychosomatik, der Psychiatrie und der Neurologie. Daraus haben sich ein tieferes Verständnis der Dynamik und neue Methoden der Psychotherapie entwickelt.

Er erläutert uns das bekannte und inzwischen noch besser verstandene Modell der Trauma Entstehung. Gegeben ist eine Situation, in der sich die Betroffenen als völlig ohnmächtig erfahren, von den Ereignissen geradezu überrollt werden. Sie geraten in einen dissoziativen Zustand (s.u.), was dazu führt, dass das Erlebte nicht integriert werden kann. Die Erinnerung an den Vorfall zersplittert in eine Sammlung von Einzelteilen, die keinen Zusammenhang mehr haben. Später genügt ein kleiner Anlass – ein Gedanken, ein Geruch, ein Geräusch, um den ganzen Stress der Ausgangssituation wieder zu aktivieren.

Biologische Grundlagen

Wir sehen dazu das wohlbekannte Diagramm, das veranschaulicht, wie in einer kritischen Situation das Kampf-Flucht Muster aufgerufen wird und dass, wenn weder kämpfen noch fliehen möglich ist, ein Einfrieren erfolgt. Damit ist der Pfad zur Trauma Folgestörung betreten.

Was unmittelbar helfen könnte, wären Mitmenschen, die einem Halt, Trost und Orientierung bieten können. Soziale Unterstützung wirkt auch noch nach dem traumatisierenden Vorfall. Zugespitzt: Wann immer eine Trauma Folgenstörung entsteht, hat das soziale Unterstützungssystem versagt. Ganz besonders ist das der Fall, wo es um kindliche Traumatisierungen geht.

Kurzer Rückblick auf die Trauma Forschung

Herr Sack blickt kurz auf die Entwicklung der Trauma Forschung zurück. In den siebziger und achtziger Jahren ging es zunächst um die „Posttraumatische Belastungsstörung“ (PTSD). Diese wurde dann 1980 als Diagnose in den ICD aufgenommen.

Beschrieben wurde das unwillkürliche Auftauchen von Erinnerungen an das Geschehen (Flash Back), das Vermeidungsverhalten, den Unwillen über die Geschehnisse zu sprechen, die ständig erhöhte Erregung des Körpers, Stress Symptome, erhöhte Wachsamkeit, erhöhter Blutdruck und erhöhte Herzfrequenz. Damit wird die PTSD auch zu einer Angelegenheit des Körpers und ebenfalls zu einer bio-psycho-sozialen Störung.

Traumatische Belastungen der Kindheit

Nach und nach hat die Traumforschung herausgefunden, dass Trauma Folgen nicht alleine PTSD verursachen, sondern dass die Auswirkungen sehr viel weiter reichen. Das geht so weit, dass „im Prinzip jede psychische Erkrankung durch Traumatisierungen in der Kindheit determiniert sein kann.“ Zumindest ist durch diese Erfahrung ein Risikofaktor für alle möglichen psychischen Erkrankungen gegeben.

Als Beleg bekommen wir die Ergebnisse einer von vielen Studien präsentiert. Diese zeigt, dass nur knapp die Hälfte von 30.000 Befragten keine Kindheitsbelastungen erlebt haben. Ein Viertel davon hat eine Belastung angegeben und 27% der Befragten hatten zwei, drei, vier oder mehr Belastungen auszuhalten.

Belastungen der Kindheit kommen vielgestaltig daher. Gewalt – körperlich, emotional, sexualisiert; Vernachlässigung, weil die Eltern selbst krank oder delinquent sind; Parentifizierung, weil ein oder beide Elternteile selbst der Versorgung bedürfen. Dabei können diese Belastungen auch in beliebigen Kombinationen auftauchen.

Dies führt u.a. dazu, dass Menschen mit einer Belastung in der Kindheit ein weit höheres Risiko haben, später erneut Traumata zu erleben.

Vernachlässigung – der vernachlässigte Faktor

Herr Sack stellt bedauernd fest, dass es in Deutschland nicht einmal ein Register zur Erfassung von Vernachlässigung gibt. Das ist schon deshalb ein großes Problem, weil Schätzungen besagen, dass Vernachlässigung etwa sieben Mal häufiger vorkommen als sexualisierte Gewalt. Dabei ist die Erfahrung von Vernachlässigung ebenso traumatisierend, wie die Erfahrung von Gewalt. Auch diesen Befund belegt der Vortragende mit einer Untersuchung, die für Vernachlässigung den erschütternden Wert von 62,8 % ermittelt hat.

Diese Vorgeschichte begünstigt die Entwicklung einer Depression in hohem Maße. Das erscheint sehr plausibel, wenn man sich in die Situation des vernachlässigten Kinds versetzt – Hoffnungslosigkeit, Perspektivlosigkeit und natürlich Traurigkeit.

Belastung und Krankheit

Dramatisch sind die Folgen von vier oder mehr Kindheitsbelastungen. Nicht nur Depressionen (über vier Mal häufiger) können die Folge sein. Das Risiko einer koronaren Herzerkrankung ist mehr als doppelt so hoch; Diabetes mellitus wird wahrscheinlicher, noch wahrscheinlicher chronische Bronchitis oder Emphyseme. Besonders erschreckend erscheint die Selbstmordneigung, die mehr als zehnmal so hoch ist, als in der Gesamtbevölkerung.

Dazu werden fast fünf Mal häufiger illegale Drogen konsumiert, mehr als sieben Mal häufiger zu viel Alkohol und mehr als zehn Mal häufiger werden sogar illegale Drogen injiziert. Wohlgemerkt. Diese Risiken tragen auch vernachlässigte Kinder.

Dass Vernachlässigung bis tief in das biologische System hineinwirkt, hat eine Untersuchung von Rumänischen Waisenkindern ergeben. Die Beeinträchtigungen gehen hinab bis auf Zellebene, wo die Zellen schneller altern und sogar epigenetische Umschaltungen stattfinden. Sogar im Aufbau der Milchzähne lassen sich Spuren kindlichen Stresses finden.

Diagnostik und Kindheitsbelastungen

Hier fühlt sich die Psychotherapie gefordert. Wie kann eine angemessene Psychotherapie für Betroffene aussehen? Wie kann PT zur Gesundung und Stabilisierung der Person beitragen? Herr Sack ist der Überzeugung, dass „Trauma fokussierte PT“ dafür notwendig ist.

Zunächst geht es darum, den Patient*innen klarzumachen, dass sie keine Schuld an ihrer Erkrankung haben. Sie hatten das Pech, in dieser Familie aufzuwachsen, die so unfähig war, die kindlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Sie haben es geschafft, sich an diese Umstände anzupassen, aber diese Anpassungsmodus stellt heute ein Problem für sie dar.

Früher wurde diese Problematik unter dem Stichwort „Frühe Störung“ behandelt. Dieses umfasste: Störung der Mutter-Kind Bindung in den ersten zwei bis drei Lebensjahren. Was zu einer anhaltenden Behinderung der weiteren Entwicklung durch fehlende Erfahrungen von Handlungskompetenz, Bestätigung und Wertschätzung, Interaktion und Beziehung führt. Dadurch fehlt ein basales Sicherheitsgefühl, v.a. in Bezug auf Reizschutz, Angstregulation und Bindung.

Aus dieser Vorgeschichte entwickelt sich mit der Zeit ein immer vielfältigeres Krankheitsbild. Schlafstörungen, Ängste und Depressionen bei zwei bis dreijährigen Kindern. Spätere hinzukommende Traumata, dissoziativer Störungen, Persönlichkeitsstörungen usf.

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Herr Sack gibt uns das Beispiel einer Patientin, die nicht weniger als zehn verschiedene Diagnosen in ihrer Krankengeschichte hatte. Damit belegt er, dass die Komplexität, die sich aus dem kindlichen Trauma entwickelt, selbst ein Problem darstellt. Er schließt daraus, dass die diagnostischen Möglichkeiten um eine „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ ergänzt werden muss. Diese wird wohl auch mit dem ICD-11 auftauchen.

Aber wie umgehen mit dieser Komplexität? Es geht um zwei Ebenen der Behandlung. Einerseits muss die Symptomatik selbst behandelt werden. Hier geht es sehr stark um Stressregulation. Ebenfalls behandlungsbedürftig sind aber auch die brachliegenden Entwicklungsbedürfnisse. Hier treffen sich also Verhaltenstherapeutische mit psychodynamischen und humanistischen Psychotherapieansätzen.

Belastung und Persönlichkeit

Die Ähnlichkeit der Symptomatik mit sog. Persönlichkeitsstörungen ist offensichtlich. Die Annahme, dass diese Persönlichkeitsstörungen auf kindlichen Traumata beruht, liegt nahe. Deshalb schlägt Herr Sack vor, dass die Bezeichnungen „Persönlichkeitsentwicklungsstörung“ oder Entwicklungstraumafolgestörung“ passender und weniger diskrimierend seien.

Um die komplexe Störung von der „einfachen“ PTBS abgrenzen zu können, braucht es eine Differenzierung. Dazu sehen wir ein Modell, das uns vier Grade von Traumafolgestörungen zeigt. Es reicht von der einfachen PTBS, zur PTBS plus trauma-kompensierender Symptomatik (Sucht, Angst, Depression), weiter zu PTBS plus persönlichkeitsprägenden Symptomatik (Borderline und andere PS), bis zu PTBS plus komplexe dissoziativen Störungen (Amnesien, Fragmentierung, Identitätsstörung).

Herr Sack betont, dass solchen Krankheitsbildern mit Methodenvielfalt begegnet werden muss. Medikamente und Gespräche alleine genügen auf keinen Fall. Es braucht Körper- und Erlebnisorientierte Verfahren, Gruppen- und Einzeltherapie, alles was positive Erfahrungen begünstigen kann.

Dissoziationen

Um diesen Menschen helfen zu können, brauchen wir ein umfassenderes Verständnis von Gesundheit. Herr Sack nennt das „Salutogenese Konzept“ von Aaron Antonovsky, das zu einem solchen Verständnis beitragen kann.

Die grundsätzliche Richtung der Behandlung geht von der traumatischen Erfahrung aus. In ihr wurde Kontrollverlust erlebt, maximale Hilflosigkeit, existenzielle Bedrohung und ausgeliefert sein. Was angestrebt wird, ist ein Zustand von Stabilität, ein Grundgefühl von Überschaubarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens.

Als eine mögliche Methode beschreibt Herr Sack auch die Elektrokrampftherapie. Zumindest bei Ratten, anscheinend auch bei Menschen, scheint sie zu bewirken, dass traumatische Erinnerungen gelöscht werden können – eine elektrisierende Entdeckung gewissermaßen.

Therapeutische Möglichkeiten

Sein Hauptanliegen ist jedoch die „Traumakonfrontative Behandlungsmethode“. Dieser Ansatz kennt verschiedene Varianten, der bekannteste ist im Moment wohl die EMDR Methode. Aber es gibt weitere solcher Verfahren, die im Wesentlichen alle funktionieren. Nach Datenlage haben 80 % der Behandelten einen Behandlungserfolg zu verzeichnen.

Nun folgt ein Fallbeispiel aus seiner eigenen Praxis, das gut veranschaulicht, wie man sehr direkt mit traumatischen Sequenzen arbeiten kann. Im Anschluss dann noch eine Vergleichstabelle, die Antidepressiva, Gesprächspsychotherapie und Traumafokussierte PT anhand ihres Erfolgs vergleicht. Von schwach bist stark wirken Medikamente, PT und Traumafokussierte PT.

Therapie in der Tagesklinik

Traumfolgestörungen lassen sich nicht einer Kurzzeittherapie behandeln. Schon mehrfach hat der Vortragende auf den Faktor Zeit aufmerksam gemacht. Aus seiner Arbeit in einer Tagesklinik kann er von folgenden Bedürfnissen der Patient*innen berichten. Sich als handlungsfähig erleben; Selbstfürsorge und Selbstakzeptanz fördern, eigene Bedürfnisse erkennen, Grenzen setzen lernen, Kontakt- und Beziehungsfähigkeit fördern; lernen, mit belastenden Affekten umzugehen; Bearbeitung von Stressoren (Traumatherapie).

Eine solche Fülle von Themen lässt sich natürlich nicht Punkt für Punkt abarbeiten. Die Probleme werden dann angegangen, wenn sie sich zeigen.

Als zentral schätzt Herr Sack die Förderung der Selbstwahrnehmung und des Selbstbezugs, zusammen mit der Förderung der Orientierung in der Gegenwart und der Förderung der Fähigkeit zur Beziehungsaufnahme ein. Nur wer orientiert, gut genug mit sich in Kontakt ist, ist auch in der Lage eine Beziehung zu führen. Eine Beziehung, die bedeutsam genug ist, dass sie auch eine Ressource darstellen könnte. Im Auge ist dabei zu behalten, dass der Patient nicht dissoziiert.

Ein Aspekt, der ebenfalls in der Therapie auftauchen kann, ist Destruktivität. Auch dazu präsentiert Herr Sack uns noch eine sehr eindrückliche Fallgeschichte.

Bedürfnisse von Betroffenen

Um solche komplexen Lebensgeschichten angemessen behandeln zu können, braucht es eine Vorstellung davon, welche Bedürfnisse Menschen haben können. Diese müssen dann individuell behandelt werden. Herr Sack zeigt uns eine Liste, die er erstellt hat.

Schutz und Geborgenheit
Ein Grundgefühl von Sicherheit fördern
Interaktion und Orientierung
Verlässliche Beziehungen anbieten
Fürsorge und Unterstützung
Zuwendung zum individuellen Leid und persönlichen Bedürfnissen
Wertschätzung und Anerkennung
Die individuellen und kulturellen Besonderheiten wertschätzen
Förderung von Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit
Kompetenzerleben und Erfahrungen von Bewältigung fördern
Freude und lustvolle sinnliche Erfahrungen
Lebensfreude, Kontaktfähigkeit und positives Körpererleben fördern

Dies macht den Umfang der therapeutischen Arbeit sehr deutlich. Herr Sack formuliert das Ziel so: „[…] Arbeit an der Entwicklung der Persönlichkeit, an der Reifung, an dem, sich im Alltag integrieren können, sich von Wurzeln gestützt und wieder aufgehoben fühlen, sich vom Leben getragen fühlen können.“ Diese Arbeit mache ihm großen Spaß betont er zum Abschluss.
Ein sehr reichhaltiger Vortrag und hier ist der Link dazu

Die Psychosomatik erkundet das Weinen

Weinen und Trauer

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Cord Benecke, Prof. Dr. phil. Dipl. Psych., Institut für Psychologie, Universität Kassel: „Über das Weinen“

Herr Benecke teilt uns mit, dass wir zunächst etwas über das Weinen an sich erfahren, dann über das Weinen in der Psychotherapie und zum Abschluss möchte er uns aktuelle Forschungen zum Thema vorstellen.

Das Weinen

Der Mensch ist das einzige bekannte Lebewesen, das emotionale Tränen weint. Kinder und Frauen weinen, so lautet der kulturelle Stereotyp, aber tatsächlich weinen auch mal harte Kerle oder sogar hohe Würdenträger. Erstaunlicherweise gibt es zu diesem Thema sehr wenig Forschung. Allenfalls bekannt ist, dass sich die chemische Zusammensetzung von emotionalen Tränen, von solchen unterscheidet, die z.B. beim Gähnen austreten.
Die bisherige Forschung unterscheidet die physiologische Funktion der Tränen, z.B. als Ausscheidungsfunktion, weiter wird nach der intrapsychischen Funktion geforscht und nach der interpersonellen, bzw. kommunikativen Funktion.

Intrapsychische Funktion des Weinens

Hier wird hauptsächliche die kathartische (reinigende) Kraft der Tränen betrachtet, denn  Weinen entlastet, wenn die Klient*innen „es endlich rauslassen können“. Eine direkte Besserung ist allerdings eher selten zu sehen, eher so etwas wie ein Umschalten in eine allmähliche Entspannung.
Dann gibt es ein Phänomen, das Herr Benecke „Löt-Funktion“ nennt. Es geht dabei darum, dass der Weinende auf diese Art mit dem Verlorenen in Kontakt treten kann. Auf diese Art erlebt er noch einmal Schmerz, Trauer, Angst oder Verzweiflung und ist in der Lage, den Schmerz im Erleben auszuhalten.

Kommunikative Funktion des Weinens

Der/die Weinende zeigt sich durch das Weinen schwach und hilfsbedürftig. Er/sie signalisiert ein Bedürfnis nach Hilfe und Weinen wirkt auch als eine Art Aggressionsbremse für den anderen.
Die typischen Reaktionen der anderen bestehen in tröstender und unterstützender Zuwendung. Diese Interaktion fördert und festigt dann auch Bindungen. Wenn aber Eindruck entsteht, dass der/die Weinende manipulieren möchte, löst das Aggressionen aus.

Weinen in der Psychotherapie

Nun beginnt der Vortragenden seine reichhaltige Studiensammlung zu präsentieren. Zunächst sehen wir Daten aus diagnostischen Interviews (OPD). Obwohl dies noch keine therapeutischen Stunden waren, haben darin doch ein Drittel der Befragten spontan geweint. Dabei ergaben sich keine Unterschiede in den Diagnosegruppen (Konflikte, Struktur) oder der Symptombelastung.

Spannend waren eher die Nicht-Weinenden, denn sie erleben sich tendenziell in Beziehungen verschlossener und weniger bezogen. Weiter erleben sie häufiger aggressive Gefühle wie Wut, Ekel oder Reizbarkeit. Sie zeigen auch insgesamt häufiger eine aggressive Gesichtsmimik, die ebenfalls diese Gefühle widerspiegeln oder ein häufiges Lächeln mit Kontrollelementen, also ein falsches Lächeln, das nicht ansteckt.
Diese Befunde interpretiert Herr Benecke so, dass Wut eine Art „Generalmedikament“ gegen Gefühle darstellt.

Eine weitere Studie kommt zu den Ergebnissen, dass Weinen negativ mit dem allgemeinen Funktionsniveau (Struktur) korreliert ist, aber positiv mit emotional-instabiler Symptomatik. Damit assoziiert ist die Erfahrung sexualisierter Gewalt in der Kindheit. Außerdem haben Patient*innen, die in der Stunde geweint haben, den Eindruck, dass die Sitzung schwierig war, dennoch sehen sie keine Auswirkungen auf die therapeutische Allianz.
Noch eine Studie hat ermittelt, dass die Bedeutung des Weinens ganz unterschiedlich gesehen wird:

  • eine bedeutsame, therapeutische Veränderung
  • als Moment echter Verletzlichkeit
  • Erkenntnis von etwas Neuem
  • ein Ausdruck, der mit Worten nicht zu bewerkstelligen ist
  • bessere Verständigung mit dem Therapeuten
  • hoffnungsvoller Hinweis für den Erfolg der Therapie
  • Hinweis darauf, dass die therapeutische Beziehung stärker geworden ist

Weinende Therapeut*innen in der Therapie

Wie erleben Patient*innen weinende Therapeut*innen?

Die meisten Befragten bewerten eine solche Erfahrung positiv. Allerdings kann es vorkommen, dass ein Grund dafür vermutet wird, der eher Ärger auslöst. Deshalb ist es wichtig, dass der/die Therapeut*in sein/ihr Weinen auch thematisiert.

Unterschiedliche Formen des Weinens

Verschiedene Forscher*innen haben sich mit unterschiedlichen Ansätzen daran versucht, eine Typologie des Weinens zu erstellen. So gibt es einen Ansatz, das Weinen anhand des Bindungstyps einordnet, der sich als nicht sonderlich hilfreich erwiesen hat.
Eine andere Herangehensweise wurde durch die Beobachtung des Verhaltens von unheilbar krebskranken Menschen erprobt. Dort wurde wütend intensives Weinen, ruhiges gefasstes Weinen und innerliches Weinen gefunden. Diese Befunde erinnern an die Trauerphasen, wie sie von Verena Kast beschrieben worden sind.
Nun stellt uns Herr Benecke seine eigenen Forschungen vor. Wir bekommen ein Diagramm zu sehen, auf dem die Formen des Weinens eingezeichnet sind. Es sind: Protest, Überforderung, Trauer und positives Berührt-sein. Gerade der letzte Anlass entschwindet häufig der Aufmerksamkeit.

Jede Form kann nun noch einen bestimmten Modus annehmen, nämlich: Überflutend oder unterdrückend, dazwischen wäre so etwas wie ein neutraler Modus.

Für jede Form des Weinens bekommen wir nun Tabellen präsentiert, die die Merkmale und Interaktiven Funktionen auflisten.

Protestweinen

Merkmale:

  • Klient*innen wirken leidend, klagend, trotzig
  • sie fühlen sich unangemessen behandelt und emotional verletzt
  • häufig spielt Wut eine Rolle; ebenso häufig geht es um Schuld und Verantwortung
  • die Gegebenheiten werden nicht akzeptiert und sogar bekämpft

Interaktive Funktion:

  • ist stark ausgeprägt
  • sie hat einen adressierenden, nach außen gerichteten Charakter
  • die Person wirkt fordernd
  • sie erweckt den Eindruck, sich vom Gegenüber Bestätigung, Mitleid oder Verständnis zu erhoffen

Überforderungsweinen

Merkmale:

  • Klient*innen wirken unsicher, verzweifelt, hilflos, ängstlich
  • es geht häufig um Beziehungsthemen, die mit Angst oder Verzweiflung einhergehen
  • es geht um Themen, die eine generelle Überforderung, Kontrollverlust oder Unzufriedenheit mit den Lebensumständen zu tun haben
  • mitunter realisiert die Person etwas

Interaktive Funktion:

  • diese wird als schwächer eingeschätzt
  • die Klient*innen wirken rat- bzw. hilflos
  • die nahegelegte Reaktion besteht aus kümmern, helfen oder Ratschläge geben

Trauerweinen

Merkmale:

  • meist Verlusterfahrung – eine Person, eigene Fähigkeiten, vergangene Zeiten
  • Klient*innen wirken emotional berührt, sind dabei aber ruhig und gefasst
  • es herrscht weitgehende Akzeptanz der Gegebenheit, kein Ankämpfen mehr

Interaktive Funktion:

  • dieses Verhalten ist kaum nach außen gerichtet
  • die Person wirkt, als sei sie bei sich

Positives Weinen

Merkmale:

  • Lächeln bei leichtem Tränenfluss
  • Bericht über positive Tatsachen
  • Dankbarkeit; häufig wurde lang erhofftes wahr
  • positive Gegenwart bei vergangenen Mangelsituationen

Interaktive Funktion:

  • auch hier ist der Ausdruck kaum nach außen gerichtet
  • die Person ist bei sich

Modi des Weinens

Überflutendes Weinen kann dramatisch wirken, die Person wird von ihren Emotionen überwältigt und kann sie nicht beherrschen.

Beim unterdrückten Weinen wird evtl. gar nicht geweint, aber der Kampf mit den Tränen ist deutlich wahrnehmbar.

Dazwischen gibt es Mischformen, für die es keinen besseren Begriff als „neutral“ gibt.

Therapeut*innenverhalten beim Weinen von Klient*innen

Wir erfahren nun weitere Studienergebnisse. Zunächst aus Anamnesesitzungen, bzw. der letzten Anamnesestunde. Hier wurde beobachtet, welche Interventionen vor dem Wein-Ereignis stattgefunden haben. Es waren:

  • die Aufforderung einen schwierigen Affekt zu erforschen
  • eine neue Perspektive auf ein wichtiges Thema zu entwickeln
  • eigene Wünsche oder Fantasien zu entwickeln

Herr Benecke forscht ganz aktuell auch zu diesem Thema. Er nutzt dazu Videoaufzeichnungen von Therapiestunden. Die Fragestellungen dabei sind:

  • Inwiefern wurde das Weinen durch eine Intervention ausgelöst?
  • Wie verhält sich der Therapeut während des Weinens?

Zu dieser Frage wurden drei Hauptkategorien gewählt:

Thematisierung, Zurückhaltung und Neutralisierung
Das Ergebnis sehen wir auf einer dichtbeschriebenen Tabelle. In der ersten Spalte finden wir die Interventionsstärke. Sie umfasst die Kategorien von keine Intervention zu milder bis mäßiger hin zu starken Interventionen.

  • Im ersten Fall ist das Weinen mit dem Thema selbst assoziiert, möglicherweise eine einfache Sachfrage
  • Paraphrasierungen werden als milde Intervention angesehen
  • Aufdeckende und spekulative Fragen sind als mäßig bestimmt
  • Konfrontation oder die Aufforderung, etwas Belastendes auszusprechen wären starke Interventionen

Thematisierung

Der/die Therapeut*in hat verschiedene Möglichkeiten, das Weinen zu thematisieren:

  • Ganz gegenwärtig die Emotionen wahrnehmen, spiegeln und akzeptieren
  • Die Emotion wird grundsätzlicher thematisieren und explorieren, das wäre ein verstehender Zugang
  • Die Emotion wird therapeutisch thematisieren, also die Verbindungen vom Hier und Heute zum Dort und Damals aufzeigen. Hier können auch Deutungen oder Konfrontationen eine Rolle spielen

Zurückhaltung

Dabei geht es darum, dass Pausen auch intentional eingesetzt werden können. Pausen geben den Klient*innen Raum, sich mit ihren Gefühlen auseinanderzusetzen. Die Zurückhaltung kann auch die Form annehmen, den Klienten sprechen zu lassen und auch die Sprechpausen nicht mit einer Erwiderung zu unterbrechen.

Neutralisierung

Diese Form der Reaktion hat wiederum drei Unteraspekte. Den ersten nennt Herr Benecke die therapeutische Neutralisierung. Eine solche zeigt Verbindungen in der Therapie auf und wirkt tröstend und/oder ermutigend. Sie kann mögliche Lösungen aufzeigen und Spannungen abbauen.

Die zweite Form heißt „Ergründung auf der Sachebene“, denn das auslösende Thema wird auf der Sachebene erkundet. Hier begegenen wir wieder dem verstehenden Zugang, der klärt und konkretisiert.

Die dritte Form wäre schließlich der Themenwechsel oder der Abbruch, dabei wird das Weinen übergangen, z. B. indem ein neuer Aspekt angesprochen oder sogar die Stunde beendet wird.

Ergebnisse der Regressionsanalyse

Nach gründlicher Auswertung der gewonnenen Erkenntnisse ergibt sich folgendes Bild:

  • Weinen aus Überforderung wird aktiv durch eine therapeutische Intervention ausgelöst,  das Weinen aus Trauer eher nicht
  • Weinen aus Überforderung führt häufiger zu Therapeutischer Neutralisierung, Weinen aus Protest seltener
  • Das Weinen aus Trauer veranlasst die Therapeut*innen weniger zu einem Themenwechsel/Abbruch
  • Intensivere Auslösung geht mit höherer Therapeutischer Thematisierung einher und mit niedriger Ergründung auf Sachebene
  • Bei intensiverem Auslöser entstehen eher Pausen. Außerdem führt ein intensiverer Auslöser zu mehr Themenwechsel/Abbruch
  • Überflutendes Weinen entsteht meist ohne therapeutische Intervention
  • Bei Überflutendem Weinen ist die Reaktion „Thematisiert Emotionen“ oder deren „Ausdruck im Hier und Jetzt“, sowie „Ergründung auf Emotionsebene“ stärker, aber die Reaktion „Therapeutische Thematisierung“ geringer zu beobachten.

Einfluss der Therapieschule?

Zuguterletzt untersuchte Herr Benecke auch noch die Frage, ob die Therapieschule einen Einfluss auf die Reaktion der Therapeut*innen hat. Er macht das mit Hilfe der vier Kategorien des Weinens und jeweils drei Kategorien für die initiale Reaktion und die Verlaufsreaktion deutlich.

Vor dem Weinen

Die Kategorien vor dem Weinen heißen: Neutral, wenn Fragen auf der Sachebene gestellt werden oder gar keine Aktion vom Therapeuten kommt. Sie heißt Paraphrasierung, wenn das Gehörte konkretisiert oder verbildlicht wird. Die Interpretation deckt mögliche Gefühle, Gedanken oder Konsequenzen auf und die Konfrontation weist auf Widersprüche hin, auf Verdrängtes, gibt Deutungen oder bietet Imaginationen oder Rollenspiele an.

Das Ergebnis besagt, dass in der Hälfte der Fälle das Weinen ohne Intervention zustande kam. Interpretation regten 25 % der Klient*innen an, Konfrontationen weitere 20 %  und Paraphrasierung 5 % durch. Dabei haben alle Therapeut*innen auch jedes Verhalten an den Tag gelegt.

Während des Weinens

Während des Weinens zeigen sich Therapeut*innen zurückhaltend (s.o.), thematisierend oder neutralisierend.
Im Ergebnis zeigte sich das 51 % am Beginn thematisiert haben, 39 % zurückhaltend waren und 10 % neutralisiert haben.

Für die Reaktionen im Verlauf des Weinens ergaben sich 53 % Thematisierung, 22 % Zurückhaltung und 25 % Neutralisierung.

Bezogen auf die Therapieschulen ergab sich, dass Verhaltenstherapeut*innen häufiger neutralisieren als psychodynamische Kolleg*innen, die die Thematisierung offenbar bevorzugen. Das betrifft sowohl die Initialreaktion als auch die Verlaufsreaktion.

Einfluss der Diagnose?

Ein überraschendes Ergebnis der Forschungen war, dass die Diagnose einen Einfluss auf die therapeutische Reaktion hat. Sowohl in der Initial- als auch in der Verlaufsreaktion wurde bei Angstpatient*innen wesentlich häufiger thematisiert als bei depressiven Patient*innen. Bei diesen ist die Neutralisierung offenbar die bevorzugte Variante.

Fazit

Als Fazit wählt Herr Benecke ein Zitat aus der „Wein-Forschung“.
Leider gibt es zu wenig empirische Erkenntnisse zum Thema.
Dann gibt es kaum Anleitungen, wie Therapeut*innen am besten auf das Weinen reagieren können.
Aber es ist ermutigend, dass dieses Thema mit wachsendem Interesse erforscht wird

und hier geht es zum Vortrag