Die Psychosomatik erkundet den Schwindel

Bericht vom Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ am 05.02.19:
Claas Lahmann: „Der große Schwindel – zur Psychosomatik des Gleichgewichts“

Herr Lahmann beginnt seinen Vortrag mit der Frage, wie viele Menschen überhaupt von Schwindel betroffen sind. Erstaunlicherweise ist diese Anzahl hoch. Im Durchschnitt sind 20-30 % der Bevölkerung sowohl während ihrer Lebenszeit als auch jährlich wegen Schwindel in Behandlung.

Somatische Ursachen

Beim sog. „Komplexen Schwindelsyndrom“ (Beschwerden länger als sechs Monate) ergeben 30-50 % der Diagnose eine organische Ursache. Herr Lahmann gibt uns ein paar sehr kurze Fallvignetten, in denen er das Spektrum von Beschwerden rund um den Schwindel erstmals anreißt: Ungerichteter Schwindel, Drehschwindel, Schwank Schwindel, Aufzugschwindel und Höhenschwindel. Insbesondere der Schwank Schwindel, der niemals zum Fallen führt, leitet Herr Lahmann zu den psychischen Ursachen.

Psychosomatik

Mit Zitaten von Sigmund Freud und Viktor von Weizsäcker werden wir auf die psychische, neurologische und semantische Nähe von „Schwindel“, „Schmerz“ und „Schwäche“ aufmerksam gemacht. Auch die Doppelbedeutung des Worts „Schwindel“ spielt dabei eine Rolle. Freud hatte zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass es sich beim Schwindel auch um eine Angsterkrankung handeln kann. Heutzutage ist bekannt, dass Angst sehr häufig mit Bindungsthemen zu tun hat. Von V. von Weizsäcker kommt die Betrachtung, dass das Taumeln einen Zustand zwischen Stehen und Fallen darstellt.

Kulturell

Kultur- und Geistesgeschichtlich hat der Schwindel eine Nähe zum Rausch. Heutzutage durch Bungee Jumping, Base Jumping und natürlich Alkohol vertreten. In Alfred Hitchcocks Filme „Vertigo“ (Schwindel) wurde zum ersten Mal der „Vertigo Zoom“ verwendet. Eine Kameratechnik, in der die Kamera vom fallenden Gegenstand weggezogen wird, mit eindrucksvollem Effekt. Schon lange lassen sich Menschen von Hochseilartisten faszinieren und auch Karussells gibt es schon eine Weile. Dem Alkohol kommt eine gewisse diagnostische Bedeutung zu. Wenn der Genuss einer geringen Menge Alkohol die Symptome bessert, dann ist eine somatische Ursache eher unwahrscheinlich.

Entstehung von Schwindel

Wir erfahren, dass am Erleben des Schwindels drei verschiedene Systeme beteiligt sind. Das Innenohr, die Augen und die Tiefenrezeptoren des Fußes. Aus diesen drei Quellen organisiert das Gehirn die Ruhelage des eigenen Körpers. Beim Ausfall eines Systems können die beiden anderen kompensieren, aber beim Ausfall von zwei Systemen geht das nicht mehr. Der häufigste somatische Grund ist dabei eine Innenohrproblematik.

Diagnostik

Diagnostisch relevant sind die Art, die Dauer, die Auslöser/Verstärker und die Begleitsymptome des Schwindels. Die Differenzialdiagnose zwischen psychischen und somatischen Ursachen bleibt spitzfindig. Die Vignette eines verheirateten 62-jährigen Piloten mit Liebschaften in aller Welt dient als Beispiel. Die psychischen Gründe liegen nah, die Einsicht dafür wächst in der Psychotherapie, allerding klingen die Beschwerden nicht ab. Bei einer erneuten Untersuchung zeigt sich ein Krebsleiden, das die Symptome verursacht hat.

Statistik

Die prozentuale Verteilung sieht im Moment so aus, dass 68 % somatisch verursacht sind, 18% primär somatoform (psychische Genese) und 16 % sekundär somatoform (die somatische Ursache ist behandelt, der Schwindel aber noch da). Es scheint bei den meisten Erkrankungen ein Mischung von somatischen und psychischen Anteilen zu geben. Eine weitere Tabelle untersucht Schwindel und psychische Komorbidität (Zusatzerkrankung). 80 % der Erkrankungen sind somatisch bedingt und trotzdem finden sich dabei 42,5 % psychische Komorbidität. Bei den 20% psychisch bedingter Schwindelerkrankungen findet sich immerhin bei einem Viertel der Erkrankten keine psychische Komorbidität. Die häufigsten psychischen Erkrankungen, die mit Schwindel einhergehen sind depressive Störungen, Angststörungen und somatoforme Störungen. Für einen Zusammenhang mit posttraumatischem Stress gibt es keine Korrelation.

Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Schwindelbeschwerden

Auf einem sehr komplexen Diagramm sehen wir die Visualisierung der ganzen Thematik. Faktoren, die Schwindelerkrankungen wahrscheinlicher machen sind: eine introspektive Haltung und vorbestehende Ängste. Fallen diese noch mit einer Angststörung, einer spezifischen Phobie oder einer Depression zusammen, braucht es nur noch einen Auslöser z.B. eine Störung des Innenohrs, eine Angstattacke oder eine andere Erkrankung. Spontan kompensiert der Erkrankte mit vermehrter Nutzung der Augen für das Gleichgewicht, dann entwickelt er defensive Gleichgewichtsstrategien (langsam gehen, sich anspannen) und dabei beobachtet sich vermehrt selbst und achtet vermehrt auf seine Bewegungen. Die Behandlung geht über den HNO Mediziner/Neurologen und die Psychotherapie. Allerdings kann es vorkommen, dass die Zusammenarbeit von Arzt und Patient nicht zustande kommt und ebenso, dass trotz erfolgreicher Behandlung Symptome bestehen bleiben.

Therapiebausteine bei somatoformen Schwindelsyndromen

Für besonders wichtige erachtet die Psychosomatik eine frühzeitige Diagnose. Psychoedukation, also Aufklärung des Patienten über die Zusammenhänge seiner Erkrankung, zählt heutzutage zum Standard. Das Gleichgewichtsorgan lässt sich durch „vestibuläres Training“ ein Stück weit fit machen. Psychotherapie hat sich in vielen Fällen sehr gut bewährt. Nur die Pharmakotherapie lässt noch vieles zu wünschen übrig.

Red Flags

Rote Flaggen symbolisieren Probleme für die Therapie. Am Beginn einer Konsultation stehen folgende Warnsignale: Viele Symptome, langer Verlauf; unspezifische Schwindelsymptome; rascher Wechsel verschiedener Schwindelformen; zahlreiche Voruntersuchungen ohne Befund; depressive, ängstliche Begleitsymptome; erstes Auftreten in einer belastenden Lebenssituation; vehemente Ablehnung eine bio-psycho-sozialen Perspektive; starke und störende Gegenübertragungsgefühle (der Patient „nervt“). Rote Flaggen können auch im Verlauf der Behandlung auftreten: Katastrophenängste; ängstliche Erwartungshaltung; zunehmende Depressivität; unsicher-fragile körperliches Selbstkonzept; phobisches Vermeidungsverhalten; gesteigertes vegetatives Erregungsniveau gestatten keine gute Prognose.

Fazit

Herr Lahmann beendet seinen Beitrag mit der Feststellung, dass nicht Schwindelfreiheit das Ziel der Therapie sei, sondern die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Dazu gibt er uns noch die Weisheit von Friedrich Nietzsche mit auf den Heimweg: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“

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