Die Psychosomatik erkundet Berührung

Bericht vom 07.11.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Dr. Rebecca Böhme, Neurowissenschaftlerin und Assistenzprofessorin, Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften, Linköping, Schweden: „Berührung und Selbst: Welche Rolle spielt leibliche Erfahrung für Resilienz, Verbundenheit und Wohlergehen?“

Ich genieße wieder einmal den Vorzug digitaler Infrastruktur und besuche den Vortrag im Live-Stream, statt im strömenden Regen zur Uni zu laufen.

Berührung und das Selbst

Der Titel des Vortrags thematisiert den Zusammenhang von Berührung und Selbst. Ebenso über die Forschungen darüber, ob leibliche Erfahrungen auf Widerstandskraft, Wohlgefühl und Verbundenheit wirken. Der Zusammenhang von Berührung und selbst wirft natürlich die Frage auf, was wir unter dem „selbst“ verstehen wollen. Frau Böhme zitiert dazu den Urvater der wissenschaftlichen Psychologie, William James. Dieser sieht das Selbst als eine Zusammensetzung von leiblichem Selbst, Reflexivem/sozialem Selbst und einem spirituellen Selbst. Diese drei Aspekte hat er zu einer Pyramide angeordnet um damit auch so etwas wie eine Entwicklung und Hierarchie anzudeuten. Es gibt noch zahlreiche andere Modelle zum Begriff des Selbst – ihre Nennung wäre bereits abendfüllend.

Frau Böhme möchte aber Herrn James dahingehend korrigieren, als sie das soziale Selbst als grundlegender ansieht als das leibliche. Ihr Argument dafür lautet, dass das Selbst nur durch die Unterscheidung von einem Anderen entstehen kann, dass also erst ein Anderer ein Selbst entstehen lässt. Diese Diskussion ist ebenfalls eine sehr breite und nicht nur philosophisch spannend.

Berührung in der frühesten Lebenszeit

Frau Böhme erinnert uns daran, dass der Berührungssinn, der Tastsinn tatsächlich als erstes ausreift und zwar schon vorgeburtlich. Aus der pränatalen Forschung ist das Phänomen bekannt, dass bereits ein Embryo tastend um sich greift. Es greift die Nabelschnur, die Wände der Gebärmutter und besonders gerne ein Geschwister, falls hier Zwillinge heranreifen.

Auch nachgeburtlich ist das Baby ganz wesentlich über den Tastsinn mit seiner physischen und der menschlichen Umgebung verbunden. Wie wichtig eine angemessene Versorgung mit Berührung für die weitere Entwicklung ist, zeigt eine Studie an Frühgeborenen. Ein Teil von diesen wurden gewissermaßen mit Berührung vollversorgt (Känguru-Care), eine Kontrollgruppe wurde standardmäßig versorgt. Bereits nach sechs Monaten wird offensichtlich, dass sich die vollversorgten Kinder messbar besser entwickeln. Das nahm bis zum zweiten Lebensjahr sogar noch zu und war sogar noch zehn Jahre später feststellbar.

Zum Aspekt der Abgrenzung, der eben in der Kindheit ganz wesentlich über den Tastsinn entwickelt wird, gesellt sich auch der Aspekt der Grenzauflösung im verschmelzenden Kontakt. Dies kann bei der Kinderversorgung eine Rolle spielen und natürlich in der Intimität.

Berührung im bildgebenden Verfahren

Wir erfahren nun, wie die Berührung neurowissenschaftlich erforscht wird. Zur Anwendung kommen natürlich die bildgebenden Verfahren und damit werden die Selbstberührung, die Berührung durch ein Objekt und die durch einen vertrauten Menschen miteinander verglichen. Das Ergebnis überrascht wenig, wer oder was berührt macht einen Unterschied, der auch neurologisch feststellbar ist.

Weiter hat sich gezeigt, dass es eine spezielle Sinnesfaser gibt, die bei langsamem Streicheln (3cm/sec) und einer Temperatur von 32°C maximal feuert und das fühlt sich für die Gestreichelten angenehm an. Die Temperatur ist ziemlich genau die von Fingerspitzen und in dieser Geschwindigkeit streicheln nahezu alle Menschen intuitiv ihre Lieben.

Berührung und reflexives Selbst

Hat nun die Berührungserfahrung, v.a. die Berührung durch andere einen Einfluss auf das kognitive Selbst? Hier gibt es Hinweise, dass Menschen, bei denen sich ein deutlicherer Unterschied zwischen Selbst- und Fremdberührung gezeigt hat, über ein tendenziell besser ausgeprägtes Selbstkonzept verfügen.

Einen kausalen Hinweis gibt es dazu auch. Dazu wurden Experimente mit Ketamin gemacht (eine Droge, die Dissoziationen/Grenzauflösung fördert). Dabei stellte sich heraus, dass das leibliche Selbst mit der Selbst-Anderer Unterscheidung auf kognitiver Ebene eng verwoben ist.

Die soziale Funktion der Berührung

Dass Berührung eine soziale Dimension hat, erkennen wir schon, wenn wir unsere Primatenverwandten beobachten. Diese verbringen einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich gegenseitig zu lausen. Die Gesetzmäßigkeit dazu lautet, dass je größer die Gruppe, desto mehr Zeit mit Lausen verbracht wird.

Es lässt sich auch beobachten, dass es so etwas wie bevorzugte Lausparnter gibt, die sich in stressigen Situationen dann auch besonders effektiv durch Lausen wieder entspannen können.

Auch beim Menschen lässt sich so ein Effekt nachweisen. Drei Gruppen von Proband*innen wurden einer stressigen Aufgabe ausgesetzt. Die erste Gruppe bestand aus Solisten, die zweite hatte aufmunternden Zuspruch von Freunden erhalten und die dritte wurde vor der Aufgabe herzlich umarmt. Das Ergebnis des Versuchs war, dass die letzte Gruppe der Umarmten am wenigsten Stress entwickelte und sich auch am schnellsten wieder erholte.

Einvernehmliche Berührungen unter Menschen, die sich mögen befördern nachweisliche das Wohlbefinden und die Widerstandskraft.

Kommunikation durch Berührung

Hier wurde ein Setting gewählt, in dem ein Mensch von einem anderen berührt wurde, ohne diesen Menschen zu sehen. Der berührende Mensch bekommt Anweisungen, welches Gefühl er durch die Berührung übermitteln soll. Der Berührte sollte dann sagen, was er empfing. Es wurden gute Ergebnisse für Aufmerksamkeit, Liebe, Glück und Beruhigung erzielt. Bei Traurigkeit und Dankbarkeit klappte es nicht ganz so gut.

Wenn nun aber noch Mimik und Gestik zur Berührung hinzukommen werden die Übertragungserfolge deutlich zahlreicher. Ein interessanter Effekt ist, dass sog. sekundäre Gefühle (soziale Gefühle) wie Scham, Stolz, Schuld, Verlegenheit eher über die Körperhaltung und Gestik übermittelt werden, wohingegen die sog.  primären Gefühle (kategoriale Gefühle) wie Ärger, Ekel, Furcht, Freude und Trauer über die Mimik ausgedrückt werden. Liebe und Sympathie jedoch werden vor allem durch Berührung mitgeteilt.

Corona und Berührung

Die Zeit der Seuche war eine Belastungsprobe für die Gesellschaften und die Menschen. Ein Grund dafür war sicher, dass Berührungsinterkationen stark zurückgegangen sind. Natürlich wurde auch dieser Bereich erforscht. Man könnte sagen, dass erwartungsgemäß eine hohe Korrelation besteht, wenn Menschen berichten, dass sie weniger berührt worden sind/berührt haben und sich häufiger traurig oder einsam gefühlt haben.

Bedenkt man, dass gerade Sympathie und Zuneigung durch Berührung übermittelt werden, scheint es höchste Zeit zu sein, die Umgangsformen wieder körperlicher zuzulassen.

Berührung in der Zukunft

Aus der Not hat sich eine Geschäftsidee entwickelt, das „Hugshirt“. Das ist ein High-Tech T-Shirt, das über verschiedene Komponenten verfügt, die eine Berührung/Umarmung simulieren können. Mithilfe einer App kann ich nun einem T-Shirt Träger irgendwo auf der Welt eine Umarmung schicken (hoffentlich mit Ankündigung).

Diese Idee leitet über zum Zusammenhang von leiblicher Erfahrung und kognitiver Verarbeitung (Top Down und Bottom Up). Im Erleben fließen beide Aspekte mit ein. Berührt werden und berühren ist auch immer ein berührt werden/berühren von und das auch noch in einem Kontext. Leibphänomenologisch ausgedrückt geht es also um die Stimmigkeit.

Schlussfolgerungen

Frau Böhme plädiert dafür, dass wir gesellschaftlich den leiblich sensorischen Weltbezug schon ganz früh fördern müssten. Dadurch werden wir uns besser spüren zu können. Denn, so Frau Böhme, Berührung ist das ganze Leben lang sehr wichtig, auch und gerade im höheren Alter.

Hier geht es zu dem sehr informativen Vortrag

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