Die Psychosomatik erkundet Trauma und Persönlichkeitsstörung

Das frühe Trauma und die erwachsene Persönlichkeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 30.04.19 Wolfgang Wöller:
„Persönlichkeitsstörungen und Trauma“

Missbrauch, Trauma und Persönlichkeitsstörung

Zur Einstimmung ins Thema präsentiert uns Herr Wöller eine Statistik aus dem Jahr 2010. Danach sind zwischen 12 und 14,9 % aller Mitmenschen davon betroffen, dass sie als Kinder körperliche, sexualisierte oder emotionale Misshandlungen erleiden mussten, knapp 3 % sogar schwerste Misshandlungen. Herr Wöller berichtet weiter, dass auch andere Untersuchungen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen seien. Er beklagt, dass dieses Phänomen ein epidemisches Ausmaß habe. Auch, dass es diese Gewalt schon immer und in jeder Gesellschaft gegeben habe, dass es aber eine Sensibilisierung der Gesellschaft brauche, um sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Die Wucht von solchen Erfahrungen hinterlässt häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung. Es gibt aber auch andere Traumafolgenstörungen, die weniger bekannt sind. Dazu zählen: Depressive Störungen, dissoziative Störungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen, Substanzabhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen, v.a. die Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS). Vor allem letztere ist eine häufige Folge von Gewalterfahrung in der Kindheit.
Eine Persönlichkeitsstörung lässt sich besonders deutlich in Störungen der interpersonellen Kommunikation aufweisen. Die hohe Anzahl von interpersonellen Konflikten und Verwicklungen, die deutliche Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Neigung zu dysfunktionalem oder (auto)destruktiven Verhaltens.
Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und BPS ist gut erforscht – 75 % der BPS Betroffenen hat solche Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht. Aber es können auch andere Formen von Persönlichkeitsstörung aus der Gewalterfahrung erwachsen – Dissoziale, Paranoide, Schizoide oder Ängstlich-Vermeidende. Weiter sind ca. 50 % der BPS Betroffene auch noch zusätzlich von PTBS und dissoziativen Störungen heimgesucht.

Symptome von BPS

Schaut man sich die Problembereiche der Betroffenen genauer an, findet man: Maladaptive Verhaltensmuster, die auch in der therapeutischen Situation zum Tragen kommen. Die Patient*innen verhalten sich feindselig, entwertend oder vorwurfsvoll, was die Gefahr eines Therapieabbruchs mit sich bringt. Sie können die Beziehung allerdings ebenso in abhängig-idealisierend gestalten, was eine ungute Abhängigkeitsentwicklung begünstigt. Mit einer Geschichte, die Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen beinhaltet, wird die Gefahr, auch als Erwachsener (re)traumatisiert zu werden größer. Und sogar Alltagsbelastungen können subjektiv traumawertig werden. Das können Erfahrungen von Alleingelassen werden, Bedrohungen der Identität oder Beschämung sein.

Modelle von Persönlichkeitsstörung

Herr Wöller erläutert nun, mit welchen Modellen sich Psychotherapie und Psychiatrie dem Phänomen Persönlichkeitsstörung annähern. Es gibt dazu verschiedene Möglichkeiten, so die „Psychodynamischen Modelle“, die Neurobiologischen Modelle, das Strukturmodell und die Bindungstheoretischen Modelle (natürlich auch verhaltenstherapeutische, aber Herr Wöller kommt aus der Psychoanalyse).
Auch die psychologische Forschung kann Beiträge zum Phänomen machen. So ist inzwischen gut bekannt, dass die soziale Wahrnehmung von Betroffenen verzerrt ist – sie haben es schwer, einen neutralen Gesichtsausdruck zu erkennen, nehmen ihn eher als bedrohlich wahr. Das kann dazu führen, dass sie undifferenzierte traumatische Affektzustände geraten – dass also Zustände von Leere, Verlassenheit, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Scham und Schuldgefühl in ihnen toben, ohne dass sie der Situation zuordenbar wären.
Die untauglichen Versuche, dieses Chaos irgendwie zu beherrschen gehen dann in Richtung eines Selbstschädigenden Verhaltens, in Suchtverhalten, Risikoverhalten oder auch in Fressatacken mit anschließendem Erbrechen.
Die traumabedingten Funktionsdefizite zeigen sich als Unfähigkeit, Gefahren vorherzusehen, nicht für sich sorgen zu können, sich nicht abgrenzen zu können, sich nicht schützen zu können, hilflos zu sein und handlungsunfähig. Das begünstigt natürlich die Wahrscheinlichkeit wieder zum Opfer zu werden.
Aber natürlich haben sich die Betroffenen auch dahingehend organisiert, dass sie zu ihrem Schutz versuchen, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erzwingen, dass sie versuchen, Beziehungspartner moralisch unter Druck zu setzten, dass sie erpressen, drohen, beschuldigen oder sich unangemessen verführerisch verhalten.

Neurobiologische Beiträge

Die neurobiologische Forschung hat inzwischen nachgewiesen, dass die neurologischen Folgen von PTBS und BPS nahezu identisch sind. Und auch die „erfahrungsabhängige Hirnentwicklung“ machen die Symptome plausibel. Gerade in der frühen Lebenszeit müssen bestimmte Bereiche lernen, gewisse Funktionen zu erfüllen. Z.B. muss der präfrontale Cortex lernen, Gefühle zu regulieren. Dazu braucht das Kind aber notwendig eine genügend gute Bindungsperson. Eine Bindungsperson, die einerseits Zuneigung zeigt und andererseits Gewalt ausübt, ist dazu denkbar ungeeignet.
Hoffnung macht hier alleine die Einsicht, dass neuronale Verbindungen ein Leben lang offen für Veränderungen sind. Dazu braucht es vielfach aktivierte neue Muster, die geübt und durchgearbeitet werden müssen.

Bindungsstörungen und BPS

Die Bindungsforschung hat herausgefunden, dass BPS hoch korreliert mit „unsicher-ambivalentem“ und „unsicher-desorganisierten“ Bindungsmuster ist. Auch andere Persönlichkeitsstörungen weisen auf die zentrale Rolle der Bindungsprägung hin.

Phasenorientiertes Therapiekonzept

Herr Wöller stellt uns das Modell vor, das an seiner Klinik für die Therapie verwendet wird. Es geht darum:

1. Sicherheit, Halt und die Stärkung der Bewältigungskompetenz
2. Emotionsregulierung und Selbstfürsorge
3. Mentalisierung und die Entwicklung stabiler Repräsentanzen
4. Schonende Traumabearbeitung
5. Konfliktzentriertes Arbeiten an maladaptiven Verhaltensweisen

In der therapeutischen Beziehung ist darauf zu achten, dass da, wo früher Bedrohung und Unsicherheit herrschten, heute Sicherheit erfahren werden kann. Wo früher der Kontrollverlust Alltag war, heute Kontrollmöglichkeiten erfahren werden. Wo Verwirrung und Intransparenz erlebt wurden, heute Aufklärung und Transparenz geboten wird und wo die Erfahrung des Verlassen-Werdens immer wieder gemacht wurde, die reale Präsenz eines Mitmenschen genutzt werden kann.
Sicherheit hat die Aspekte der äußeren Sicherheit –  z.B.  ob es noch Kontakte zu Täter*innen gibt. Es geht um die soziale Sicherheit und v.a. um das Gefühl von Sicherheit in der therapeutischen Situation.
Damit zusammen hängt auch das Bedürfnis nach Kontrolle. Das Kontrollbedürfnis des Patienten muss respektiert werden. Er/sie braucht Wahlmöglichkeiten und sein Einverständnis für Interventionen sollte immer wieder neu eingeholt werden.

Ressourcen

Wie wichtig gerade bei traumatisierten Patient*innen der Aufbau und die Pflege von Ressourcen sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Ressourcen versteht Herr Wöller so: „Letztlich alles, was von einer bestimmten Person (ohne selbstschädigend zu sein) in einer bestimmten Situation wertgeschätzt wird oder als hilfreich erlebt wird, kann als eine Ressource betrachtet werden.“ Die Patient*innen werden ermutigt, ihre inneren Zustände (States) aktiv zu verändern, z.B. durch positive Aktivitäten, Aktivierung positiver Erinnerungsbilder und imaginative Techniken.
Auch das Strukturmodell kann hier hilfreich sein. Es wird z.B. eingesetzt um die Affektwahrnehmung und –Differenzierung zu fördern. Alte Gefühle von aktuellen zu unterscheiden und die alten Anteile per Imagination wegzupacken. Weiter geht es darum die Selbstfürsorge zu stärken – die inneren Verbote zu überwinden. Gut bewährt hat sich in diesem Zusammenhang auch die sog. „Arbeit mit dem inneren Kind“. Dabei lernen die Patient*innen die symbolische Nachbeelterung auf einer „inneren Bühne“.

Verlauf der Therapie

Eine Therapie beginnt damit, dass klar umschriebene und gut erinnerbare Traumen oder belastende Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit durchgearbeitet werden. Dazu zählen auch persönlichkeitsspezifische Alltagsstressoren mit traumwertigen Belastungsgraden. Später können klar erinnerte Traumen der Kindheit bearbeitet werden. Und zuletzt die unscharf erinnerten Traumen. Häufig braucht es dann noch eine Zeit von „Konfliktorientierter Arbeit“. Die Arbeit an unbewussten Konflikten, deren Klarifizierung, Konfrontation, Deutung von unbewussten Inszenierungen zur Abwehr früher Ängste. Ebenso die Analyse früher Abwehrmechanismen, die thematische Fokussierung auf Identität und Intimität, ggf. durch die Nutzung des Übertragungsphänomens.
Persönlichkeitsstörungen können nicht ursächlich therapiert werden. Aber Psychotherapie ist in der Lage, die Lebensqualität der Betroffenen erheblich zu verbessern. Das lässt sich nicht nur in den Erfahrungen der Patient*innen finden, sondern sogar neurobiologisch nachweisen – Psychotherapie verändert das Gehirn in seiner biologischen Struktur.
Das übervolle Audi-Max applaudiert kräftig nach diesem gehaltvollen Vortrag.

Erfahrungen aus der therapeutisch begleiteten Kriegsenkelgruppe

Die Bilder der Vergangenheit aufdecken

Die erste therapeutisch begleitete Kriegsenkelgruppe ist nun beendet. Vier Teilnehmerinnen haben sich an zehn Abenden getroffen, um sich über ihre Geschichten auszutauschen.

Die Bedürfnisse der Teilnehmerinnen waren vor allem mehr Klarheit über die Umstände ihrer Kindheit und Verständnis für ihre Anpassungen an die Umstände dieser Zeit. Auch die Frage danach, was die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte mit der persönlichen Gegenwart zu tun haben kann, wurde gestellt.

An jedem Abend gabe es eine Leitfrage. Einige dieser Fragen waren durchaus aufwühlend und haben die Teilnehmerinnen noch zwischen den Treffen beschäftigt.

Es hat sich sehr schnell eine vertrauensvolle Atmosphäre gebildet, die es jeder Einzelnen erlaubt hat, offen über sich und ihr Erleben zu sprechen. Auch und gerade schwierige Themen konnten so überhaupt einmal zur Sprache gebracht werden. Dieses – überhaupt darüber sprechen zu können – wurde vielfach schon als heilsam empfunden.

Im Resümee des letzten Treffens berichteten alle darüber, dass sie erheblich mehr Klarheit gefunden haben, dass sich Bruchstücke von Erinnerungen zu Geschichten zusammengefügt haben, dass sie freundlicher mit sich umgehen und neue Perspektiven gewonnen haben.

Ich, als therapeutischer Begleiter, bin sehr berührt von den Geschichten der Teilnehmerinnen und ihrer Bereitschaft, sich auf diese teilweise sehr schwierigen Erinnerungen einzulassen. Die Kompetenzen, die die Teilnehmerinnen im Umgang miteinander an den Tag gelegt haben, haben mich tief beeindruckt und ebenfalls berührt.

Die Psychosomatik erkundet den Schwindel

Schwindel als therapeutische Herausforderung

Bericht vom Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ am 05.02.19:
Claas Lahmann: „Der große Schwindel – zur Psychosomatik des Gleichgewichts“

Herr Lahmann beginnt seinen Vortrag mit der Frage, wie viele Menschen überhaupt von Schwindel betroffen sind. Erstaunlicherweise ist diese Anzahl hoch. Im Durchschnitt sind 20-30 % der Bevölkerung sowohl während ihrer Lebenszeit als auch jährlich wegen Schwindel in Behandlung.

Somatische Ursachen

Beim sog. „Komplexen Schwindelsyndrom“ (Beschwerden länger als sechs Monate) ergeben 30-50 % der Diagnose eine organische Ursache. Herr Lahmann gibt uns ein paar sehr kurze Fallvignetten, in denen er das Spektrum von Beschwerden rund um den Schwindel erstmals anreißt: Ungerichteter Schwindel, Drehschwindel, Schwank Schwindel, Aufzugschwindel und Höhenschwindel. Insbesondere der Schwank Schwindel, der niemals zum Fallen führt, leitet Herr Lahmann zu den psychischen Ursachen.

Psychosomatik

Mit Zitaten von Sigmund Freud und Viktor von Weizsäcker werden wir auf die psychische, neurologische und semantische Nähe von „Schwindel“, „Schmerz“ und „Schwäche“ aufmerksam gemacht. Auch die Doppelbedeutung des Worts „Schwindel“ spielt dabei eine Rolle. Freud hatte zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass es sich beim Schwindel auch um eine Angsterkrankung handeln kann. Heutzutage ist bekannt, dass Angst sehr häufig mit Bindungsthemen zu tun hat. Von V. von Weizsäcker kommt die Betrachtung, dass das Taumeln einen Zustand zwischen Stehen und Fallen darstellt.

Kulturell

Kultur- und Geistesgeschichtlich hat der Schwindel eine Nähe zum Rausch. Heutzutage durch Bungee Jumping, Base Jumping und natürlich Alkohol vertreten. In Alfred Hitchcocks Filme „Vertigo“ (Schwindel) wurde zum ersten Mal der „Vertigo Zoom“ verwendet. Eine Kameratechnik, in der die Kamera vom fallenden Gegenstand weggezogen wird, mit eindrucksvollem Effekt. Schon lange lassen sich Menschen von Hochseilartisten faszinieren und auch Karussells gibt es schon eine Weile. Dem Alkohol kommt eine gewisse diagnostische Bedeutung zu. Wenn der Genuss einer geringen Menge Alkohol die Symptome bessert, dann ist eine somatische Ursache eher unwahrscheinlich.

Entstehung von Schwindel

Wir erfahren, dass am Erleben des Schwindels drei verschiedene Systeme beteiligt sind. Das Innenohr, die Augen und die Tiefenrezeptoren des Fußes. Aus diesen drei Quellen organisiert das Gehirn die Ruhelage des eigenen Körpers. Beim Ausfall eines Systems können die beiden anderen kompensieren, aber beim Ausfall von zwei Systemen geht das nicht mehr. Der häufigste somatische Grund ist dabei eine Innenohrproblematik.

Diagnostik

Diagnostisch relevant sind die Art, die Dauer, die Auslöser/Verstärker und die Begleitsymptome des Schwindels. Die Differenzialdiagnose zwischen psychischen und somatischen Ursachen bleibt spitzfindig. Die Vignette eines verheirateten 62-jährigen Piloten mit Liebschaften in aller Welt dient als Beispiel. Die psychischen Gründe liegen nah, die Einsicht dafür wächst in der Psychotherapie, allerding klingen die Beschwerden nicht ab. Bei einer erneuten Untersuchung zeigt sich ein Krebsleiden, das die Symptome verursacht hat.

Statistik

Die prozentuale Verteilung sieht im Moment so aus, dass 68 % somatisch verursacht sind, 18% primär somatoform (psychische Genese) und 16 % sekundär somatoform (die somatische Ursache ist behandelt, der Schwindel aber noch da). Es scheint bei den meisten Erkrankungen ein Mischung von somatischen und psychischen Anteilen zu geben. Eine weitere Tabelle untersucht Schwindel und psychische Komorbidität (Zusatzerkrankung). 80 % der Erkrankungen sind somatisch bedingt und trotzdem finden sich dabei 42,5 % psychische Komorbidität. Bei den 20% psychisch bedingter Schwindelerkrankungen findet sich immerhin bei einem Viertel der Erkrankten keine psychische Komorbidität. Die häufigsten psychischen Erkrankungen, die mit Schwindel einhergehen sind depressive Störungen, Angststörungen und somatoforme Störungen. Für einen Zusammenhang mit posttraumatischem Stress gibt es keine Korrelation.

Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Schwindelbeschwerden

Auf einem sehr komplexen Diagramm sehen wir die Visualisierung der ganzen Thematik. Faktoren, die Schwindelerkrankungen wahrscheinlicher machen sind: eine introspektive Haltung und vorbestehende Ängste. Fallen diese noch mit einer Angststörung, einer spezifischen Phobie oder einer Depression zusammen, braucht es nur noch einen Auslöser z.B. eine Störung des Innenohrs, eine Angstattacke oder eine andere Erkrankung. Spontan kompensiert der Erkrankte mit vermehrter Nutzung der Augen für das Gleichgewicht, dann entwickelt er defensive Gleichgewichtsstrategien (langsam gehen, sich anspannen) und dabei beobachtet sich vermehrt selbst und achtet vermehrt auf seine Bewegungen. Die Behandlung geht über den HNO Mediziner/Neurologen und die Psychotherapie. Allerdings kann es vorkommen, dass die Zusammenarbeit von Arzt und Patient nicht zustande kommt und ebenso, dass trotz erfolgreicher Behandlung Symptome bestehen bleiben.

Therapiebausteine bei somatoformen Schwindelsyndromen

Für besonders wichtige erachtet die Psychosomatik eine frühzeitige Diagnose. Psychoedukation, also Aufklärung des Patienten über die Zusammenhänge seiner Erkrankung, zählt heutzutage zum Standard. Das Gleichgewichtsorgan lässt sich durch „vestibuläres Training“ ein Stück weit fit machen. Psychotherapie hat sich in vielen Fällen sehr gut bewährt. Nur die Pharmakotherapie lässt noch vieles zu wünschen übrig.

Red Flags

Rote Flaggen symbolisieren Probleme für die Therapie. Am Beginn einer Konsultation stehen folgende Warnsignale: Viele Symptome, langer Verlauf; unspezifische Schwindelsymptome; rascher Wechsel verschiedener Schwindelformen; zahlreiche Voruntersuchungen ohne Befund; depressive, ängstliche Begleitsymptome; erstes Auftreten in einer belastenden Lebenssituation; vehemente Ablehnung eine bio-psycho-sozialen Perspektive; starke und störende Gegenübertragungsgefühle (der Patient „nervt“). Rote Flaggen können auch im Verlauf der Behandlung auftreten: Katastrophenängste; ängstliche Erwartungshaltung; zunehmende Depressivität; unsicher-fragile körperliches Selbstkonzept; phobisches Vermeidungsverhalten; gesteigertes vegetatives Erregungsniveau gestatten keine gute Prognose.

Fazit

Herr Lahmann beendet seinen Beitrag mit der Feststellung, dass nicht Schwindelfreiheit das Ziel der Therapie sei, sondern die gesundheitsbezogene Lebensqualität. Dazu gibt er uns noch die Weisheit von Friedrich Nietzsche mit auf den Heimweg: „Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“

Die Psychosomatik erkundet die aktuelle Sexualität

Sexualität und Mode

Bericht vom Psychosomatischen Dienstagskolloquium vom 29.01.19 Dr. phil. Sophinette Becker: „Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung – Was bleibt?

Zur Einführung ins Thema schildert uns Frau Becker zwei Begebenheiten. Ein Mädchen, vier Jahre alt, zieht das Oberteil ihres Badeanzugs immer wieder herunter. Daran erinnert, dass sie doch ein Mädchen sei, erwidert sie: „Ich habe mich doch noch gar nicht entschieden.“ Und bei einem Workshop werden Frauen und Männer befragt, was sie am anderen Geschlecht attraktiv finden. Die überraschende Antwort von beiden Geschlechtern: „Der Mann sollte ein klein wenig überlegen sein.“ Zwei Beispiele, die zeigen, dass Geschlechterbilder sich einerseits auflösen und andererseits noch recht traditionell sind.

Geschichte

Kulturhistorisch lassen sich die „alten“ Geschlechterklischees auf das 19te Jahrhundert zurückverfolgen. Dort hatte sich die Rollenteilung zwischen Mann und Frau zugespitzt. Männer (die mit Penis), und Frauen (die mit Brüsten und Vagina) wurden zu Idealtypen stilisiert und zwar die Männer als Soldaten, und die Frauen als Mütter. Die Androgynität, zuvor eine Möglichkeit, wurde nun medizinisch behandelt, sprich operiert.
Die sexuelle Orientierung, also nach welchem Geschlecht sich das Begehren sehnt, war nur unklar von der Geschlechtsidentität, also als welches Geschlecht ein Mensch sich empfindet, differenziert. Homosexualität und Transsexualität sind auch heute noch in traditionelleren Gesellschaften kaum unterschieden. Dort herrschen noch Vorstellungen, wie sie auch in Europa lange verbreitet waren. Sexualität dient der Fortpflanzung, ist weitgehend biologisch determiniert, gesund und normal ist Heterosexualität, Frauen sind Männern unterlegen und untergeordnet.
In Europa war es zunächst Sigmund Freud, der einige dieser Vorstellungen hinterfragte und z.B. feststellte, dass Sexualität von der Fortpflanzungsfunktion verschieden ist. Und erst mit der sog. „Sexuellen Revolution“ der 68er Bewegung wurden dann auch Geschlechtsidentitäten hinterfragt. Transsexualität oder Intersexualität wurde zum Thema.

Gegenwart

Heutzutage wird von „Sexualitäten“ und „Identitäten“ gesprochen. Der Plural zeigt an, dass das binäre System überwunden scheint. Auf manchen Internetplattformen kann man aus bis zu sechzig verschiedenen Geschlechtsidentitäten wählen. Das führt fast zwangsläufig zu Unklarheiten und zu vielen neuen, kleinen Identitäten. Frau Becker ist sich aber sicher, dass die Erscheinung als Mann/Frau nach wie vor relevant ist, wenn auch auf einer präreflexiven Ebene, also unbewusst.
Insgesamt aber lässt sich eine Durchmischung von Identitäten beobachten, z.B. eine Homosexualisierung der Heterosexualität oder eine Heterosexualisierung der Homosexualität und auch Bisexualisierung v.a. bei Männern. Nicht einmal mehr die Selbstbefriedigungsfantasien von Jugendlichen können heute noch klare Auskunft über die sexuelle Orientierung geben. Die Bisexualität scheint auf dem Vormarsch zu sein. Das ist allerdings nicht unbedingt schlecht. Hatten Männer früher vor allem Angst vor Autonomieverlust und Frauen Angst vor Bindungsverlust, haben sie heute mehr Möglichkeiten, Sexualität angstfreier zu erleben und ebenso ihre sexuelle Orientierung zu verändern.

Ausblick

Wo stehen wir heute, wohin geht der Trend? Frauen tragen heutzutage selbstverständlich auch Hosen und Anzüge, während man Männer in Röcken und Kleidern eher selten sieht. Es bleiben soziale Ungerechtigkeiten v.a. im Berufsleben. Männer suchen nach neuen Rollenbildern, denn das überkommene männliche Selbstverständnis wird fast nur noch in Pornofilmen verwirklicht. Für Frauen stellt sich die Herausforderung anders. Sie sollen weiblich, beruflich erfolgreich, schlank, effizient etc. sein. Solche Herausforderungen sind kaum ohne Essstörung zu meistern.
Weiter gibt es einen Trend zu Re-Biologisierung der Geschlechter. Die Unterschiede liegen dabei nicht mehr in den Geschlechtsorganen sondern z. B. in den Genen oder den Gehirnen (siehe Artikel von letzter Woche). Weiter ist heute klarer, dass „Geschlecht“ immer auch ein psychisches Konstrukt ist, das einerseits auf dem Geschlecht des Körpers beruht und andererseits von sozialen Einflüssen bestimmt wird. Geschlecht und Begehren entwickeln sich in gegenseitigem Einfluss. Frau Becker erinnert uns daran, dass die Verbindungen von Geschlechtsidentität und Sexueller Orientierung nach wie vor unklar sind.

Dimensionen von Geschlechtsidentität

Sie präsentiert uns eine Folie über die Dimensionen der Entwicklung der Geschlechtsidentität

  • Identifikationen mit Mutter und Vater sowie Ent-Identifikationen von beiden

  • Objektwahrnehmung, libidinöse und aggressive Strebungen, passive und aktive Bedürfnisse gegenüber Mutter und Vater und ihre Konnotationen als weiblich/männlich

  • Körperfantasien, inkl. Bisexueller Omnipotenz

  • Verbaler und nonverbaler Umgang der Eltern mit dem geschlechtlichen Körper des Kindes

  • Wahrnehmung und Interpretation des Geschlechtsunterschieds zwischen den Eltern und in der Beziehung der Eltern

  • Geschlechtsspezifisch aufgeladene unbewusste Botschaften und Zuschreibungen beider Eltern gegenüber dem Kind und seinen Eigenschaften, Bedürfnissen und Verhaltensweisen

  • Der transgenerationale Familienroman

Zum Ende hin betrachtet Frau Becker noch, wie die Psychoanalyse mit diesen Entwicklungen umgeht. Die PA muss ihrer Ansicht nach v.a. ihre Konzepte der Psychosexuellen Entwicklung hinterfragen und aktualisieren. Sie bleibt aber eine Anhängerin von komplizierten Fragen, deren Prämissen ebenfalls hinterfragt werden müssen. Bei allen nachvollziehbaren Wünschen nach mehr Klarheit, ist Verwirrung aber nicht nur schlecht. Im Gegenteil – sie führt zu neuen Fragen, die Antworten finden können, die weniger essentialistisch als früher sein können.

Die Psychosomatik enttarnt „Neuromythen“

Neuroforschung und Bildgebung

Bericht vom Dienstagskolloquium „Körper – Seele – Geist“ vom 22.01.19  von Felix Hasler: „Neuromythologie“

Willkommen im Neurozeitalter

Herr Hasler beginnt seinen Vortrag mit der Behauptung, dass wir uns nicht mehr nur im „Neurozeitalter“ befinden, sondern zu „Neuroessenzialisten“ geworden sind. Begriffe wie: „Cerebral subjects“, „Homo cerebralis“ oder „Neurochemical selves“ stehen dafür ein. Buchtitel mit dem „Brain“, bzw. „Gehirn“ im Titel überfluten den Buchmarkt und erläutern uns das „Weibliche Gehirn“, den „Gehirn Sex“, das „Gehirn basierte Lernen“ u.v.m.
Alle diese Veröffentlichungen spielen mit der Vorstellung, dass durch Abbildungen der Biomasse im Schädel, das Verhalten des Schädelbesitzers vorhergesagt werden könnte. Tatsächlich gibt es inzwischen Lehrstühle für „Neuro-Psychoanalyse“ und „Neuro-Forensik“. Hinter den Veröffentlichungen und Aktivitäten steht die Autorität strenger Wissenschaftlichkeit, das Versprechen durch Neurowissenschaft das Wesen des Menschen ergründen zu können.
Als Beispiel zitiert Herr Hasler aus einem Buch über Neuro-Didaktik. Die Passagen enthüllen nichts Neues über das Lehren und Lernen, als schon z.B. Johann Pestalozzi wusste. Aber das schadet dem Neuroenthusiasmus nicht weiter. Die Vorsilbe „Neuro-“ lässt sich vor jegliche Wissenschaftsdisziplin stellen und suggeriert dann Wissenschaft auf dem neuesten Stand der Technik.

Das neue Zeitalter ist schön bunt

Die Vorzeigetechnik der Neurowissenschaft sind die bildgebenden Verfahren (fMRE, PET, MRT). Sie garantieren die wunderbar bunten Bilder, die suggerieren, dass der Betrachter dem Gehirn beim Denke zusehen kann. Das ist allerdings eine Illusion. Die Bilder entstehen durch statistische Rechenverfahren, die bestimmten Veränderungen, z.B. der Durchblutung, einen Zahlen-, bzw. Farbwert zuordnen. Der Wissenschaftler muss sich an zahlreichen Stellen dafür entscheiden, welchen Rechenweg er einschlägt, aber jeder Rechenweg führt zu einem anderen Bild. Daher rührt auch der Effekt, dass sich kaum eine bildgebende Studie replizieren lassen kann. Dies gilt insbesondere wenn höhere kognitive Funktionen wie moralische Entscheidungen oder Kunstgenuss erforscht werden sollen.
Als Beispiel präsentiert uns Herr Hasler eine Studie zur „romantischen Liebe“. Aus der Versuchsanordnung mit Bildern des geliebten Menschen und dazwischen gestreute neutrale Bildern entstehen dann Abbildungen, die insbesondere den ACC (Anteriorer Cingulärer Cortex) hell erleuchtet darstellen. Allerdings leuchtet der auch bei amerikanischen Wählern von Hillary Clinton, beim Genuss eines Schoko-Milchshakes oder wenn Vegetarier Bilder von Tierquälerei sehen usw. usf.

Geschichte und öffentliche Darstellung

Nun geht Herr Hasler ein wenig auf die Geschichte und die öffentliche Wahrnehmung des „Neuro-Imaging“ ein. Um die Jahrtausendwende waren zahlreiche Forscher geradezu euphorisch, was die Möglichkeiten der neuen Verfahren anging. Zahlreiche Zeitschriften präsentierten Bilder aus verschiedenen Studien, die angeblich belegen sollten, wie die Gehirne bei Schizophrenie oder Depression im PET aussehen.
Führende Wissenschaftler schwärmten kurz nach der Jahrhundertwende von den neuen Möglichkeiten. Aber nach nur zehn Jahren war die Euphorie verflogen. Weder wurde ein neues Verständnis von Krankheitsentstehung und –Verlauf gewonnen, noch wurden neue Medikamente entdeckt.
Dennoch hatte dieser Hype Auswirkungen auf die Psychiatrie selbst. Seither dominiert ein blinder Materialismus, für den eine Depression nur noch eine Transmitterstörung darstellt. Alle diagnostischen und therapeutischen Zugänge sollen über neuronale, bzw. genetische Faktoren validiert werden. Ungeheure Geldmittel wurden (und werden) für dieses Ziel aufgewendet. Der wahre Preis dafür ist aber die Vernachlässigung von Beziehungen (siehe Beitrag von letzter Woche).
In einer Zeitschrift mit dem Namen „Molecular Psychiatry“ finden sich dann solche wunderbaren Befunde wie: „mTORC1-abhängige Translation von Collapsin antwortet auf das Mediator Protein-2, das unterstützt neuronale Adaptionen, die exzessiven Alkoholkonsum unterstützen.“ „Molecular Psychiatry“ war jahrelang die meistgelesene Fachzeitschrift (!).

Die Rolle der Pharmahersteller

Nun kommt Herr Hasler noch auf die Rolle der Pharmaindustrie zu sprechen. Bemerkenswerterweise übertrifft in den USA die Zahl der Psychopharmaka Nutzer inzwischen die der Raucher. Die Pharmaindustrie hat ein Interesse an bildgebenden Verfahren, da sie eben suggerieren, dass da ein „Defekt“ vorhanden sei, der mit Pharmazeutika beseitigt werden können. Eine Art Analogie z.B. zu Diabetes.
Gleichzeitig stellt die Pharmaindustrie die Produktion zahlreicher Medikamente ein und ebenso die Forschung für neue Produkte. Tatsächlich sind alle (!) geläufigen Psychopharmaka Zufallsfunde. Ihre Wirkung ist alles andere als krankheitsspezifisch. Die heute vermittelte Spezifität wurde allein dadurch erreicht, dass Krankheiten neue Benennungen erhalten haben. „Wenn man kein Medikament für eine Krankheit findet, kann man ja eine Krankheit für ein Medikament erfinden.“

Weitere Probleme des Neuroimaging

Herr Hasler nähert sich dem Ende seines Vortrags und präsentiert eine Meta-Analyse von Meta-Analysen zu Unipolarer Depression. Diese kommt zum Befund, dass keinerlei (!) replizierbare Effekte in den Studien zu finden sind. Zwischen somatischer Erkrankung und psychiatrischen Diagnosen scheint ein qualitativer Abgrund zu liegen. Die Psychiatrie steht so vor der Frage, ob sie ihre (willkürlichen) Diagnosen aufgeben will oder das Gehirn. Offenbar hat sie sich zum Ersteren entschlossen und beginnt gigantische Listen/Tabellen zu erstellen, in denen alle möglichen Transmitter, synaptische Aktivitäten, Hormone etc. aufgezählt sind.

Was ist normal?

Einige weitere Probleme der Psychodiagnostik liegen in den Schlussfolgerungen, die aus der Tierforschung auf den Menschen übertragen werden. Ebenso die biologische Variabilität von Lebewesen, denn in jeder untersuchten Gruppe finden sich Abweichungen von einer Norm. Wie üblich gibt es nur „Glockenkurven“, bei denen bestimmte Bereiche als pathologisch definiert werden. Wie weit das gehen kann demonstriert uns Herr Hasler mit Röntgenaufnahmen eines Kindes, dem eine Hirnhälfte entfernt werden musste, das aber keinerlei Auffälligkeiten zeigt (Neuroplastizität). Eine weitere Aufnahme ist ein Zufallsbefund. Sie zeigt den Schädel eines Angestellten, dessen Schädel tatsächlich so gut wie leer ist. Auch er zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Noch ein weiteres Problem besteht darin, dass mit jeder neuen Entdeckung/Darstellung die Komplexität des Geschehens noch größer wird.
Aber unverdrossen verfolgen führende Psychiater weiterhin den Weg der materialistischen Diagnose und Therapie. Weiterhin werden Unsummen für solche Projekte mobilisiert (z.B. das Human Brain Project).

Ausblick

Herr Hasler stellt fest: Ein Gehirn kann nicht depressiv sein, es sind Menschen die an einer Depression leiden. Die akademische Psychiatrie hat ein Eigenleben entwickelt, das sie von den Patienten mehr und mehr entfernt. Er fordert ein Zurück zu den sozialen Modellen von Pathogenese und Therapie.
Die Zukunft der Psychiatrie sieht er als digital und nicht neurologisch – es geht um Telepsychiatrie, Apps, Videokonferenzen. Die Patient-Therapeut-Beziehung muss sich wieder ändern. Es braucht mobile Kriseninterventionsteams, statt stationären Behandlungen, Dialog-basierte Programme und einen neuen Pragmatismus: Was hilft wirklich in der Praxis?