Die Psychosomatik erkundet Hypnosystemische Therapie

Hypnose und systemische Sichtweise

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Gunther Schmidt, Dr. med., Dipl. rer. pol., Ärztl. Direktor der SysTelios Privatklinik, Leiter des Milton Erickson Instituts Heidelberg: „Hypnosystemische Psychosomatik wie der Organismus und Symptome für die Gesundung genutzt werden können“

Einführung

Herr Schmidt beginnt seinen Vortrag damit, dass er uns eröffnet, mehr praxisorieniert zu berichten denn: „Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist in der Praxis größer als in der Theorie“. Aber so ganz ohne theoretischen Input kann und will er uns auch nicht entkommen lassen. Also beginnt er damit, die Psychosomatik kurz darzustellen. Zu dieser zählen Somatoforme Störungen, körperliche Erkrankungen unter Einbeziehung ihrer biopsychosozialen Faktoren, Konversionsstörungen, seelische Störungen, die mit körperlichen Missempfindungen einhergehen, Essstörungen und ein destruktiver Umgang mit der eigenen Gesundheit.

Psychosomatisches Problem-Erleben

Nun kommt er zur Dynamik der Organisation eines „psychosomatischen“ Problem-Erlebens. Üblicherweise kommen Betroffene wegen ihrer Beschwerden mit dem Wunsch zum Arzt, dieses unwillkürliche Leiden wegzumachen. Ihr eigener Umgang damit besteht in einem Kampf gegen das Leiden, was meistens dazu führt, dass das Leiden sich verschlechtert, aber zumindest bestehen bleibt.

Neurologische Hintergründe

Das liegt daran, dass unser neurologisches System entwicklungsgeschichtlich aus drei Gehirnen besteht – die Großhirnrinde, das limbische System und das Stammhirn. Letzteres wird gerne als Reptilienhirn bezeichnet, das mittlere als Säugetierhirn und nur die Großhirnrinde ist dem Bewusstsein zugänglich. Der Lösungsweg, den die Hypnosystemische Therapie einschlägt, ist, differenziertes, systematisches Wissen darüber zu gewinnen, wie man auch bewusst willentlich Unwillkürliches in eine gewünschte Richtung beeinflussen kann. Die unwillkürlichen Hirnregionen reagieren dabei immer schneller als die bewusste und willkürliche Großhirnrinde.

Hypnosystemik – ein Meta-Konzept

Nun erfahren wir etwas über die Wurzeln der Hypnosystemik. Die eine Wurzel gründet in der systemischen Familientherapie, die andere auf dem Acker der Hypnotherapie nach Milton Erickson. Das Weltbild dahinter ist der (radikale) Konstruktivismus, der von Protagonisten wie Paus Watzlawick, Humberto Maturana und Niklas Luhmann vertreten wird. Diese systemische Perspektive betrachtet Beziehungen, bzw. Interaktionen und Muster und deren Wechselwirkungen in einem Kontext. Die Familientherapie hatte sich auf die Kontexte spezialisiert, und Milton Erickson auf die inneren, psychischen Prozesse. Beide zusammen helfen, die Entstehung und Aufrechterhaltung von Problemen, sowie der gezielten, wirksamen Veränderung von Problem-Mustern anzugehen.

Hypnose

Wir erfahren, dass die Bilder, die häufig zum Thema Hypnose auftauchen – Bühnen Hypnose, Trance Induktion etc. nichts mit der klinischen Hypnose zu tun haben. Darin wird unter Hypnose das systemische Arbeiten mit unwillkürlichen Prozessen mit Hilfe der Aufmerksamkeitsfokussierung verstanden. Es geht darum unwillkürliche (intuitive) Prozesse mit willkürlich-bewussten, kognitiven Prozessen abzustimmen.
Dies drückt sich auch in den typischen Interventionen aus, in denen es beispielsweise heißt: „Es geschieht ganz unwillkürlich, wie von allein …“ In dieser Arbeit kann so etwas wie Trance Phänomen entstehen. Ganz ähnlich, wie auch die Leidenssituation als eine Art Problem-Trance verstanden wird.

Basis-Prämissen hypnosystemischer Konzepte

So eingeführt, fasst nun Herr Schmidt zusammen, wie die hypnosystemische Sicht auf das Symptom/Problem Erleben aussieht. Jedes Erleben ist demnach ein Teil und Ausdruck von Interaktionen (Mustern, Netzwerken). Es gibt darin immer mehrere Beteiligte, die miteinander zirkulär interagieren und nicht kausal. Es kommt also zu Wechselwirkungen, wie sie für die Kommunikation typisch sind und sie finden immer in einem Kontext statt. Erleben wird konstruktivistisch so verstanden, dass es immer von innen heraus erzeugt wird. Die Beteiligten haben dabei Erwartungen von Erwartungen an andere Beteiligte, und zuguterletzt findet das alles in multiplen Kontexten und Interaktions-Netzwerken mit (quasi) multiplen Ichs statt. Das implizite Ziel aller hypnotischen Interventionen zielt auf die Erhöhung der Selbstwirksamkeit des Patienten ab.

Wechselwirkungen zwischen Systemen

Auf der Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells bringt uns Herr Schmidt noch einmal die drei Systeme nahe, die miteinander interagieren. Da ist das körperlich-biologische System, das psychische System und das soziale System. Aus systemischer Sichtweise sind die jeweils anderen Systeme Umwelten. Jedes System ist ausschließlich damit befasst sich selbst zu reproduzieren (Autopoiese) und die Komplexität der Umwelten zu reduzieren. Das psychische System repräsentiert dabei Aspekt des biologischen und des sozialen Systems, allerdings niemals vollständig.

Es gibt kein Problem

Zu diesem Unterpunkt erfahren wir zunächst, dass es kein Problem an sich gibt. Was Problem genannt wird, ist vielmehr die im Moment gestalteten Wahrnehmungsprozesse und Konstruktionen der „Realität“, des Beobachters. Probleme und Lösungen sind also Ausdruck selbst gemachter Musterbildungen, die in selbstrückbezüglichen Wechselwirkungen aufeinander einwirken. So werden die jeweiligen Muster immer wieder stabilisiert und womöglich sogar aufgeschaukelt. Dazu passt auch das Credo des Konstruktivismus, dass wir zwar unser Leben nicht selbst erzeugen, aber unser Erleben.

Neuropsychologie

Die Hypnosystemik bedient sich auch neuerer Konzepte der Neurobiologie und Neuropsychologie. Daraus entsteht dann das Modell, dass jede emotional geladene Episode viele Elemente möglichen Erlebens in hochkomplexer Weise zusammenfügt/vernetzt. Dies geschieht in den älteren Teilen des Gehirns, die nicht sprachlich sind, finden aber einen Zugang zum episodischen, autobiografischen Gedächtnis. Das bewusste Erleben wird als Ausdruck und Ergebnis dieser neuro-physiologischen Netzwerke betrachtet und, das Erleben wirkt auf diese Netzwerke zurück. Sind Netzwerke erst einmal gebildet wandern sie in ein „Erlebnis-Archiv“ und werden dann schnell wieder aktiviert, wenn ähnliche Situationen auftreten. Um solche Netzwerke zu verändern müssen deshalb Unterschiede eingeführt werden. Es genügt einige wenige Unterschiede um das ganze Netzwerk zu modifizieren.

Dimensionen von Hypnosystemik

Das bekommen wir noch einmal mit einer Folie nähergebracht. Darauf ist zu sehen: Das Erleben an sich und der Vergleich von Ist- und Sollwert, die bei den Lösungsversuchen erreicht werden. Zwischen Ist- und Sollwert beobachtet das Ich zahlreiche Aspekte: Die Art der Beschreibung, die Benennung, Bewertung, Erklärungen, Schlussfolgerungen, Selbst-Beziehung, Vergleich mit anderen, Wahrnehmung/Bewertung von eigenen Empfindungen, Erwartungen an sich und andere, Emotionen, Submodalitäten, Physiologie, Körperkoordination u.v.m. Je nach Auswahl findet das Ich eher lösungsförderliche oder problemstabilisierende Lösungsversuche. Wenn Ist- und Sollwert weit auseinanderklaffen, besteht in dieser Kluft das Problem.
Die Fülle von Aspekten, die physikalisch, innerleiblich, interaktionell und meta-kognitiv berücksichtigt werden können, ist eindrücklich und sie sind eine Schatztruhe für Interventionen. Denn es genügt ja, nur einige Aspekte des Musters zu verändern, so dass jeder zugängliche Aspekt nutzbar gemacht werden kann. Wenn das gelingt werden die kognitiv bewussten, die emotionalen und körperlich-physiologischen Aspekte optimal miteinander kooperieren. Dazu müssen sie nur mit den sprachlichen, imaginativen Prozessen, sowie mit sinnlichen Erfahrungen bekömmlich verknüpft werden.

Startbedingungen für „psychosomatische Therapie“

Herr Schmidt problematisiert die landläufige diagnostische Praxis. Die Patienten fühlen sich durch den Begriff der „psychosomatischen Krankheit“ fremd-definiert – mit dem Aspekt der Psyche können sie häufig nichts anfangen, fühlen sich eher davon diskriminiert. Sie selbst haben eher somatisch orientierte Theorie. Durch diese als Herabsetzung empfundene Ausgangslage geraten die Patient*innen in Not. Sie empfinden Stress und geraten situativ in eine „Double-Bind-Situation“. Wenn sie zustimmen, unterwerfen sie sich; wenn sie sich nicht unterwerfen, befürchten sie, als uneinsichtig betrachtet zu werden. Deshalb wählt Herr Schmidt lieber die Bezeichnung „somato-psychisch“ oder „somato-psycho-systemisch“.

Phasen einer hypnosystemischen, psychosomatischen Therapie

Eine Therapie beginnt mit der Klärung des Kontexts, der zur Beratung, bzw. in die Therapie geführt hat. Als nächstes werden Verhandlungen darüber geführt, wie das „lösungsförderlichen Kooperationssystem“ aussehen soll. Dabei wird das „Opfer-Ich“ empathisch aufgenommen. Nun geht es darum eine Zielvision zu entwickeln. Dabei geht es um selbstwirksam erreichbare Ziele, und das können auch mal die zweitbesten sein. Im nächsten Schritt werden dann Wege zu „Mustern des Gelingens“ erprobt. Nun kommt noch der Vergleich zwischen Problem- und Lösungsmustern, in denen gleichzeitig Meta-Positionen (Bewusstheit) errungen werden können (Aha – jetzt bin ich wieder im Problem Muster). Dazu ist es auch hilfreich die „Sprache“ des Körpers verstehen zu lernen.
Konkret sieht das so aus, dass Problem- und Lösungsmuster auf ihre Merkmale (Musterelemente) hin verglichen werden. Z.B. Wie ist das Verhalten, die Atmung, die Körperkoordination, der Umgang mit sich selbst, der Kontext … im Problem- und wie im Lösungsmuster. Die Patienten lernen zwischen den verschiedenen Aktualisierungen hin und her zu pendeln, und werden so selbstwirksam im Umgang mit ihrem Erleben. Besondere Würdigung erfahren dabei die körperlichen Interventionen, weil sie willensnah sind und schnell eine Wirkung entfalten können.

Dienstleistung

Wir erfahren noch, dass es in der Hypnosystemik keine Psychoedukation gibt. Denn dies, so Herr Schmidt, würde die Kooperationsbasis der Beteiligten untergraben. Ein Lehrender und ein Lernender sind hierarchisch bezogen. Deshalb nennt diese Form der Therapie ihre Mitteilungen „Produktinformationen“. Vor diesem Hintergrund erklärt uns der Vortragende, dass er sich als Kellner sieht, der den Patienten vieles anbieten kann, dass aber das Recht der Auswahl beim Patienten bleibt.

Den Vortrag kann man sich auch hier ansehen.

Die Psychosomatik erkundet Empathie und Achtsamkeit

Empathie und Achtsamkeit

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg, Vortrag von: Philipp Kanske, Prof. Dr. rer. nat., Klinische Psychologie und Behaviorale Neurowissenschaft, TU Dresden

Einführung

Empathie und Achtsamkeit sind die Themen der Stunde in der Psychotherapie und der Neuro-Psychotherapie. Der Untertitel des Vortrags lautet: „Psychopathologie und Training des sozialen Gehirns“. Er stimmt uns auf den Schwerpunkt der Forschung von Herrn Kanske ein.
Warum beschäftigt sich die Forschung mit diesen Themen? Weil die kognitiven Prozesse in sozialen Interaktionen höchst komplex sind. „Wie können wir einander überhaupt verstehen?“ Wäre eine weitere Frage, und eine Teilantwort darauf lautet: „Theory of Mind (ToM)“. Dieser Begriff umschreibt die Fähigkeit, dass Menschen, etwa ab dem vierten Lebensjahr, imstande sind, sich vorzustellen, dass andere Menschen einen eigenen Gesichtspunkt, eigene Gedanken, Absichten und Wünsche haben, wie man selbst. Diese Fähigkeit wird gerne auch als „soziales Gehirn“ bezeichnet.

Soziale Integration

Soziale Integration ist eine zentrale Quelle von Resilienz, denn ohne sie drohen Einsamkeit, der Verlust sozialer Unterstützung und das Risiko zu sterben erhöht sich messbar. So ist der Verlust von sozialer Teilhabe für das Leben riskanter, als z. B. zu rauchen. Und, vielleicht überraschend, es sind die kleinen Begegnungen des Alltags, wie der Nachbar mit dem Hund, die Briefträgerin, die Verkäufer*innen, die einen grüßen und denen man zulächelt, die einen noch stärken positiven Einfluss haben, als die familiären Kontakte.
Das Institut von Herrn Kanske hat dazu in der aktuellen Corona Situation geforscht. Menschen mit psychischen Vorerkrankungen waren deutlich mehr von den Folgen des Lockdowns betroffen, als Menschen ohne Vorerkrankung. Der Stress, der von sozialer Isolation induziert wird, wirkt sich dabei auch subjektiv aus. Die empfundene soziale Isolation, die nicht mit der tatsächlichen Anzahl der Kontakte übereinstimmen muss, wirkt pathogen. Sie kann sogar dazu führen, dass Menschen sich empathisch unverbunden erleben.

Empathie

Was wir unter „Empathie“ verstehen, hat eine große Bandbreite. Es geht um solche Aspekte wie: Einfühlungsvermögen, soziale Motivation, Perspektivwechsel (ToM), Sozialverhalten, Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Personenerkennung, Bindung, Gesichtswahrnehmung. Herr Kanske hat daraus das Einfühlungsvermögen, das Mitgefühl und den Perspektivwechsel ausgewählt, um sie näher zu erforschen.
Was er herausbekommen möchte, ist, wie sich soziale Kognition und Emotion, bestehend aus Empathie und Mitgefühl (positive Gefühle) sowie der ToM im weiteren auf das Sozialverhalten auswirken.

Neuronale Befunde

Für solche Forschungen wird heute gerne ein „Scanner“ in Anspruch genommen, denn nur so können Hinweise darauf gefunden werden, welche neuronalen Strukturen die Grundlagen für Mitgefühl darstellen. Die Proband*innen liegen also in der Röhre und sehen einen kleinen Film. Darin berichtet ein Mensch von einem Vorfall – einmal eher neutral und das andere Mal eher emotional. Danach werden die Proband*innen befragt. Zunächst zu ihrer Stimmung, danach, ob sie Mitgefühl empfinden und dann noch, ob sie die Perspektive der Erzähler*in nachvollziehen können.
Da solche Forschungen schon seit längerer Zeit betrieben werden, war das Ergebnis nicht sonderlich überraschend. Die Gehirnstruktur, die bei Stimmungen eine zentrale Rolle spielt, ist die „Insula“. Interessanterweise korreliert die Aktivität der Insel allerdings nicht unbedingt mit der subjektiven Wahrnehmung. Sie kann hohe Aktivität aufweisen, ohne dass der Betreffende eine große Stimmungsänderung wahrnehmen kann.
Das positive Mitgefühl (compassion) braucht das „Striatum“ für sein Erscheinen. Es hat bekanntermaßen mit Fürsorgeverhalten zu tun, ebenso mit Belohnung und lernen. Das positive Mitgefühl unterscheidet sich also auch auf neuronaler Ebene von der Gestimmtheit.
Bei der Untersuchung zu Fragen der ToM stellte sich heraus, dass hier insbesondere der tempoparietale Übergang eine wichtige Rolle spielt. Diese Region scheint eine Art „Generalfaktor der sozialen Intelligenz“ zu sein.

Zusammenhänge

Haben nun Stimmung, Mitgefühl und ToM etwas miteinander zu tun? Bedeutet gutes Einfühlungsvermögen auch gutes Eindenkvermögen? Nein! Es zeigen sich keine Korrelationen zwischen diesen beiden Vermögen. Aber um das noch genauer zu überprüfen, hat das Institut von Herrn Kanske eine große Metaanalyse zur sozialen Neuroforschung durchgeführt.
Das Ergebnis zeigt, dass es eine ganze Reihe von Testaufgaben für die Erforschung der Empathie, als auch der Erforschung der ToM gibt. Es gibt aber auch noch einen Zwischenbereich, der sich nicht so eindeutig zuordnen lässt. In diesem Bereich zeigen sich Verbindungen von Gehirnstrukturen, die sonst eher selten miteinander interagieren. Hier findet sich auch am ehesten eine negative Korrelation zwischen Mitgefühl und ToM, wenn ich nämlich mit dem einen beschäftigt bin, rückt das andere eher in den Hintergrund. Gerade komplexe Aufgabenstellung werden auch komplex verarbeitet. Hier steht die Forschung noch ziemlich am Anfang.
Die Hoffnung besteht, dass auf diese Art auch psychische Störungen besser verstanden werden können, denn bei vielen psychischen Störungen sind es genau die Fähigkeiten der ToM und der Empatie, die beeinträchtigt sind.

Soziales Verhalten

Um einen Einblick in den Zusammenhang von Empathie und Sozialverhalten zu bekommen, wurde dem experimentellen Setting eine weitere Frage hinzugefügt, nämlich: Ob die Proband*in bereit wäre, der Person in dem Film zu helfen. Und ja, der Wille zu helfen war zunächst eindeutig stärker, wenn die Geschichte emotional erzählt wurde. Die ToM hatte allerdings kaum einen Einfluss auf die Hilfsbereitschaft.
Ein weiterer Test war ein „Spendenspiel“. Es ging darum von geschenkten fünfzig Euro etwas an eine gemeinnützige Organisation zu spenden. Viele Spenden wurden gesammelt und die Befragung danach versuchte herauszufinden, ob empathische Gründe oder Perspektivgründe für das Spenden eine Rolle gespielt haben. Diese Experimente wurden dann auch für Vorhersagen geprüft, und tatsächlich kann man mit einem vorhergehenden Scan der Affektivität zu gut 60 % vorhersagen, ob der Proband spenden wird.
Nun kommt noch ein kleiner Exkurs. Im Rahmen der obengenannten Experimente wurde eine kleine Variation vorgenommen. Die Proband*innen bekamen neutrale oder emotionale Musik eingespielt. Im Ergebnis stellt sich heraus, dass emotionale Musik das Mitgefühl verstärkt, was aber nicht der Fall war, wenn die Geschichte neutral erzählt wurde. Auf die ToM hatte die Musik keinen Einfluss.

Achtsamkeit & Co

Herr Kanske hat auch im Team von Tanja Singer mitgearbeitet, die die Effekte von Achtsamkeit erforscht hat und weiter erforscht. Worum geht es? Es gibt drei Arten von Trainingsmodulen, das sind: Präsenz, Affektivität und Perspektive. Präsenz umfasst die Aufmerksamkeit, innere Achtsamkeit, auf den Atem und den Körper zu spüren. Affekt umfasst Mitgefühl, prosoziale Motivation, Akzeptanz von Gefühlen. Das wurde mit Freundlichkeits- und Mitgefühlsmeditationen geübt und in einer Partnerübung als Erzählung über alltägliche Schwierigkeiten und Dankbarkeit. Das Perspektivmodul umfasst die Metakognition (denken über Gedanken), eigene und andere Perspektiven zu erfassen. Als Übung dafür ist die Meditation der Beobachtung der eigenen Gedanken geeignet und das Modell der „Inneren Familie“. Darin kommen verschiedene „Familienmitglieder“ zu Wort, wenn es um irgendein Thema geht. Ein Proband erzählt einem anderen eine Wortmeldung und dieser darf erraten, um welches Familienmitglied es sich handelt.

Training

Insgesamt dauert so ein Training länger als ein Jahr. Nach einem Retreat zur Einstimmung werden die Gruppen geteilt. Beide Gruppen beginnen mit Präsenzübungen, aber dann macht eine Gruppe mit Affektivität weiter und die andere mit Perspektive, die andere Gruppe in umgekehrter Reihenfolge. Dazu gab es noch eine Kontrollgruppe, die gar nichts trainiert hat.
Bei der Nachuntersuchung wurde umfangreich ermittelt, welche Veränderungen sich ergeben haben. Als Ergebnis zeigte sich, dass Mitgefühl vor allem nach dem Affektmodul angestiegen ist, und dass sich die Fähigkeit der ToM vor allem nach dem Perspektivmodul gesteigert hat. Aber es gab nicht nur diese relativ weichen Ergebnisse, sogar in der Gehirnstruktur wurden Veränderungen festgestellt. Die „Corticale Dicke“ also die Zellen der Hirnrinde haben sich vermehrt und zwar entsprechend den Bereichen, von denen wir schon weiter oben gehört haben – also z.B. die Insel, wenn es um Empathie geht.

Selbstberichtetes Sozialverhalten

Natürlich wurden die Proband*innen auch mit Spielen getestet. Sie zeigten vermehrt Altruismus, Großzügigkeit, Vertrauen und Hilfsbereitschaft. Reziprozität stieg allerdings nur durch das Affektmodul an. Wurden allerdings die Selbstbeschreibung mit den tatsächlichen prosozialen Verhalten verglichen zeigten sich Abweichungen. Die Menschen handelten nicht so nobel, wie sie selbst von sich glaubten.

Psychosozialer Stress

Stress wird gerne mit dem „Trierer Stresstest“ gemessen, der aus einer unerfreulichen Prüfungssituation besteht. Es zeigte sich, dass das reine Präsenztraining keinen Effekt auf den Stresslevel hat. Aber das gesamte Training war durchaus in der Lage, den Stress zu lindern.

Subklinische Veränderungen

Alle Proband*innen waren psychische gesunde Menschen. Aber auch solche Menschen zeigen in Tests subklinische Anzeichen wie z. B. Depressivität, Ängstlichkeit, Narzissmus, Einsamkeit etc. Die Frage war nun, ob sich hier nach dem Training eine Veränderung eingestellt hat. Das lies sich spezifisch nicht ermitteln, aber über die Summe der festgestellten Veränderungen konnte man immerhin aussagen, dass ein Training absolviert worden war.
Bei noch genauerer Auswertung wollten die Forscher*innen anhand der Testveränderungen vorhersagen, ob der Betreffende z.B. ein Affekt- oder ein Präsenzmodul absolviert hat und hier ergab sich ein positives Ergebnis. So ergaben sich spezielle Cluster, die zeigten für welche Bereiche, welches Modul am hilfreichsten ist. So hilft Affekt Training z.B. für Kardiovaskuläre Problem oder auch Ängstlichkeit; Perspektivtraining ist u.a. hilfreich für die Stresswahrnehmung, und Präsenz Training hilft bei Unsicherheit.

Fazit

Herr Kanske fasst zusammen: Empathie, Mitgefühl und ToM sind unterschiedliche Aspekte der sozialen Kognition und Emotion. Es ist möglich, diese Fähigkeiten gezielt „anzusteuern“ und einzuüben. Betroffene können so von ihren neuen Fähigkeiten profitieren, dass sie über ein verändertes Sozialverhalten neue soziale Situationen mitkreieren, die wiederum die erworbenen Veränderungen weiter unterstützen.
Den ganzen Vortrag kann man sich hier anhören.

Die Psychosomatik erkundet Dissoziationen

Wenn ein Mensch dissoziiert

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg.
Vortrag von: Brigitte Bosse, Dr. med., Leiterin des Trauma Instituts, Main: „Dissoziation als Überlebensstrategie“

Einführung

Frau Bosse gibt uns eine kurze Einführung zur „Dissoziativen Identitätsstörung“. Diese war früher auch unter dem Namen der „Multiplen Persönlichkeitsstörung“ bekannt. Um uns einen Eindruck zu geben, zeigt sie einige Szenen aus einem Dokumentarfilm. Darin sehen wir eine Frau, die in sich sieben Persönlichkeiten vereinigt, die nacheinander interviewt werden. Die Personen haben unterschiedliche Lebensalter, unterschiedliche Geschlechter, verschiedene Hobbys und Aufgaben im „System“. Dieses System kann man sich wie ein Haus vorstellen, in dem eben mehrere Personen wohnen.
Dann stellt sie uns die Struktur des Vortrags vor. Sie möchte zunächst den Begriff der Dissoziation erläutern, danach die Pioniere des Themas Pierre Janet und Sigmund Freud vorstellen, dann die Frage beantworten, was ein Trauma ist. Weiter möchte sie uns etwas über Wahrnehmung und Gedächtnis mitteilen, etwas über „Strukturelle Dissoziation“, die „Dissoziative Identitätsstörung“, und dann noch über die Dissoziative Identitätsstörung infolge von ritualisierter Gewalt.

Von der Autobahntrance zur Dissoziation

Alltägliche Dissoziation

Wir erfahren, dass Dissoziationen ganz alltäglich vorkommen können. Die Fahrt auf der Autobahn z.B., die Kilometer rauschen vorbei und die Gedanken sind auf eigenen Pfaden unterwegs. Als Phänomen auch gut aus Vorlesungen/Vorträgen bekannt, wenn der Input zum sanften Hintergrundgemurmel wird und die Fantasie sich in ihren Gefilden ergeht. Aber es gibt auch die ganz einfachen Tagträume, und so etwas wie „kreativen Flow“ – die selbstvergessene Hingabe an eine Aufgabe. Den berühmten „zerstreuten Professor“ zählt Frau Bosse ebenfalls dazu.

Pathologische Dissoziation

Eine zumindest pathologische Note bekommt die Dissoziation, wenn sie als Symptom auftritt, bzw. als solches gesehen wird. Sie könnte allerdings auch als Defizit betrachtet werden, ebenso als Abwehrmechanismus, als Prozess und/oder als Struktur. Wie auch immer Betroffene und ihre ärztlichen Helfer die Dissoziation verstehen, scheint es eine Faustregel zu geben: „It’s a bad habit.“ Eine schlechte Angewohnheit also, die, wenn sie öfter genutzt wird, sich verstärkt zeigen wird.

Janet und Freud – Dissoziation oder Verdrängung?

Nun erfahren wir etwas über die Pioniere dieser Erkrankung in den Personen von Pierre Janet und Jean Martin Charcot, die in Paris den Geheimnissen der „Hysterie“ auf die Spur kommen wollten. Sigmund Freud studierte dort und als er nach Wien zurückkam meinte er, die Ursache der Hysterie erkannt zu haben, nämlich sexuelle, inzestuöse Gewalterfahrung. Aufgrund lauter Proteste gegen diese Auffassung nahm Freud sie zurück und formulierte stattdessen den Ödipuskomplex und die fantasierte erotische Begegnung. Die Psychoanalyse hat sich dann jahrzehntelang nicht mehr um reale Traumata gekümmert.
Aber bereits Janet hatte erkannt, dass die Dissoziation „Schutz vor dem Unaushaltbaren“ bietet. Für Freud wurde daraus später die „Verdrängung“. Diese beiden Begriffe entsprechen sich allerdings keineswegs, denn die Dissoziation betrifft Körpererinnerungen aus einer vorsprachlichen Zeit. Verdrängt werden kann aber nur, was schon sprachlich gedacht worden ist.
Janet hat auch schon die therapeutischen Prinzipien für den Umgang mit der Krankheit entwickelt, die noch heute gelten. Es geht darum die Patient*innen zu stabilisieren, dann zur Trauma Exposition überzugehen und schließlich die Erfahrungen zu integrieren.

Was ist ein Trauma?

Die Frage nach der Trauma Definition beantwortet Frau Bosse zunächst etwas flapsig damit, dass etwas geschieht, was ich im Kopf nicht aushalte. Genauer betrachtet erschüttert das Trauma grundlegende Konzepte der eigenen Sicherheit, der Weltsicht und des Selbsterlebens. Traumatische Erfahrungen sind „Widerfahrnisse“, wie Philipp Reemtsma so passend formuliert hat.
Subjektiv wird das Überleben dadurch gesichert, dass das Geschehen desintegriert wird, indem so getan wird, als würde es mich nicht betreffen. Die Dissoziation schützt vor den überwältigenden Ereignissen und weiter werden durch das Trauma  „Encodierungsprozesse“ gestört, also das Gedächtnis beeinflusst.
Ttraumatische Erfahrungen geschehen immer unerwartet. Sie führen zu einem neurobiologischen Chaos im Körper, denn Botenstoffe und Hormone werden in teilweise toxischen Dosierungen ausgeschüttet.

Traumafolgen

Wir sehen ein Diagramm mit einem sechswöchigen Zeitverlauf ab dem Trauma Ereignis. Während des Ereignisses werden die Geschehnisse fast überwach erlebt, aber die Gefühle werden nicht wahrgenommen, ebenso wenig Schmerzen oder körperliche Grenzen. Emotional können eine Übererregung oder eine Erstarrung erfahren werden.
In den sechs Wochen danach kommt es zu Episoden des Wiedererlebens, unwillkürliche Erinnerungen, aber auch Selbstvorwürfe und Albträume sind nicht selten. Es entwickelt sich häufig ein Vermeidungsverhalten, indem bestimmte Orte oder auch Erinnerungen gemieden werden. Mitunter kann die Sprechfähigkeit beeinträchtigt sein und Gefühle von Entfremdung, Interessenlosigkeit oder emotionale Leere sind weitere mögliche Symptome. Sehr häufig finden sich auch Anzeichen von Übererregung, Wachsamkeit, Anspannung, Schlafstörungen, verstärktes Redebedürfnis, Misstrauen und Konzentrationsschwäche sind die Anzeichen dafür.
Nach den sechs Wochen schaffen es etwa zwei Drittel der Betroffen in ihr altes Leben zurückzufinden. Ein Drittel entwickelt eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD). Im Falle von vorsätzlicher Gewalterfahrung wie Folter oder sexualisierte Gewalt ist dieser Anteil allerdings höher. Die Befindlichkeit der Traumafolgestörung ist sehr unangenehm, denn– Selbstvorwürfe, Gefühle von Schuld und Scham, sowie Interessenverlust und ein Gefühl von Distanziertheit stellen sich ein.

Wahrnehmung und Gedächtnis

Den nächsten Abschnitt leitet die Vortragende mit drei kurzen Sätzen ein: „Man sieht nur, was man weiß!“ „Undenkbares kann ich nicht denken.“ „Man darf nicht alles glauben, was man denkt.“
Um den ersten Satz zu erläutern, zeigt uns Frau Bosse das Bild „Bauernhochzeit“ von Pieter Bruegel. Sie weist uns auf den vorderen rechten Bildabschnitt hin, wo sie vor einiger Zeit entdeckt hat, dass dort eine anatomische Unmöglichkeit abgebildet ist (zählen Sie einmal die Füße, die unter dem Brett mit den Tellern zu sehen sind).
Für den zweiten Satz gibt sie uns das Beispiel der sog. „Tellerlippen“ bei Frauen in bestimmten Kulturen. Bevor sie Bilder davon gesehen hat, konnte sie sich das einfach nicht vorstellen.
Sie erläutert kurz die Entstehung von Wahrnehmungen im Gehirn. Aus den Sinneseindrücken – sehen, hören, riechen, schmecken und tasten werden Eindrücke geformt. Das geschieht vorwiegend assoziativ, denn die meisten Nervenverbindungen im Gehirn (ca. 90 %) sind „intern“, also nicht mit einem Sinnesorgan verbunden. In dieser „Selbstreferenzialität“ entstehen Sinn, Bedeutung und Wirklichkeit des Bewusstseins.

Arten von Gedächtnis

Nun erfahren wir etwas über zwei Aspekte des Gedächtnisses. Zunächst das sog. implizite Gedächtnis. Dafür ist vor allem die Amygdala (Mandelkern) im Gehirn zuständig. Sie wird auch als „Schaltstelle für das Überleben“ bezeichnet, denn die Amygdala vergisst nie (!) wo Gefahr droht, wo gutes Futter zu finden ist, oder der beste Sexualpartner zu finden ist. Und sie gibt den Sinneseindrücken erst eine emotionale Bedeutung.
In extremen Situationen speichert der Mandelkern die affektiven Zustände nur als Bilder oder somatische Sensationen. Dort liegen sie nun zeitlos, immer gegenwärtig, ohne Kontext, in Fragmenten und nicht versprachlicht vor.
Der Hippocampus (Seepferdchen) ist für das explizite Gedächtnis zuständig, er ist gewissermaßen sein „Archivar“. Er ist sprachlich, episodisch und biografisch. Hier haben die Erinnerungen einen Platz in Zeit, Raum und Kontext.
Dieses Hintergrundwissen hilft uns den traumatischen Prozess besser zu verstehen. Die Sinneseindrücke die während des Traumas erlebt wurden, finden keinen Weg ins episodische Gedächtnis. Es sind gewissermaßen Inseln des Grauens in einer ansonsten geordneten Welt.
Gerade die intensive traumatische Erfahrung führt zu einer maximalen Erregung des ganzen Körpersystems, die Nähe zu Kampf, Flucht und Totstellen ist gut bekannt. Aber in der Situation herrscht Ohnmacht. Die Erregung kann nirgendwo hin und genau das verhindert, dass aus den Geschehnissen irgendetwas gelernt werden kann.

Strukturelle Dissoziation


Nun erfahren wir etwas über die klinische Einteilung von Strukturellen Dissoziationen. Unterschieden wird sie in drei Ausprägungsstufen:

Primäre strukturelle Dissoziation

Als Beispiel sehen wir das Bild eines Papageis. Erst bei genauerer Betrachtung können wir erkennen, dass hier ein geschminkter Mensch zu sehen ist. Damit will uns Frau Bosse nahebringen, dass zur ersten Form „eine anscheinend normale Außenperson (ANP)“ gehört. Dazu kommt „ein emotionaler Anteil (EP)“ und dies ist die Konstellation der PTBS. Denn die Verdoppelung des Bildinhalts (Papagei + Frau) entspricht dem Erlebensmodus von Betroffenen, die zwei Inhalte nicht miteinander verknüpfen können. Oder anders ausgedrückt – der/die Betroffene wirkt nach außen völlig normal, erlebt sich aber innerlich als hoch erregt.

Sekundäre strukturell Dissoziation

Dazu gibt es drei Unterformen:
die Komplexe Traumabelastungsstörung (k-PTSD)
die Emotional instabile Persönlichkeit (BPS)
und die Dissociative Disease non otherwise specified (DDNOS)
Auf dieser zweiten Stufe bekommen wir ein weiteres Bild des Künstlers Johannes Stötter präsentiert. Jetzt ist es ein Chamäleon, das aus zwei bemalten Menschen geformt wird. Die Struktur sieht jetzt so aus, dass zu einer normalen Außenperson mehrere emotionale Anteile feststellbar sind.

Dissoziative Identitätsstörung (DID)

Zur Veranschaulichung der dritten Stufe sehen wir ein Bild, das zunächst wie ein Löwenzahn aussieht. Aber auch hier sind es wieder nur geschminkte Menschen, die diese Illusion erzeugen. Entsprechend handelt es sich bei dieser Ausprägung um mehrere anscheinend normale Außenpersonen und mehrere emotionale Anteile.
Zur Entstehung der Dissoziativen Identitätsstörung ist inzwischen einiges bekannt. Wer vor dem fünften Lebensjahr schwere Gewalt erfahren hat, kann davon betroffen sein (ältere Kinder können diese Störung nicht mehr entwickeln). Es kann sich dabei um extreme sadistische, rituelle Gewalt handeln und dabei wird Todesnähe erlebt. Die Kinder fühlen sich verraten und verkauft und es gibt weit und breit keine gute Bindungsperson. Erschreckenderweise ist die Prävalenz in der deutschen Bevölkerung etwa so hoch wir für Schizophrenie, nämlich 0,5 – 1,5 % (in absoluten Zahlen wären das etwa 800.000 Betroffene).
Über das Leben mit einer DID erfahren wir, dass es vor allem anstrengend ist. Auf sozialer Ebene leben die Betroffenen in zwei Welten, sprechen in zwei Sprachen (verstehen oft nicht die Begriffe der Alltagssprache) oder leiden unter Sprachlosigkeit, erleben Brüche in ihrer Schul- und Berufslaufbahn, haben Schwierigkeiten Vertrauen zu fassen, sind in ihrer Lebensperspektive eingeschränkt (obwohl es auch beruflich sehr erfolgreiche Betroffene gibt) und sie sind unfähig oder leben unter dem Verbot, Hilfe anzunehmen.
Auf somatischer Ebene können Krankheiten sowohl über- als auch unterschätzt werden, denn unterschiedliche Innenpersonen können verschiedene Krankheiten haben, und aufgrund des hohen Stresslevels sind häufig Störungen des Immunsystems feststellbar.

 

Diagnose der DID

Frau Bosse empfiehlt nachdrücklich, die Patient*innen zu fragen. Erleben Sie Zeitverluste, dass Sie manchmal nicht wissen, was Sie die letzten Stunden getan haben? Haben Sie wechselnde Fähigkeiten und/oder Vorlieben?
Weiter ist es möglich nach „negativen Symptomen“ (etwas fehlt) zu suchen. Das können Gedächtnislücken sein, Gefühle von Depersonalisation/Derealisation oder Gefühlstaubheit. Auf der körperlichen Ebene können fehlendes Schmerzempfinden, zeitweiliger Verlust der Sinneswahrnehmung oder motorische Funktionsausfälle sein.
Entsprechend gibt es auch „positive Symptome“ (etwas ist zu viel). Darunter fallen Phänomene wie Stimmen hören (innere Stimmen), plötzlich auftretende Emotionen, sich aufdrängende Erinnerungen, Intrusionen/Flashbacks und auf körperlicher Ebene können Körpererinnerungen auftauchen, mit Empfindungen oder Schmerzen.
Um eine präzise Diagnose stellen zu können, braucht es noch einige Tests, um ganz sicher sein zu können. Das ist jedoch manchmal auch nicht leicht, weil die Betroffenen mit dem Motto leben, ich will es nicht merken und du sollst es auch nicht merken.

Gezielt hervorgerufene Dissoziation

Es ist eine erschreckende Vorstellung, dass Menschen, Kinder mit Gewalt, gezielt konditionieren und programmieren. Es gibt den Bereich der Pädokriminalität (für kriminelle Handlungen zugerichtete Kinder), Kinderfolterdokumentationen, Kinderhandel/Zwangsprostitution und Kindersoldaten. Und damit nicht genug auch noch Satanische Kulte, Sekten oder Faschistoide Gruppen, die systematisch diese Grausamkeiten begehen. Gerade die Betroffenen der letzten Gruppe sind besonders schwer einer Therapie zugänglich, da sie auch ideologisch vergiftet sind.
Zum Abschluss sehen wir noch ein Bild einer hochfunktionalen Betroffenen und hören ein Gedicht eines Betroffenen: Zu sehen und nachzuhören hier. (1:13:50)

Die Psychosomatik erkundet „Embodiment“

Embodiment als neues Paradigma

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
Vortrag von: Martin Dornberg, Dr. med. Dr. phil., Leiter des Zentrums für Psychosomatik und Psychotherapie Freiburg und Philosophisches Seminar, Universität Freiburg:  „Die zweigriffige Baumsäge: Embodiment, Beziehung und Psychotherapie“

Herr Dornberg stellt uns die Gliederung seines Vortrags vor: Es geht zunächst um „Baumsägeexperimente“, dann um „Embodiment und Baumsäge“. Weitergehen soll es mit Anmerkungen zur „Entwicklungspsychologie“, „Psychotherapie und Baumsäge“ und zuguterletzt um „Medienkunst und Baumsäge“.

Einführung

Wir erfahren etwas zur Geschichte, wie dieses Werkzeug überhaupt in die Psychotherapie aufgenommen wurde. Sie wurde von Thure von Uexküll ganz konkret und als Metapher eingeführt, der sie in der Ärzteausbildung verwendete.
Sie findet sich auch in der schon älteren Philosophie, die sich Gedanken zum Ich-Du-Verhältnis macht, zur Intersubjektivität, zum Leib-Seele Problem und zur Zwischenleiblichkeit.
Einen Schub erhielt das Thema durch das Buch „Der kompetente Säugling“ von Martin Dornes. Darin wird dargelegt, dass Säuglinge keineswegs passive Wesen sind, sondern höchst kompetent die Beziehung zur Mutter mitgestalten. In der Psychosomatik formulierte von Uexküll dazu einen weiteren Begriff, nämlich den der „Subjektiven Anatomie“. Dieser besagt so viel, dass jeder Mensch tatsächlich eine sehr subjektive Wahrnehmung seines Körpers hat.
In der Philosophie wurde zum Ende des letzten Jahrhunderts ebenfalls an Embodiment geforscht, unter anderem um den Aspekt des „Körpergedächtnisses“.
Neueste Entwicklungen rund um das Thema drehen sich um Medientheorie und Medienkunst.

Der Funktionskreis

Herr Dornberg stellt uns das biologische Systemmodell von Thure von Uexküll vor, den sogenannten „Funktionskreis“. Dieser macht deutlich, dass kein Lebewesen, also auch kein Mensch in einer abgeschlossenen Psyche lebt, sondern immerzu von seiner Umwelt beeinflusst wird und gleichzeitig auch diese Umwelt beeinflusst.
Wie können wir dann andere Menschen überhaupt verstehen, bzw. uns gegenseitig verstehen? Dazu hören wir ein Zitat von H.G. Gadamer:

„In der antiken Schrift über die Heilkunst findet sich dafür das schöne Beispiel des Führens der Baumsäge. Wie der eine zieht, so folgt der Andere, und das vollendete Führen der Säge bildet einen Gestaltkreis (Weizsäcker), in dem sich die Bewegungen der beiden Sägenden zu einem einheitlichen rhythmischen Fluss der Bewegung verschmelzen. Da steht der bezeichnende Satz, der das Wunderbare solcher Erfahrung von Gleichgewicht andeutet: Wenn sie aber Gewalt anwenden, dann werden sie es ganz verfehlen.“

Der Leib-Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty entwickelte das zu einem Konzept der Zwischenleiblichkeit. Er schrieb:

„Die Kommunikation und das Verständnis von Gesten entsteht durch Wechselseitigkeit zwischen meinen Intentionen und den Gesten des anderen, zwischen meinen Gesten und den Intentionen, die ich im Verhalten anderer wahrnehmen kann. Es ist, als ob die Intentionen des anderen meinen Leib bewohnten, und meine Intentionen den seinen.“

Die Baumsägeexperimente

Wir sehen Ausschnitte aus einem Film über Studierende der Medienwissenschft aus zwei Kulturen, die miteinander die Zweihandsäge bedienen. Die Erfahrung verändert sich mit dem Partner. Die Qualität, mit der sich die Sägenden aufeinander einlassen, kann sehr verschieden sein. Die Erfahrung reicht von Frust über das Misslingen des Sägens bis zu Glücksgefühlen, wenn sich eine Harmonie einstellt.
Herr Dornberg verweist hier schon auf die psychotherapeutische Situation, die mit jedem Klienten eine andere ist.
Die ersten Sägeexperimente wurden 1949 in Heidelberg gemacht. Es ging um Fragen der Rehabilitation von kranken Menschen. Mit einer Baumsägen Attrappe konnten sowohl objektive Messdaten gewonnen werden (Zug- und Druckkraft, Weg), als auch subjektive Eindrücke wie Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Ergebnisse der Experimente zeigten folgende Ergebnisse.
Es zeigte sich eine Gegenseitigkeit, dass nämlich beide Akteure in der Voraussicht auf den jeweils anderen handeln .
Kompensationshandlungen stellen sich ein, wenn ein Partner die kurzzeitige Schwäche des anderen ausgleicht, ohne es zu merken.

Aus zwei wird drei

Darüberhinaus entwickelte sich eine Emergenz, d. h. im Vollzug des Sägens entsteht ein neues Ganzes.
Es kommt zu einer Verbundenheit zur Ziel- und Prozessorientierung. Sie realisieren ein Maximum an Freiheit gerade durch ihre Bezugnahme auf feste Determinanten.
Beide Partner formen also ein neues Ganzes, das auf die Partner zurückwirkt. Beide entwickeln eigene Fähigkeiten von „Merken“ und „Wirken“. Das emergente Ganze teilt sich den Partnern körperlich-leiblich und emotional durch Resonanzphänomene mit. Die Stimmung verändert sich und es entwickelt sich eine Synchronie, die sogar die Herzfrequenzen mit einbezieht. Sie bilden durch ihr zwischenleibliches Tun einen „Dritten Körper“
Ein weiteres verblüffendes Ergebnis war, dass die Paarung Gesunder – Kranker, nahezu ebenbürtige Ergebnisse erzielten wie Paarungen von Gesunden. Dieses Ergebnis führte zu einer Hypothese:

„Der Kranke ist nur in dem Maße krank, indem er der Zuwendung seiner Mitmenschen ermangelt. Was ihm fehlt ist nicht nur, was ihm mangelt, sondern auch was die Anderen ihm versagen. Der Begriff „Krankheit“ ist in dieser Sicht kein individueller, sondern ein sozialanthropologischer.“

Embodiment

Die Embodiment Theorie unterstützt die Ansätze der körperorientierten Psychotherapie. Sie sagt aus, dass: Kognitionen, Emotionen und Verhalten neue körperliche Bedingungen formen und, dass die Körper-Konditionen Einfluss auf Kognition, Emotion und Verhalten ausüben. Es handelt sich also sowohl um bottom-up als auch top-down Beziehungen.
Embodiment ist aber nicht ohne Umweltbezug denkbar, deshalb wird Embodiment mit „Embeddedness“ ergänzt. Das bedeutet, dass jedes Lebewesen in seine Umweltzusammenhänge eingebettet ist, diese Umwelt mit formt und wiederum selbst von seinen Interaktionen beeinflusst wird.
Beide Prozesse gemeinsam sind „enaktiv“, also ein interaktiver Prozess beider Beteiligter, die dadurch neue, emergente Eigenschaften produzieren. Sie bedeuten auch, dass Geist nicht auf das Gehirn beschränkt ist (Extended Mind). Geistiges beinhaltet auch externe Komponenten wie Notizen oder andere Umweltkomponenten.

Entwicklungspsychologie

Nun kommt Herr Dornberg zum Thema der Entwicklungspsychologie. Er möchte aus der Säuglingsforschung berichten, dabei die Psychotherapie mit beleuchten und auch etwas über Spiegelneurone sagen.
Er demonstriert die Wirkung der Spiegelneurone an einem Foto, auf dem eine Mann gerade kurz davorsteht, sich in den Daumen zu schneiden. Der Anblick alleine genügt, um sich kurz unwohl zu fühlen, bis man mitbekommt, dass dem eigenen Daumen gerade gar nichts fehlt.
Dann werden wir an die Arbeiten und Theorien von Daniel Stern erinnert. Dieser hat herausgearbeitet, dass sich während der frühen Entwicklungszeit Schemata von Zusammensein etablieren. Es geht dabei um „Handlungsabläufe mit antwortenden Handlungsmacht- und Affektkomponenten, zeitlich-rhythmische Mustern, räumlichen und intensitätsbezogenen Anordnungen. Zusammen bilden sie die sog. RIGs (representations of interactions being generalized).“

Das dialogische Selbst

Ein berühmtes Experiment in diesem Zusammenhang ist das „Still Face“ Experiment, darin interagieren Mütter mit ihren Babys, ohne das Gesicht zu verziehen. Bei den Babys führt das regelmäßig zur Verzweiflung. Sie brauchen eine angemessene Spiegelung (kontingent und markiert), um eine Selbstrepräsentation entwickeln zu können. Mutter und Baby regulieren sich dabei gegenseitig und bilden so etwas wie ein „Dialogisches Selbst“.
Um also Emotionen und Kognitionen entwickeln zu können, brauchen wir die Intersubjektivität. Man kann eine primäre Intersubjektivität, die wäre multimodal, nicht-konzeptionell und körperlich von einer sekundären Intersubjektivität unterscheiden, das betrifft das Teilen von Intentionen und Wünschen durch Handlungen, Äußerungen und Wahrnehmungen. Der Psychotherapeut Peter Fonagy drückt diesen Umstand so aus:

„Wir müssen von einem dialektischen Modell der Entwicklung des Selbst ausgehen (…), demzufolge die Fähigkeit des Kindes, eine kohärente Vorstellung von der Psyche zu entwickeln, entscheidend davon abhängt, dass es sich selbst von seiner Bindungsfigur als Psyche wahrgenommen fühlt.“

Psychotherapie und Baumsäge

Der Prozess der Psychotherapie und die Beziehung, die darin entsteht, kann ebenfalls mit der zweihändigen Baumsäge veranschaulicht werden. Die Wirklichkeiten von Therapeut*in und Klient*in verzahnen sich ineinander. Sie erschaffen im besten Fall eine gemeinsame, hilfreiche Wirklichkeit. Der/die Therapeut*in dient in dieser Beziehung als „diagnostisches Instrument“.
Psychotherapie ist beziehungsorientiert. Sie kann als komplexes Wechselspiel zwischen zwei Beteiligten betrachtet werden. Ein konstruktivistisches Element besteht darin, dass wir unsere Wirklichkeiten in so einer komplexen Beziehung tatsächlich selbst erschaffen, nichtsdestotrotz bleiben wir natürlich reale Lebewesen. In der Therapie können wir die Gleichzeitigkeit von Bedingtheit und Abhängigkeit und von Freiheit und Einflussnahme erleben, ebenso wie beim gemeinsamen Sägen.
Die gelingende Psychotherapie schafft eine gemeinsame Wirklichkeit, in der gemeinsam eine Leistung erbracht wird, z. B. Zusammenarbeit oder Gesundheit. Beide Beteiligte haben ihre eigene Wirklichkeit, die Fragen bereithält. Z. B. Wovon werde ich/er gerade beeinflusst (Beziehungen/Gefühle) und was für Ziele/Wünsche habe ich/hat er gerade?
Im nächsten Schritt kann die gemeinsame Wirklichkeit erkundet werden. Also die jeweiligen Wirklichkeiten realisieren und durch eine patientenorientierte Kommunikation, also mit Hilfe von Pausen, emotionaler Spiegelung oder Zusammenfassungen. Dies darf sich abwechseln mit therapeutenzentrierter Kommunikation, in der der Therapeut seine therapeutischen Ziele kommunizieren kann.

Therapeutische Relevanz

Klassisch wäre, dass die Tiefenpsychologischen Ansätze stärker die Patientenorientierung nutzen und die Verhaltenstherapeutischen eher die Therapeutenzentrierten. Tatsächlich sind aber immer beide Aspekte nötig, denn Therapeut und Patient sind nicht exklusiv miteinander verbunden. In ihrer Beziehung tauchen auch andere Beziehungen auf, z. B. solche von früheren, aktuellen oder auch aus anderen Therapien.
Dies liegt u.a. an den emotionalen Schemata. Die wesentlichen Bindungs- und Beziehungsmuster entwickeln sich in den ersten Lebensjahren. Sie sind vorwiegend körperlich/verkörpert. Sie formen die impliziten und expliziten Organisationsformen von Erfahrungen.

Situation und Körpererleben

Liegen Dysfunktionen von emotionalen Schemata vor, dann zeigen sie sich situativ, wenn eine Situation unangemessene emotionale/kognitive Reaktionen auslöst. Offenbar ist es so, dass die Corona Situation neue Herausforderungen für die Schemata darstellt.
Der subjektiven Anatomie der dysfunktionalen Schemata kann man auch mit Körperbildern oder Körperskulpturen auf die Spur kommen. Besonders eindrücklich sind Figuren oder Gebilde, die die Klient*innen aus Ton formen können.
Nun wird noch Klaus Grawe angeführt. Diese Psychotherapieforscher hat geschrieben:

„Alle Inhalte des impliziten Gedächtnisses und damit die Grundlage des Großteils unbewusster Prozesse könne nur prozessual aktiviert werden, aber nicht über inhaltliche Thematisierung. Dieser Sachverhalt erscheint mir für die Psychotherapie von allerhöchster Relevanz. Für die Reaktivierung ist die Herstellung einer möglichst ähnlichen Reizsituation erforderlich, wie der,  unter der diese Gedächtnissysteme ursprünglich erworben wurden.“ Und: „Für die herbeizuführenden Veränderungen ist (…) der implizit-nonverbal-analoge Funktionsmodus wegen seiner engen Assoziation mit den Emotionen der relevantere.“

Wenn das nicht für Körperorientierte Psychotherapie spricht!
Es geht also in der Therapie auch darum, bestimmte Reaktionen situativ hervorzurufen und sie dann zu verändern. Dies geschieht dadurch, dass die auftauchenden dysfunktionalen Muster durch kleine Variationen modifiziert werden.
Zusammenfassend bekommen wir ein Diagramm, welches das „System Therapeut“ dem „System Klient*in“ gegenüberstellt. Beide sind aufeinander bezogen und übertragen aufeinander. Es finden Parallelprozesse statt, Beziehungsübertragungen, Affektübertragungen, Körperübertragungen, Spiegelungen, Mentalisierungen und auch Traumaübertragungen sind möglich. Das Fazit daraus lauter:

„Die Ansicht Freuds, der Therapeut müsse sich so wie ein Spiegel verhalten, ist falsch! Ohne Verwicklung keine Entwicklung!“

Fazit

Das abschließende Fazit aus der Baumsägen Metapher sieht so aus: Die therapeutische Beziehung hat eine besondere Bedeutung. Das Phänomen des „Dritten Körpers“ spielt eine Rolle für den Erfolg. Übertragungen und Gegenübertragungen finden ständig zwischen beiden Beteiligten statt.
Therapie ist die Veränderung impliziter Beziehungsmuster und eine korrektive therapeutische Erfahrung.
Sogenannte „Begegnungsmomente“ (~ spontanes, bedeutungsvolles Miteinander) fördern den Therapieerfolg. Emotionale Mitteilungen des Therapeuten können eine Beziehungsherausforderung sein, die Früchte tragen kann.
Als Grundlage ist das Bio-psycho-soziale Modell und dessen Systemik am hilfreichsten.
Hier ist der Vortragende am Ende seiner Zeit angekommen. Es ist möglich sich den Vortrag selbst anzusehen.

Die Psychosomatik erkundet Beziehungen zwischen Musizierenden und ihren Instrumenten

In Beziehung zu einem Instrument

Bericht vom Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg
Vortrag von Karin Nohr
Dr. phil., Schriftstellerin, Psychoanalytikerin, Gründungsmitglied
der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und Musik e.V.,
Berlin

Zwilling, Schatten, Partner, Feind

Zur „Beziehung“ zwischen Musizierenden und ihren Instrumenten

Wie wohltuend! Ein Thema wie aus einer „guten alten Zeit“. Nicht Corona, nicht Klima, sondern eine Forschungsarbeit, die sich mit nicht ganz alltäglichen Beziehungen befasst und uns etwas über das „Mensch-Sein“ aufzeigen kann.

Persönlicher Zugang

Frau Nohr informiert uns darüber, dass sie inzwischen hauptsächlich Romane schreibt. Anlässlich des Vortrags hat sie ihre, inzwischen 30 Jahre alte Untersuchung, noch einmal betrachtet. Sie möchte uns davon berichten, wie sich Musizierende ihren Instrumenten annähern und wie sie zum Instrument kamen. Sie fragt sich heute, was davon für Musizierende noch relevant sein könnte, und was sie heute anders machen würde.
Aber zunächst berichtet sie von ihrem eigenen Weg zu dieser Forschung, wobei auch ihre musikalische Karriere eine Rolle spielt. Dieser Weg führte sie vom Cello (neuntes Lebensjahr) zur Querflöte und weiter zum immer noch aktuellen Gesang.
Der Konflikt mit ihrem ersten Instrument, die „Hass-Liebe“, die sie dazu entwickelte, erklärt sie mit einem Erlebnis. Sie hatte ein Cello Konzert gehört, und war tief von dem Klang beeindruckt, den einer der beiden Spieler dem Instrument entlockt hatte. Sie berichtete ihrem Lehrer davon und vom Wunsch, ebenfalls solche Töne zu erzeugen. Der Lehrer erwiderte etwas trocken: „Ja, ja, aber erst einmal über wir Tonleitern.“ Auf der Beziehungsebene empfand sie das als „kalte Dusche“ und diese Ambivalenz übertrug sie auf das Instrument.
Während ihrer Studienzeit vernachlässigte sie die Musik und erst in ihrer Lehranalyse hatte sie einen Traum. Sie spielt mit einer anderen Frau Querflöte, aber es gelingt ihr nicht, der Flöte Töne zu erzeugen. Sie überprüft die Flöte und entdeckt, dass diese, voller Wolle steckt. Der Gedanke an die strickende Mutter lag nahe. Und der nächste Gedanke war, dass sie nun vielleicht wieder musizieren könnte. So begannen ihre Querflötenkarriere und ihr Interesse an der Beziehung von Musizierenden zu ihren Instrumenten.

Forschungsmethoden und -Ergebnisse

Ihre Herausforderung als Forscherin war: Wie könnte sie sich auf wissenschaftliche Art, also nachprüfbar, sachlich und interdisziplinär, diesem Thema annähern? Es lag nahe, dass die Psychologie, die ja auch eine Wissenschaft der Beziehungen ist, eine Rolle spielen muss. Allerdings lag weder aus der Psychologie, noch aus der Musikwissenschaft und -Geschichte etwas Solides zum Thema vor.
Sie entschied sich dazu, eine qualitative Textanalyse von Autobiografien berühmter Künstler zu machen. Dafür studierte sie 41 Bücher. Ihre Forschung enthüllte ihr vier Arten, wie diese Musiker (es waren übrigens alles Männer) zu ihrem Instrument kamen. Die Art des Beginns bestimmt nämlich die Beziehung zum Instrument mit, so Frau Nohr.
Das erste Muster nennt sie „Übernahme“. Bereits die Eltern, oder ein Elter, spielten das Instrument und das Kind wächst gewissermaßen in die Beziehung hinein – „nimmt es mit der Muttermilch auf“.
Das zweite Muster nennt sie „Übergabe“. Die Eltern drängen das Kind zu einem Instrument. Hieraus entwickelt sich nicht selten eine ambivalente Beziehung, denn die Aufgabe steht im Konflikt mit der Autonomieentwicklung des Kindes. Dieses kann der Ärger auf die Eltern dann durchaus auf das Instrument verschieben.
Ein drittes Muster nennt sie „Suche“ oder auch „der überraschende Fund“. Es ist geprägt von Begegnungen mit dem Instrument, die als „himmlisch, paradiesische Erfahrung“ geschildert wird. Die Vortragende vermutet Anklänge an eine vorsprachliche Zeit und der Assoziation mit der mütterlichen Stimme.
Das vierte Muster schließlich, nennt sie „Beliebig“. Es zeichnet sich durch ein unpersönliches, sachliches Verhältnis zum Instrument aus. Trotzdem mag auch in diesem Muster eine Verheißung stecken, denn das Instrument zu finden, betrifft immer mehr als nur das Instrument.

Beziehungsgestaltungen

Viele Instrumentalisten leiden an der Beziehung zu ihrem Instrument. Das liegt nicht nur am Instrument, sondern vor allem am stressigen Umfeld, in dem Profis leben müssen – Reisen, Termine, Kritiken u.v.m. macht ihnen das Musikerleben oft schwer.
Der Aufbruch in ein solches Leben ist oft von wichtigen Beziehungsbotschaften gefärbt. Eltern oder Lehrer prophezeien dem Kind eine große Karriere, legen mitunter Gelübde ab, das Kind zum Erfolg zu führen. Solche Botschaften sind wichtig für die Identitätsentwicklung, sie beflügeln die Fantasie und entwickeln sich zum Lebensprojekt des Kindes.
Häufig auch findet sich der Fall, dass eine engagierte Mutter den Ausschlag gab. Der ganze spätere Erfolg ist ihr zu verdanken. Diese Konstellation bringt die Gefahr von Schuldgefühlen mit sich. Wie könnte ein solcher Einsatz auch vergolten werden können?
Aber nicht wenige Musiker nutzen das Instrument auch als Alibi, um sich zurückziehen zu können. Das Instrument wird zum Werkzeug der Nähe-Distanz-Regulation. Es dient als Versteck bei drohenden Konflikten.
Die vielleicht gelungenste Beziehungserfahrung liegt wohl im Glücksgefühl des Muszierens an sich. Erfülltes Musizieren bewirkt eine Art Metamorphose, es führt zu einer Verschmelzung von Musiker und Instrument – eine gelungene Gestalt von sinnlich-geistiger Existenzerfahrung. Das Körperschema verändert sich. Der Musiker empfindet sich als Teil eines höheren und schönen Ganzen. Die psychische Erfahrung weist Qualitäten eines Flow-Zustands auf.
Auch hier vermutet Frau Nohr Anklänge an frühkindliche, vorsprachliche Körperzustände. Es ist ein Lustgefühl, zu musizieren.

Partnermuster

Aus den Schilderungen der Musiker, wie sie ihr Instrument sehen, zeichnen sich wiederum vier Muster ab.
Vor allem von Geigern ist bekannt, dass sie ihrem Instrument eine eigene Individualität zuschreiben. Frau Nohr vermutet projektive Vorgänge dahinter. Das Instrument hat seine Launen, manchmal hat es keine Lust zu klingen.
Eine andere Möglichkeit unterstellt dem Instrument einen eigenen Willen. Es stellt gewissermaßen ein anderes Ich dar, einen positiven Doppelgänger. Frau Nohr vermutet, dass hier Selbstanteile auf das Instrument projiziert werden.
Noch eine Möglichkeit umschreibt sie, angelehnt an C.G. Jung, mit dem Begriff des „Schattens“. In diesem Fall vermutet sie, dass negative Selbstanteile projiziert werden.
Eher selten gibt es auch eine ausgesprochen feindselige Beziehung zum Instrument. Es wird zu einem „überdeterminierten Gegenstand“, der die Projektionen des Künstlers aufnehmen soll.
Im besten Fall, so Frau Nohr, wird das Instrument als „Erbe der mütterlichen Stimme“ zu positiven Identifikationen führen. Musizieren kann zu Glückszuständen führen, und zwar auch bei Laienmusikant*innen.

Anregungen und Resümee

Das Verhältnis von Musizierenden zu ihren Instrumenten erlaubt Rückschlüsse auf die Psyche der Beteiligten. Ein häufiges psychisches Phänomen ist der Verlust der Spielfreude. Das kann verschiedene Ursachen haben. Die Erwartungen an das musizierende Kind können zu hoch sein; die Eltern glauben nicht wirklich an die musikalischen Fähigkeiten des Kinds; das Kind hat keine musikalischen Vorbilder; die Erwartungen sind hoch, aber die Förderung lässt zu wünschen übrig; es wird zu viel geübt.
Beziehungen sind sehr komplex. Deshalb empfiehlt Frau Nohr Eltern, die ihren Kindern Instrumente schenken wollen, zunächst über sich selbst und seine Motive nachzudenken. Denn, beim Instrumente schenken zeigt der Schenker viel von sich selbst, er/sie schenkt gewissermaßen einen Teil von sich selbst.
Damit hat sie ihre Forschungsergebnisse und Schlussfolgerungen vorgetragen. Würde sie diese Forschung heute wieder aufnehmen, würde sie vor allem Frauen mit aufnehmen. Sie würde sich Gedanken darüber machen, was „passen“ eigentlich bedeutet. Ebenso würde sie der Verinnerlichung von Beziehungsprozessen mehr Aufmerksamkeit schenken, und als Forschungsparadigma würde sie Gespräche verwenden.