Die Psychoanalyse erkundet Leiblichkeit

Leib und zwischenleibliche Resonanz

Bericht vom 14.11.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Timo Storck, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Psychologische Hochschule Berlin (PHB):

„Der Leib als Wahrnehmungsorgan in der Psychotherapie“

Herr Storck beginnt damit, dass er uns kurz erläutert, was er uns in seinem Vortrag nahebringen möchte. Nämlich, dass der Leib ein Wahrnehmungsorgan ist, das uns einen, wenn nicht den Zugang zur Welt ermöglicht. Er gibt uns seine Gliederung zum Thema:

1. Wahrnehmungsvorgänge können zwei „Richtungen“ haben (allgemeinpsychologisch)

2. Der Leib vermittelt das Erleben von Selbst und Anderem (entwicklungspsychologisch)

3. Psychosomatische Störungen lassen sich als eine Entleiblichung verstehen (psychopathologisch)

4. Die Arbeit mit der leiblichen Gegenübertragung ist ein Weg zur Symbolisierung verkörperter Zustände (behandlungstechnisch)

Leibliche Wahrnehmungsvorgänge haben zwei Richtungen

Der Begriff des Leibs im Unterschied zum Körper erscheint in der Philosophie mit der Phänomenologie. Prominent darin z. B. Edmund Husserl und in dessen Nachfolge und für den Leib besonders fruchtbar, Maurice Merleau-Ponty. Dieser Philosoph sprach vom Leib, der ich bin und dem Körper den ich habe. Dabei kommen beide Aspekt immer gemeinsam vor, haben gewissermaßen einen Doppelaspekt.

So ist es auch mit der Leibwahrnehmung, insbesondere mit der Berührung. Immer, wenn ich etwas oder mich selbst berühre, kommen mir zwei Wahrnehmungen ins Bewusstsein – das Berührte und z. B. meine Finger. Diese Betrachtungen sind auch für die psychotherapeutische Arbeit sehr wertvoll. Von Merleau-Ponty kommt auch der Begriff der Zwischenleiblichkeit, womit er beschreiben wollte, dass in personalen Begegnungen leibliche Erfahrungen gemacht werden, die sich von rein physikalischen Gegenständen unterscheiden.

Auch Sigmund Freud hat sich Gedanken zur Wahrnehmung bzw. dem Wahrnehmungsbewusstsein gemacht. Einige dieser Gedanken hat Freud als Zeichnungen zu Papier gebracht. Diese sind ein Teil seiner Wahrnehmungs- und Erinnerungstheorie. Die Wahrnehmung ist für Freud eine Art Kappe, die auf dem Psychischen quasi aufsitzt. Das BW betrachtet er als das Sinnesorgan zur Wahrnehmung psychischer Qualitäten (innere und äußere Reize). Dies schafft dann erst die Psychische Realität. Diese Überschneidung von Wahrnehmung und Gedächtnis führt zu Befriedigungserlebnissen, weil wir uns erinnern können, was wir schon früher als befriedigend erlebt haben.

Aus dieser Perspektive gewinnen wir körperliches Bewusstsein in  mehr oder minder großen Ausmaß. Dabei kann die Wahrnehmung, z.B. von bestimmten Affekten, gestört oder verzerrt sein. Diese Sichtweise ist in der Psychosomatischen Medizin und der Psychoanalyse gut bekannt. Herr Storck möchte aber die Perspektive umdrehen und untersuchen, wie das Leibliche die Wahrnehmung steuert.

2. Der Leib vermittelt das Erleben von Selbst und anderem.

Zur Verdeutlichung bekommen wir nun eine kurze Video Sequenz gezeigt. Es geht um eine typische Psychoanalytische Sitzung im „Couch-Setting“. Die Patientin wird von einer Schauspielerin dargestellt.

 Im Video „wimmelt“ es nur so von leiblichen Befindlichkeiten und Interaktionen – Bedürftigkeiten, Kuscheln, Küssen usw. Therapeutisches Thema wie Abstandsregulation oder die Unterscheidung von Selbst und anderem.

Auch bei diesem Thema mischen philosophische Betrachtungen mit. Da gibt es zum einen Plato, dessen Meinung über Körperliches eher geringschätzig war. Ganz im Gegensatz zu Aristoteles, der die Seele als Form des Leibes betrachtet hat und die Seele als durchformt vom Leib.

Neuere phänomenologische Philosophen im deutschsprachigen Raum wären z. B. Helmuth Plessner oder Thomas Fuchs u. a. Alle unterscheiden den subjektiven Leib vom objektiven Körper.  Sie kommen auch zu dem Schluss, dass der Leib der primäre Zugang zur Welt überhaupt darstellt.

Noch aktuellere Betrachtungen wären Theorien zum „Embodiment“, die derzeit En Vogue sind.

Ein berühmtes Zitat von Freud dazu lautet: „Der eigene Körper und vor allem die Oberfläche desselben ist ein Ort, von dem gleichzeitig äußere und innere Wahrnehmungen ausgehen können. Er wird wie ein anderes Objekt gesehen, ergibt aber dem Getast zweierlei Empfindungen, von denen die eine einer inneren Wahrnehmung gleichkommen kann. Es ist in der Psychophysiologie hinreichend erörtert worden, auf welche Weise sich der eigene Körper aus der Wahrnehmungswelt heraushebt. Auch der Schmerz scheint dabei eine Rolle zu spielen und die Art, wie man bei schmerzhaften Erkrankungen eine neue Kenntnis seiner Organe erwirbt, ist vielleicht vorbildlich für die Art, wie man überhaupt zur Vorstellung seines eigenen Körpers kommt. Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondernd selbst die Projektion einer Oberfläche.“ (Freud 1923b, S.253)

Und weiter. „Das heißt, das Ich leitet sich letztlich von körperlichen Gefühlen ab, hauptsächlich von solchen, die auf der Körperoberfläche entstehen. Es könnte deswegen als eine psychische Projektion der Körperoberfläche angesehen werden und nicht nur wie wir oben gesehen haben, als Darstellung der Oberfläche des psychischen Apparates.“

Daraus folgert Herr Storck, dass der Leib nicht nur Wahrnehmungsorgan des Psychischen ist, sondern jegliches Selbst-Erleben formt. Damit wird das Selbst zu einem zwischenleiblichen Phänomen. Es bildet sich aus den Erfahrungen von Berührungen an der Hautgrenze, als Unterschied zwischen Selbst und Nicht-Selbst. Dabei verinnerlicht das Selbst-Erleben die Kontur der Körperoberfläche und Repräsentiert den Körper als erste Form des Selbst.

Herr Storck spekuliert noch darüber, wie der Begriff des „Triebs“ bei Freud als Grenzbegriff zwischen Psyche und Soma aktualisiert werden könnte.

3. Psychosomatische Störungen lassen sich als eine Entleiblichung verstehen

Alles ist psychosomatisch, denn alle Patient*innen bringen ihre Körper mit in die Therapie. Die alten Konzepte von spezifischen Krankheitspersönlichkeiten führen nach Ansicht des Vortragenden nicht weiter. Tatsächlich erscheinen die Psychodynamischen Phänomene als äußerst diffus. Das könnte aber gerade ein verwertbares Indiz darstellen. Theoretisch ließe sich das sowohl triebtheoretisch als auch objektbezogen gut begründen. Im ersten Fall fände so etwas wie Seele-Körper-Dissoziation statt, im zweiten Fall würde der Körper eine unzuverlässige Bezugsperson repräsentieren.

Beide Zugänge lassen sich in einem Modell zusammenführen. Dies wurde von Armando Ferrari durchgeführt. Das Modell bietet zwei Achsen – Individuum-Umwelt und Psyche-Soma. Bei bekömmlicher Entwicklung entsteht so ein quasi dreidimensionaler Raum von Erleben. Nun ist es so, dass Veränderungen auf der einen Achse auf die andere Achse einwirken. Dass also Störungen im Verhältnis von Individuum-Umwelt zu Störungen des Verhältnisses Psyche-Soma führen. Diese Störung führt wiederum zu Störungen der anderen Dimension und so kann der Erlebnisraum auf eine Zwei- oder gar Eindimensionalität einschrumpfen.

Für Betroffene entsteht so ein Beziehungserleben, das zwischen Verschmelzung und Isolation pendelt. Das erschwert es, sich als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Sich in Kontakt fühlen ist dann nur möglich, wenn wir einander völlig gleich sind, andernfalls erscheint der Eindruck, verlassen zu sein.

Herr Storck präsentiert uns nun ein Fallbeispiel. Es geht dabei um eine Frau, die über Schmerzen klagt, die durch den ganzen Körper wandern. Er erläutert kurz die Biografie der Patientin und stellt uns dann einen Ausschnitt aus dem Thematischen Apperzeptionstest vor. Es geht bei diesem Test darum, eine Geschichte zu einer Abbildung zu erfinden.

Beispielhaft wird an den Antworten der Patientin deutlich, dass sie eine Vorstellung entwickelt hat, dass körperliches Leiden und die Anfälligkeit des Körpers die Seele verunreinigen. Dass also Seele und Körper eher voneinander getrennt sind und auch unterschiedliche Werte aufweisen.

Die Schmerzen lassen sich als Prothese verstehen, mit deren Hilfe sie ihren Körper ganz wahrnehmen kann. Allenfalls, wenn die Patientin von Wasser umgeben ist, hat sie keine Schmerzen und Herr Storck nimmt an, dass sie mit Hilfe des Wassers, das sie vollständig umgrenzt, ihren Körper spüren kann und dann die Schmerzen nicht braucht.

4. Die Arbeit mit der leiblichen Gegenübertragung ist ein Weg zur Symbolisierung verkörperter Zustände

Herr Storck möchte nicht nur über das „Herumdoktern“ an unseren Patient*innen berichten, sondern auch darauf eingehen, wie Therapeut*innen ihren eigenen Leib in der Therapie einsetzten können.

Dazu möchte er auf die Übertragungsbeziehung und die Übertragungsdynamik eingehen. Übertragung, als zentrales Element der Psychoanalytischen Therapie kann als Übertragungsneurose betrachtet werden. Innerhalb dieses Beziehungsmodus können Affekte auftreten und dann auch erfolgversprechend analysiert werden.

Darüber hinaus gibt es auch Übertragungspsychosen und Übertragungsmuster von Persönlichkeitsstörungen, auf die Herr Storck jetzt aber nicht eingehen möchte.

Relativ neu ist die Formulierung einer Übertragungspsychosomatose, in der körperliche Symptome als Regulation in der Beziehung verstanden werden. Herr Storck vermutet auch hierbei das Beziehungsdilemma zwischen Isolation und Verschmelzung.

Aber gibt es so eine Form der Übertragung überhaupt? Herr Storck bejaht das und führt an, dass Therapeut*innen sehr vertraut mit dem Phänomen sind, dass sich, in der Arbeit mit Psychosomatik Patienten, der eigene Leib öfter meldet – z.B. mit einem Zwicken oder einer gewissen Übelkeit.

Das Beziehungsthema macht sich häufig als Scheu bemerkbar, z.B. auf Unterschiede voneinander hinzuweisen oder auch als ein gewisser Druck, Gleichheit herzustellen.

Herr Storck möchte einen genaueren Blick auf die körperlichen Reaktionen werfen und betrachtet dazu die besondere Form der „Projektiven Identifikation“ – sog. ein Abwehrmechanismus, der alles andere als einfach zu erläutern ist. Er möchte uns sein Verständnis dieser Dynamik nahebringen.

Zunächst ist es so, dass der Patient einen unliebsamen Selbstanteil auf den Therapeuten projiziert, ihn also im Gegenüber erlebt. Dies ist zunächst ein rein innerer Prozess. Beispielsweise fühlt sich der Patient gereizt, erlebt aber die gereizte Stimmung als vom Therapeuten ausgehend.

Diese Stimmung färbt natürlich die Kommunikation und Interaktion zwischen Patient und Therapeut. In der Folge wird der Therapeut sich zunehmend gereizt fühlen und zunächst nicht unterscheiden können, woher dieses Gefühl stammt. Er identifiziert sich nun mit diesem Affekt. Erst in einem weiteren Schritt, wird es dem Therapeuten möglich, diese Gereiztheit als eine Art Antwort an den Patienten zu verstehen. Dann wird es möglich, das reflektierte Gefühl dem Patienten in sprachlicher Form wieder anzubieten.

Herr Storck möchte mit zwei Aufforderungen enden. Zum einen plädiert er dafür, dass Therapeuten ihre Leibwahrnehmung zur Verfügung stellen, um es den Patient*innen zu ermöglichen ihre Leibwahrnehmungen besser wahrnehmen zu können.

Weiter fordert er dazu auf, so etwas wie „mentalisierte Alterität“ anzubieten. Also versprachlichte Formen des Anders-Seins, die als nicht bedrohlich erlebt werden können. Anders sein muss dann nicht mehr als Bedrohung der Beziehung erlebt werden.

Dieser dichte Vortrag lässt das Herz eine Körperpsychotherapeuten durchaus höher schlagen und auch das Auditorium ist sehr davon angetan.

Hier geht es zum Vortrag

Die Psychosomatik erkundet Spiritualität

Venus von Hohenfels zeigt Spiritualität in der Steinzeit

Bericht vom 14.11.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Dr. Natalie Knapp  Gründungsmitglied des Berufsverbands für Philosophische Praxis, Philosophin, Autorin, Rednerin, Berlin: „Gedankliche Dehnübungen – Über Spiritualität und ihre Bedeutung im 21. Jahrhundert“

Frau Knapp stellt uns die drei Fragen vor, mit denen Sie ihr selbstgewähltes Thema strukturiert hat.

1. Was bedeutet Spiritualität im 21. Jahrhundert?

2. Vor welchen Herausforderungen steht die Spiritualität im 21. Jahrhundert?

3. Was könnte uns helfen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden?

Verständnis von Spiritualität im 21. Jahrhundert

Sie berichtet davon, dass sie als junge Frau den Text von F. Nietzsche gelesen hat. Es war der tolle Mensch, der aussagt: „Gott ist tot, wir Menschen haben in umgebracht.“ Diese Worte haben Frau Knapp nachhaltig erschüttert.

Um zu illustrieren, was der Text angestoßen hat, zeigt sie nun zwei Bilder von Caspar David Friedrich. Die berühmten Werke, „der Wanderer über dem Nebelmeer“ und „der Mönch am Meer“. Sie begründet die Wahl dieser Bilder, weil die Künstlerin Jule Wanders diese für eines ihrer Anti-Selfies genutzt hat. Für ein Anti-Selfie legt sich Frau Wanders bäuchlings vor ein Gemälde und lässt sich so, samt Gemälde fotografieren.

Frau Knapp deutet das zum einen als Betonung des Bildes anstatt der Selbstabbildung, zum anderen sieht sie in der Körperhaltung die Unterwerfungsgeste, wie sie z. B. auch im tibetischen Buddhismus praktiziert wird.

Wir erfahren noch, dass C.D. Friedrich den Mönch am Meer schuf, als er um seine geliebte Schwester trauerte, die kurz zuvor gestorben war. Abgebildet sind Meer, Strand, Himmel und ein Mensch in dieser grenzenlosen und unfassbaren Weite.

Das führt zu ihrer Antwort auf ihre erste Frage. Da es so viele Versuche gibt, Spiritualität zu definieren, erlaubt sie sich, eine eigene Definition einzuführen.

„Spiritualität bedeutet, sich mit der größtmöglichen, erfahrbaren Dimension angemessen ins Verhältnis zu setzen, ihr einen Ausdruck zu geben und dafür Verantwortung zu übernehmen.“

Spiritualität ist ihrer Ansicht nach eine Haltung und eine Praxis. Sie erinnert uns daran, dass es sich sehr unangenehm anfühlen kann, an den Grenzen des eigenen Horizonts zu stehen und das Übermächtige jenseits dieser Grenzen ertragen zu können. Der Lebenshorizont endet beim Tod, aber auch bei der Liebe. Darüber hinaus gibt es gewaltige Naturkräfte wie Sturmflut, Pandemie u. v. m. Der übliche Versuch, solche Übermächte wegzudefinieren, ist nicht immer erfolgreich.

So sieht sie die Kunstform des „Anti-Selfies“ auch als einen Versuch, sich diesen übermächtigen Lebensdimensionen zu stellen. Gerade in der Moderne, in der die Individualität mit dem Selfie auf die Spitze getrieben wird, braucht es so etwas wie eine Rückbesinnung auf andere Qualitäten.

Die Herausforderungen an die Spiritualität im 21. Jahrhundert

Das aktuelle Zeitgeschehen bietet eine Anschauung zum Umgang mit dem Schrecklichen. Der Überfall auf Israel am 07. Oktober wurde u. a. von Yuval Noah Harari kommentiert. Dieser Welthistoriker praktiziert seit vielen Jahren Meditation. In seinem Zitat geht es sinngemäß darum, dass dieser erbitterte Kampf keinen Raum dafür lässt, den Schmerz der jeweils anderen Seite anzuerkennen. Das ist auch eine Chance für außenstehende Menschen, denn diese sind in der Lage, den Schmerz beider Seiten zu sehen. Sie können eine übergreifen Perspektive einnehmen und den Blick auf den wünschenswerten Frieden richten. Diese Perspektive auf das Große, das sei ebenfalls Spiritualität, so Frau Knapp.

Wir bekommen die Anregung, uns an einen friedlichen, vielleicht glücklichen Moment unseres Lebens zu erinnern und verbunden mit dieser Erinnerung unseren Körper spüren. Natürlich entspannt sich der Körper, der Atem vertieft sich, der innere Raum weitet sich. Und ganz am Rand der Wahrnehmung findet sich dann eine Spur von Glück. Dieses Glück ist wie ein durchscheinendes Leuchten, sanft und friedlich, fern von Gleichgültigkeit.

Auf dieser Basis möchte sie verdeutlichen, dass Frieden mehr braucht als Entwaffnung. Frieden braucht ein offenes Herz, einen Raum, in dem ehemalige Feinde miteinander leben können. Diesen Friedensraum zu kultivieren, betrachtet sie als die spirituelle Aufgabe des 21. Jahrhunderts – trotz und in den Katastrophen einen Raum in sich zu schaffen und zu pflegen.

Frau Knapp blickt nun in die Vergangenheit. Sie erinnert uns an die Zeiten als noch Kirchen den ärmlich lebenden Menschen eine Ahnung von Größe und Weite boten. Die gewaltigen Räume mit ihren bunten Fenstern boten das Abbild einer heiligen Architektur. Darin konnten sich die Menschen aufgehoben fühlen. Aufgehoben ganz im Hegelschen Sinn verstanden als bewahrt, erhöht und entmächtigt.

Heutzutage sind die großen Räume Konsumtempel geworden. Ganz und gar diesseitig und ohne jegliche Tendenz, dieses Diesseits zu transzendieren. Zu Beginn war die Natur selbst der Raum und erst mit der Sesshaftwerdung entstanden die sakralen Räume und mit ihnen die Institutionen mit ihrer Macht, die sie leider allzu oft auch missbraucht haben und missbrauchen. Seither wächst das Misstrauen gegen die größeren Dimensionen und die Entstehung und der Glaube an die Individualität rückt an die erste Stelle.

Noch weiter zurück in der Geschichte landen wir in der Steinzeit. In einer Höhle befinden sich Menschen und draußen toben die elementaren Kräfte – Sturm, Regen, Blitz und Donner. In dieser Zeit schuf ein Mensch die Figur der Venus von Hohenfels. Wozu? Warum wurde diese und andere Figuren geschaffen? Als Abbild und zur Ehre der nährenden, lustvollen, gebärenden Natur? Als Anrufung einer Verbündeten oder als Ansprechpartnerin?

Frau Knapp erinnert sich an einen Spaziergang am Meer. Es war während eines Sturms und er wäre ihr fast zum Verhängnis geworden. Sie hatte damals die gewaltigen Naturkräfte unterschätzt. Diese Erinnerung führt sie zum gegenwärtigen verniedlichenden Sprachgebrauch im Angesicht der sog. Klimakrise. Die Kräfte, die hier bereits am Werk sind, werden alles übertreffen, was Menschen jemals erlebt haben.

Sie empfiehlt uns zum Thema das Buch „Wasser und Zeit“ von Andri Snær Magnason. Er schreibt, dass das Wort Klimawandel wie ein Rauschen sei, um etwas zu sagen, zu dem was passiert. Das Gehirn könne das Ausmaß nicht erfassen. Jegliche Bedeutung werde aufgesaugt.

Darin sieht sie die spirituelle Aufgabe der Menschen im 21. Jahrhundert. Der Umgang und die Erfahrung in und mit der Klimakrise (Katastrophe). Worin bestehen diese besonderen Herausforderungen? Sie erzählt von einem Gespräch einer Urgroßmutter mit ihrer Urenkelin und die beiden rechnen aus, dass die Erinnerungen, die diese Urgroßmutter an ihre Urenkelin weitergibt, von der Urenkelin dann wiederum an ihre Urenkelin weitergeben kann, wenn sie dereinst selbst zur Urgroßmutter geworden sein wird. Diese persönlichen Erinnerungen können auf diese Art über 260 Jahre erhalten bleiben und weitergegeben werden. Eine Erinnerungskultur also – Erinnerung an die Zeiten, als die Erde noch eine freundlichere Heimat war.

Diese neue und unfreundlichere Erde verstärkt das Gefühl der Solastalgie – den Schmerz über den Verlust der Heimat und des Vertrauten.

Sie schildert dieses Gefühl aus der Körperempfindung. Aus der Verbindung, die der Körper mit seiner Heimat hat – eine Verbindung mit der Erde, den Lebewesen und den Gerüchen, mit denen er aufgewachsen ist. Und dann? Keine vertrauten Vogelstimmen mehr, nicht mehr die bekannten Pflanzen und keine vertrauten sinnlichen Erfahrungen mehr. Wenn das alles weg ist, entsteht Schmerz. Und dieser Schmerz kann in eine spirituelle Krise führen, so Frau Knapp.

Wie kann uns Spiritualität in der Zukunft helfen?

Aus dieser Krise werden die nächsten Generationen durch spirituelle Praktiken herauskommen können, erwartet Frau Knapp. Sie werden sich mit der Erde rückverbinden, mehr gärtnern und die Natur achten.

Spiritualität ist nicht nur etwas Geistiges. Sie ist die Verbindung von Sichtbarem und Unsichtbarem. Zum Beispiel in der Sprache. Aus 24 Buchstaben entstehen unendlich viele Bedeutungen – ein Wort wird gesprochen oder geschrieben, sichtbar oder hörbar. Beim Leser oder Hörer entsteht unsichtbar der Sinn und die Bedeutung der Worte. Und diese Worte führen uns bis tief in unsere Körperempfindungen hinein. „Ein bestirnter Nachthimmel in einer klaren Winternacht.“ Wer verspürt nicht ein gewisses Erschauern beim Hören/Lesen dieser Worte. Die Möglichkeit der Symbolisierung ist ein quasi magisches Handeln. Es ermöglicht und erschafft die Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren.

So auch die Symbole für das, was den Einzelnen unendlich übersteigt – die Biosphäre, die Atmosphäre, die Ökosphäre. Über den Atem sind wir mit all dem verbunden. Wir sind ein Teil davon und sie ist ein Teil von uns. Das besagt bereits das Wort „Spiritualität“, denn es leitet sich von „Spiro“ Atmen ab. Im bewussten Atmen können wir uns der Kräfte bewusstwerden, zu denen wir uns verhalten müssen.

Frau Knapp differenziert zwischen Religion und Spiritualität. Sie hält Spiritualität für offener und freier. Kein Priester schreibt vor, zu wem, wann, wie gebetet oder geopfert werden soll. Die Freiheit der Spiritualität bringt natürlich Verantwortung mit sich. Die spirituelle Haltung und Praxis will gepflegt werden, was ein Pflicht mit sich bringt – nur so kann sie wirksam werden.

Spirituelle Praxis kann aus atmen bestehen, aus sitzen, tanzen oder singen. Alles, was uns hilft einen Zugang zu den uns übersteigenden Dimensionen zu finden ist möglich und am besten geht das in einer Gemeinschaft.

Eine andere Möglichkeit wäre die Beschäftigung mit Kunst jeglicher Art. Sie berichtet von ihrer Freundin, die unter chronischen Schmerzen leidet. Aber wenn sie Mozart hört und sich der Musik hingeben kann, dann verschwindet der Schmerz aus ihrem Bewusstsein.

Frau Knapp fasst die Antworten auf ihre drei Fragen noch einmal kurz zusammen. Sie erinnert an ihre Definition von Spiritualität. Daran, dass im 21. Jahrhundert überwiegend selbstbezogene Individuen übermächtigen Elementen gegenüberstehen, deren Sprache scheinbar nicht verstanden wird. Und drittens die Aufforderung, aus unserem spirituellen Autismus herauszukommen, wieder Beziehungen zum Unsichtbaren aufzunehmen und eine spirituelle Praxis, die uns liegt, aufzunehmen.

Sie ermutigt uns, die Realität wahrzunehmen, wie sie erscheint und nicht zu versuchen, sie wegzudefinieren.

Frau Knapp erhält ausdauernden Applaus, aber leider wurde der berührende Vortrag nicht aufgezeichnet.

Die Psychosomatik erkundet Systemische Therapie

Systemische Welt

Bericht vom 02.05.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Elisabeth Wagner Dr., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Lehrtherapeutin für systemische Familientherapie, Lehranstalt für Systemische Familientherapie Wien: „Wohin entwickelt sich die Systemische Therapie?“

Frau Wagner erläutert uns den roten Faden ihres Vortrags:

Kontext meiner persönlichen Erfahrung

Kontext Untersuchung der Wirksamkeit systemischer Therapie

Kontext Psychotherapieforschung – Äquivalenzparadoxon, allgemeine Wirkfaktoren

Entwicklung der Systemischen Psychotherapie – gestern – heute – morgen

Veranschaulichung des „spezifisch Systemischen“ anhand zweier Fallgespräche

Synergetik als neue Metatheorie

Persönliche Erfahrung

Wir erfahren, dass Frau Wagner Psychiaterin und Lehrtherapeutin für Systemische Therapie in Österreich ist. Dort ist die Therapielandschaft wesentlich bunter als in Deutschland und nun folgen einige spezifisch österreichische Details zu zugelassenen PT Verfahren und zur Zulassung als Psychotherapeut*in dort.

In Deutschland wurde 2008 die SysT als PT Verfahren anerkannt. Sie sieht sich folgendermaßen: „Systemische Therapie und Beratung wird als transdisziplinärer und multiprofessioneller Ansatz verstanden, womit man sich bewusst von der berufsständischen Einengung des psychotherapeutischen Professionalisierungsprozesses auf den „psychologischen Psychotherapeuten“ absetzt.“

Kontext Untersuchung der Wirksamkeit systemischer Therapie

Psychotherapie ist wirksam und in großen Studien hat sich herausgestellt, dass alle Therapieverfahren ähnlich wirksam sind. Dieser Umstand ist als Äquivalenzparadox bekannt – auch Dodo Effekt genannt (wenn alle gewonnen haben, brauchen auch alle einen Preis).

Frau Wagner plädiert dafür, dass man mit der günstigsten Therapie beginnen könnte. Das kann auch heißen, dass der am schnellsten verfügbare Therapieplatz vergeben werden kann.

Sie macht uns mit einiger Beispielen vertraut, bei denen solche Strategien sehr erfolgreich waren.

Das Äquivalenzparadoxon

Gibt es nun noch weitergehende Schlussfolgerung aus dem Äquivalenzparadoxon? Z.B. die Frage: Wohin sich die PT entwickeln sollte? Hier gibt es den Gedanken, dass sich die Psychotherapie vereinheitlichen könnte (s.u.).

Oder wäre es nicht sinnvoller, störungsspezifische PTen zu fördern. Es gibt allerdings bereits zahlreiche Störungsspezifische Ansätze für z.B. affektive Erkrankung 32 verschiedene – muss ein Therapeut die dann alle erlernen?

Frau Wagner legt Wert darauf, dass SysT keine „Störungen“ behandelt. Der „Gegenstand“ von systemischer Therapie ist das subjektive Leid und der individuelle Veränderungswunsch. Dieses subjektive Leid kann die Form einer psychiatrisch klassifizierbaren Störung annehme, muss es aber nicht.

Aktuell wird aber trotzdem versucht die Systemische Sichtweise mit Störungsspezifischer Therapie zu integrieren.

Weitere Schlussfolgerungen: Allgemeine Psychotherapie?

Der Psychotherapieforscher K. Grawe meint, dass sich Wirkfaktoren identifizieren lassen und dass unterschiedliche Schulen, unterschiedliche Wirkfaktoren nutzen. Er sieht die Zukunft so, dass alle Wirkfaktoren schulübergreifend realisiert werden sollen. Therapieschulen seien ein ohnehin überholtes Konzept.

Frau Wagner denkt allerdings, dass Multiperspektivität dem Gegenstand des Psychischen angemessen ist! Es geht vielmehr um ein adäquates Verständnis der Heterogenität von therapeutischen Blickwinkeln. Sie meint, dass psychisches Funktionieren nicht in einem Konzept umfassend darstellbar ist. Jedes Modell gibt den Blick auf gewisse Zusammenhänge frei und lässt andere im Dunkeln

Die multiperspektivische Sicht verspricht Erkenntnisgewinn gerade durch die Einnahme verschiedener Perspektiven. Der Perspektivwechsel ermöglicht es auch, die impliziten Setzungen der eigenen Methode in den Blick zu bekommen.

Es scheint also hilfreich, über den Rand der eigenen Therapierichtung hinaus zu schauen. Dann lassen sich Ähnlichkeiten der Schulen feststellen und ebenso widersprüchliche Grundannahmen und voneinander abweichende therapeutische Haltungen. Nicht alles kann dabei übersetzt werden, aber die Vorteile überwiegen doch.

Aktuelle Entwicklungen Systemischer Therapie.

Due Effekte unterschiedlicher PT-Methoden sind ähnlicher, als die ihnen zugrundeliegenden Theorien. Es müssen als auch unspezifische und allgemeine Wirkfaktoren Bedeutung haben.

Zu diesen zählen:

  • Positive Erwartungshaltung bekämpft Demoralisierung (sozial legitimierter Kontext verspricht qualifizierter Hilfe)
  • Angebot einer vertrauensvollen, emotional unterstützenden Beziehung
  • Plausibles Erklärungsschema für die Problematik und nachvollziehbares Therapierational für die Lösung
  • In Übereinstimmung mit dem Erklärungsschema und therapeutische „Rituale“, die zu neuen Einsichten, Einstellung- und Verhaltensänderungen führen

Die „allgemeinen Wirkfaktoren nach K. Grawe:

  • Klärungsperspektive
  • Bewältigungsperspektive
  • Ressourcenperspektive
  • Problemaktualisierung

Heutzutage gilt für viele Therapiemethoden, dass sie sich methodenfremder Konzepte bedienen, bzw. Techniken integrieren. Z.B. Mentalisierung für die Tiefenpsychologien oder Schematherapie in der Verhaltenstherapie. Die allgemeinen Wirkprinzipien werden also zunehmend realisiert.

Das Modell der allgemeinen Wirkfaktoren bietet sich auch als Reflexionstool an. Es ist damit möglich, Priorisierungen und Marginalisierungen einzelner Wirkfaktoren in einer Methode kritisch zu betrachten.

Es kann auch dazu dienen, die Verständigung zwischen den Therapieschulen zu erleichtern.

Sie ist allerdings nicht als „Supertherapie“, die alle anderen Therapiemethoden ablöst, gedacht, sondern als eine „Rahmentheorie“ innerhalb derer sich die verschiedenen Traditionen verorten können.

Damit wird eine gemeinsame Reflexionsbasis für mehrere Therapiemethoden geschaffen, auf der die Reflexion konkreter therapeutischer Prozesse stattfinden kann.

Geschichte des Systemischen Therapie(n)

Wir erfahren, dass es die „Systemische Therapie“ nicht gibt. Es gibt „Keine einheitliche, inhaltlich konsistente Arbeitsphilosophie, sondern eine Vielzahl von Konzepten und theoretischen Modellen, die gemeinsame Grundorientierungen und -haltungen aufweisen.“ Und: Zwischen den einzelnen systemischen Konzepten bestehen teilweise theoretische Unvereinbarkeiten.

Das gilt aber ebenso für psychodynamische Ansätze und für die Verhaltenstherapie, die sich ebenfalls zu sehr unterschiedlichen Verfahren ausdifferenziert haben.

Die Entwicklungsgeschichte der SysT beginnt mit z.B. mit Virginia Satir und der Einführung des Systembegriffs. Sie setzt sich mit dem Prinzip der Zirkularität von kommunikativen Prozessen fort. Konzepte der Kybernetik und Feedbackschleifen werden kommunikativ begründet.

Dann kam es zur „Konstruktivistischen Wende“. Begriffe wie „Nicht-Instruierbarkeit“ oder „bescheidene Expertenschaft werden eingeführt. Die soziale Systemtheorie von Luhmann wird berücksichtigt.

Diese Entwicklung führte dazu, dass das Theoretisieren über psychische Prozesse lieber vermieden wird. Alles, was bei Forschungen dieser Richtung herauskommen kann, sagt mehr über die Forschung aus, als über das Beforschte.

Was ist das Spezifische an zeitgenössischer SysT?

Sie ist wesentlich an der Lebenswelt orientiert. Es geht also um die Unterstützung bei der konstruktiven Auseinandersetzung mit anstehenden Lebensproblemen. Dabei werden nach Möglichkeit wichtige Andere mit einbezogen. Die Therapie ist ziel- und zukunftsorientiert. Sie richtet sich nach dem Auftrag der Patient*innen und verwendet möglichst deren schon vorhandenen Ressourcen. Dabei ist die Grundhaltung veränderungsoptimistisch geprägt. Die Bearbeitung belastender biographischer Erfahrungen tritt in den Hintergrund.

Frau Wagner schildert uns nun zwei Fallvignetten, die diese Aspekte gut illustrieren und im Anschluss bekommen wir noch einen Buchtipp für Angehörige psychische erkrankter Menschen „Psychische Störungen verstehen“ von Elisabeth Wagner

Synergetik als neue Metatheorie?

Für den Ausblick in die Zukunft nutzt Frau Wagner die Theorie nicht-linearer dynamischer Systeme. Dieser kompliziert klingende Begriff kommt aus der Theorie der Selbstorganisation. Diese ihrerseits soll erklären helfen, wie überhaupt etwas entstehen kann. In komplexen Systemen kann spontan Ordnung entstehen. Dieses Phänomen kann nun auf psychisches Erleben angewandt werden. Unser biologisches Da-Sein ist derart komplex, dass sich daraus eben psychische Erleben spontan ergeben kann.

Dieses kybernetisch-systemische Sichtweise hat Konsequenzen. So ist damit die Zukunft nicht voraussagbar und die Vergangenheit lässt sich aus der Gegenwart nicht erschließen. Ähnliche Ursachen können unterschiedliche Wirkungen haben und unterschiedliche Ursachen können ähnliche Wirkung haben.

Das ist der Preis, der für das Verlassen der kausalen Perspektive zu bezahlen ist.

Das liegt auch daran, dass Systemtheorie mit Psychotherapie zunächst nichts zu tun hat. Sie wurde in und für die Biologie, Chemie, Physik und Soziologie entwickelt. Sie ist eine Perspektive, die auf die Beziehungen schaut und dabei die verbundenen Elemente wenig berücksichtigt.

Aus dieser Tradition wird versucht, psychische Prozesse unter der Perspektive der Selbstorganisation zu verstehen. Psychische Vorgänge sind affektiv – kognitive Prozesse, eine Abfolge von sich wiederholenden bzw. sich selbst organisierenden Operationen.

Durch Aufschaukelungen und Feedbackschleifen können sich über diese Wechselwirkungen hoch dysfunktionale psychosoziale Muster ergeben, ohne dass dies auf eine bestimmte eindeutig zuordenbare Ursache zurückzuführen ist.

Probleme (psychische Störungen etc.) entstehen nicht als Folge von eindeutig identifizierbaren „Ursachen“ sondern als Resultat vielfältiger zirkulärer Prozesse in biologischen, psychischen und sozialen Systemen.

Dazu gibt es ein Gedankenexperiment von Gregory Bateson. Ein Kind hasst Spinat. Seine Mutter glaubt aber, dass Spinat sehr gesund ist. Nun verspricht sie dem Kind ein Eis als Belohnung fürs Spinatessen. Frage: Was müssten sie über dieses System wissen, damit sie vorhersagen können, dass das Kind später: Spinat lieben oder hassen wird, Eis lieben oder hassen wird und seine Mutter lieben oder hassen wird?

Nicht-Instruierbarkeit

Mit diesem Begriff wird ausgesagt, dass sich selbstorganisierende Systeme nicht vorhersehbar von außen beeinflussen lassen, also auch nicht psychische Systeme.

Das Ergebnis von Selbstorganisationsprozessen ist nur zum Teil ereignisabhängig, denn Ereignisse hinterlassen keinen „neuronalen Fußabdruck“. Erleben ist nicht zufällig, aber auch nicht determiniert durch Ereignisse.

Eine Bahnung vollzieht sich im Hinblick auf das Erleben nicht auf die Ereignisse. Psychische Störungen können als Reproduktion problematischer Zustände verstanden werden. Damit ist die Vergangenheit nicht Ursache sondern die Wiederholung ist die Ursache.

Es scheint dann sinnvoller auf die mit der „Erlebnisverarbeitung“ assoziierten psychischen Prozesse zu schauen und weniger auf Erlebnisse an sich. Welche Muster der Selbstorganisation haben sich im psychischen System etabliert?

Das ist gar nicht so verschieden von anderen Perspektiven, in denen ähnliche Überlegungen angestellt werden. Z.B.:

Psychodynamische Therapie: Abwehrmechanismen, Strukturelle Beeinträchtigungen

Oder Verhaltenstherapie: dysfunktionale Überzeugungen, problematische Denkstile, Schemakonformes, schemavermeidendes oder überkompensierendes Verhalten

Systemische Therapie: Aufmerksamkeitsfokussierung, Ressourcenaktivierung, „Problemgesättigte Narrative“, dysfunktionale FDV-Programme

Ein sehr dichter und inhaltvoller Vortrag ist zu Ende – ich fand ihn sehr bereichernd.

Hier geht’s zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet die Schematherapie

Illustration des Therapieeffekts

Bericht vom 09.05.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Eckhard Roediger Dr., Leiter des Instituts für Schematherapie, Frankfurt am Main: „Neue Entwicklungen in der Schematherapie: Die Einbeziehung der metakognitiven Perspektive und des Körpers“

Herr Roediger stellt uns die Struktur seines Beitrags vor:

  1. Empirie
  2. Konzeptuelle Veränderungen
  3. Praktische Demonstration

Einleitung

Wir erfahren zunächst, dass Schematherapie keine eigenständige Methode ist, sondern eine Spezialtherapie für Persönlichkeitsstörungen, also für Menschen, die in Interaktionen eher unflexibel sind und Schwierigkeiten haben, sich anzupassen.

Schematherapie (ST) ist eine der vier anerkannten Borderline-Therapien. Die anderen sind: Die Übertragungsfokussierte Therapie, die Mentalisierungsbasierte PT und die Dialektisch-Behaviorale PT.

Die Studienlage

Die Schematherapie wirkt, wenn die Therapeut*innen die Techniken richtig anwenden. Das bedeutet, dass Nachschulungen in der spezifischen Technik, den Outcome der Therapie erhöhen. Schematherapie ist zudem nicht Borderline spezifisch sondern im ganzen Spektrum (Cluster A, B, C) der Persönlichkeitsstörungen wirksam.

Vergleichsstudien, die ST mit anderen Therapiemethoden für die Borderline PS verglichen haben, ergeben ein sehr positives Bild für die ST.

ST weist in diesen Studien geringere Drop-Out Raten und bessere Follow-Up Effekte als alle anderen Therapieverfahren auf. Außerdem erreichen erfolgreiche Patient*innen eine höhere Lebenszufriedenheit als Patient*innen, die mit anderen Therapien ebenfalls erfolgreich behandelt worden sind. Die positiven Effekte der Therapie stiegen sogar mit der Zeit an.

Weitere Vergleichsstudien von Therapien z.B. als kombinierte Gruppen- und Einzeltherapie und Paartherapie erbrachten ähnliche Ergebnisse.

Herr Roediger denkt, dass insbesondere die Imagination als zentrale Technik der ST dies begünstigt. Auch das Einüben von „Self-Compassion“ (Selbst-Mitgefühl) trägt zu dem Ergebnis bei und die Fähigkeit zur Meta-Kognition gehört für ihn ebenso dazu. Die Klienten Erleben, Erklären und Erzählen dann neu.

Konzeptuelle Entwicklungen

Historisch kann man drei Stufen der ST identifizieren. Vor dreißig Jahren entwickelte Jeffrey Young einen ersten Ansatz. Er beschrieb bereits die Schemata – man könnte diese als komplexe Reiz-Reaktionsmuster verstehen, für die ein bestimmtes Bewältigungsmuster entwickelt wurde – ein Modus des Umgangs.

Ein zweiter Ansatz kann auf Arntz/Jacob zurückgeführt werden. Darin werden die Umgangsmodi als „Teil-Selbst“ betrachtet. Es gibt darin eher wenig Schema Bezug und wird als Therapie für maladaptives Verhalten verwendet.

Was Herr Roediger uns heute vorstellt, ist der zeitgenössischer Ansatz. Es geht um eine kontextuelle und prozessbasierte Schematherapie, die sich einer modernen Begrifflichkeit bedient.

Dieser aktuelle Ansatz vereint das unmittelbare Körpererleben mit der Imagination. Dadurch wird das episodische Gedächtnis erreicht und man umgeht so die Narrationen (Erzählungen), die darum herum konstruiert wurde.

Zentrale Elemente der Schematherapie

Das Therapiemodell der ST dient als Grundlage für die Fallkonzeption und Therapieplanung. Es soll möglichst einfach und anschlussfähig sein.

Die spezifische therapeutische Beziehung orientiert sich an der Eltern-Kind-Beziehung. So kann sich eine hohe emotionale Dynamik im Beziehungsfeld entwickeln und das Ziel der Nachbeelterung kommt eher in Reichweite.

Die zeitgenössische ST verwendet erlebnisaktivierende Techniken, die durch Imagination das emotionale Erleben von kritischen Dialogen eindrücklich reinszenieren. Die Episode wird emotional nacherlebt und in der erwachsenen Position aufgelöst und dekonstruiert.

Einfaches Therapiemodell

Das heutige Erscheinungsbild der Klient*innen ist geformt von kindlicher Erfahrung. Es ist der Schmerz des Kindes, dessen Bindungs- und/oder Autonomiebedürfnis frustriert wurde. Diese Erfahrung brennt sich tief ein. Das verletze Bindungsbedürfnis wird als Verletzlichkeit und Abhängigkeit von Anderen verinnerlicht. Die Beeinträchtigung der Autonomieentwicklung führt zu Selbstverständnis als inkompetenter Versager.  

Bindung und Autonomie betrachtet Herr Roediger als die fundamentalen Pole der Persönlichkeit. Die frühen Erfahrungen bilden Schemata, die sich in Situationen, die Bindungs- oder autonomierelevant sind, aktivieren.

Die erste Komponente des aktivierten Schemas macht sich als Basisemotion (Angst, Trauer) körperlich bemerkbar. Der bevorzugte Ort dafür ist im Bauch- und Brustbereich. Die sozialen Gefühle wie Schuld, Verachtung oder Scham werden eher im Hals, Brust oder Kopfbereich wahrgenommen.

Nun kommt eine zweite Komponente ins Spiel. Diese ist der „Innere Kritiker“ (die Stimme im Kopf), der sich aus den übernommenen Bewertungen anderer geformt hat. Sätze wie: „Du taugst halt nichts.“ Können hier auftauchen.

Diese beiden Komponenten stehen inkonsistent und unvereinbar nebeneinander. Sie spielen auf der „hinteren Bühne“, die von außen nicht sichtbar ist. Äußerlich sichtbar ist die soziale Rolle, welche die „bisher beste Lösung“ dieses Schemas darstellt. Nicht selten weist diese bereits klinische Symptome auf.

In der Therapie wird nun ein Stuhl angeboten, auf dem die Basisemotion erlebt werden kann. Auf einem anderen Stuhl kann dann der innere Kritiker seine Bewertungen abgeben. Nun kommt aber ein aktueller und kompetenter Erwachsener (Beobachterperspektive) hinzu, der hilft, diese Bewertungen zu überprüfen und zu überarbeiten.

Die Beobachterposition ist auch der Ort der Metakognitionen – des Nachdenkens über das Denken. Von dort aus ist es in aller Regel leicht, den Kritiker zu verurteilen und wegzuschicken. Ebenfalls aus dieser Position wird das Kind-Erleben getröstet und verstanden. Die Emotionen des Kindes werden angenommen und verstanden.

Schematheorie

Die Übersicht über das Spektrum verschiedener Schemata wurde aus dem berühmten „Still-Face Experiment“ von Tronnick abgeleitet. Darin lassen sich gut die verschiedenen Strategien erkennen, die so manchen Mitmenschen noch im Erwachsenenalter Probleme bereiten. Es geht um das Kontinuum von Ängstlichkeit, Unterwerfung für die Regulation der Bindungsorientierung vs. Ärger, Externalisierung für die Regulation der Autonomie.

Daraus ergeben sich vier Lösungsversuche: Unterordnung/Aufopferung – Passive Gefühlsvermeidung (Erstarrung) – Aktive Selbstberuhigung (Flucht) – Überkompensation/Dominanz (Kampf)

Diese Lösungsversuche lassen sich auf mit der Polyvagal Theorie von Steven Porges erklären. Der Sympathikus aktiviert die Flucht/Kampf Seite, der dorsale Vagus die Unterordnung und Erstarrung und der ventrale Vagus erlaubt den angemessenen erwachsenen Umgang mit den Herausforderungen.

Um den erwachsenen Umgang mit Herausforderungen zu stärken, hilft es, sich in Achtsamkeit zu üben. Die Fähigkeit zu schulen, Abstand zu automatischen Gedanken und Bewertungen herstellen zu können.

Damit zusammen hängen auch solche Fragen wie: Wo will ich hin? Was sind meine Werte und Bedürfnisse? Darüber nachzudenken und uns evtl. mit anderen auszutauschen fördert einen konstruktiven Lebensstil und erleichtert es, das Spannungsfeld von Selbstbehauptung und Bindungsorientierung auszubalancieren.

Man kann dies auch einen offenen Stil nennen: offen wahrnehmen, zentriert neubewerten, engagiert handeln.

Die Praxis

Für die praktische Anwendung genügen zwei Stühle. Der eine ist für die konfrontierende Position. Auf dieser wird das Schema aktiviert. Es kann vom inneren Kritiker, einem Täter, Stellvertreter, Therapeut besetzt werden.

Der zweite Stuhl ist für die imaginative Position. Hier wird mit geschlossenen Augen die Szene imaginiert und die Gefühle des Körpers wahrgenommen. Diese Position wird vom Therapeuten betreut und fürsorglich unterstützt. Der Therapeut bereitet mit seinem Verständnis die Fähigkeit zum Selbst-Mitgefühl vor.

Dann geht es in die Beobachterrolle. Das ist der erwachsene und kompetente Mensch, der (meist mit offenen Augen) die Szene beobachtet und neu bewerten kann. Mitgefühl für das Kind empfindet und Ärger auf Täter und Kritiker. Diese Wertungen sind tief in unserer Menschlichkeit verankert und zuverlässig abzurufen.

Zum Abschluss demonstriert Herr Roediger das Vorgehen mit einer Freiwilligen. Das wirkt natürlich etwas künstlich, ist aber dennoch sehr eindrucksvoll. Die Struktur des Vorgehens ähnelt sich in allen Stunden.

Ich fand dies einen sehr gut gehaltenen und interessanten Vortrag, der mir viel Inspiration geschenkt hat.

Hier geht’s zum Vortrag:

Die Psychosomatik erkundet Synchronisation

Resonanz und Schwingung

Bericht vom 24.01.23 Kolloquium „Seele – Körper – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg: Prof. Dr. Claas Lahmann, und der Leiter des Aus- und Weiterbildungsinstitutes an der Klinik für Psychosomatik, Prof. Dr. Carl Scheidt, einen gemeinsamen Vortrag mit dem Titel: „Wie Du mir, so ich mit Dir. Synchronisierung in Psychotherapie und Interaktion“

1. Einleitung und Formen der Synchronie

Zur Einführung ins Thema bekommen wir Beispiele für Synchronisationen gezeigt – eine marschierende Armee, Sportler, die gleichzeitig dieselben Bewegungen ausführen, ein Vogelschwarm oder den Sprecher eines Politikers, der dessen Rede mit denselben Gesten nachvollzieht. 

Wo kommt Synchronisation vor? Wir können zeitgenössisch Roboter sehen, die sich im Gleichklang bewegen. In der Psychologie und Soziologie ist das Phänomen schon länger bekannt und beforscht. Neuerdings gibt es auch Befunde aus der Neuro-Biologie, dass z. B. die Herzraten von verwandten Menschen sich angleichen. Dabei sind mehrere Personen beteiligt. Die zwei-Personen Varianten sind aus Psychologie und Psychotherapie bekannt und eine empfundene Synchronisation kann auch ein einzelner Mensch haben, der sich als Teil einer Gruppe empfindet.

Versuche einer Definition

Synchronie ist die dynamische und wechselseitige Anpassung der zeitlichen Struktur von Verhaltensweisen zwischen Interaktionspartnern. Im Gegensatz zu Spiegelung oder Mimikry ist Synchronie dynamisch in dem Sinne, dass das wichtige Element das Timing ist und nicht die Art der Verhaltensweisen.

Der synchrone Zustand nonverbaler Konfigurationen und Rhythmen spiegelt die Wechselseitigkeit von Aufmerksamkeit, Interesse und Resonanz sowie die wahrgenommene relationale ‚Entitativität‘ wieder, also das Gefühl, in einer stabilen kommunikativen Beziehung vereint zu sein.

Verwandte Begriffe

Aus dem Bereich des „sozialen Lernens“ sind die Begriffe Mimikry, Mirroring und Imitation bekannt. Dazu zählt auch Empathie, also einfühlendes Verstehen.

Gerade für das Teilen von emotionalen Erfahrungen gibt es die Begriffe von „affektivem Attunement“ und affektive Resonanz. Zur Resonanz hat auch Hartmut Rosa ein bemerkenswertes Buch geschrieben.

Aus der Linguistik kommen die Begriffe der Entitativität (gefühlte Gruppenzugehörigkeit), Alignment und Accomodation.

Das Phänomen von Synchronisation wird also auf den verschiedensten Feldern vorgefunden und erforscht.

Wer synchronisiert sich mit wem?

Ich kann mich mit mir selbst synchronisieren, wenn ich z. B. beim Reden ausschmückende und rhythmische Gesten vollziehe. Häufiger ist die Synchronisation mit anderen bzw. eine interaktive Synchronisation.

Synchronisation kann reziprok und absichtlich initiiert werden, sie kann auch von einer Person unilateral initiiert sein oder orchestral durch einen äußeren Schrittgeber.

Synchronie und Psychotherapie – 5 generelle Kriterien

  1. Kontext
  2. Modalität – unimodal, multimodal, transmodal
  3. Ressourcen – spezifischere Aspekte des Ausdrucksverhaltens
  4. Entrainment – reziprok, unilateral, orchestral
  5. Zeitverzögerung – perfekt synchron, synchron mit Zeitverzögerung, Konvergenz und Adaption

Der Kontext beschreibt, wo die Erfahrung stattfindet – auf dem Sportplatz oder im Therapiezimmer. Die Modalität beschreibt die Mittel mit denen synchrones Handeln ausgeführt wird – nur Bewegung, Bewegung plus Stimme, Bewegung plus Stimme plus Tonhöhenanstieg. Die Ressourcen beschreiben den Umfang und die Möglichkeiten von Stimme oder Bewegung. Das Entrainment beschreibt von wem die Angleichung ausgeht. Die Zeitverzögerung markiert den Grad der Synchronität.

Anhand dieser Kriterien lässt sich nun wunderbar Forschung betreiben. Mit mehr oder weniger ausführlichen Notationen lassen sich Szenen von Synchronie notieren. Zu den Ergebnissen wird am Ende etwas gesagt.

2.Funktionen der Synchronie

Im Rahmen der Evolution hat die Synchronie sicher dazu beigetragen, dass Menschen ihr Verhalten koordiniert und so auch kooperiert haben. Für die individuelle Entwicklung sind die Imitation und die Resonanz ganz wesentlich für das soziale Lernen. Und in Interaktionen mit den Mitmenschen ermöglicht Synchronie das Teilen von Affekten und Bedeutungen. Dies ist besonders spannend, da es häufig spontan geschieht.

Effekte und Funktionen von Synchronisation in der Interaktion. Herstellen, Abstimmen und Enkodieren von Bedeutungen (Alignment) – führt zum Teilen von Affektzuständen – führt zur Synchronisation – führt zum Alignment etc.

Synchronisation und prosoziales Verhalten

Interpersonale Synchronisation erleichtert und fördert:

Emotionale Ansteckung, die Neigung zu kommunizieren, Empathie und die Verwischung von Selbst- Objekt Grenzen.

Interpersonales Lernen und Beziehungen aufnehmen und führen erlernen wir im frühen Lebensalter. Dieser Prozess lässt sich in vier Stufen unterscheiden:

Hierarchie soziale Interaktionen

Modus 1 – Miteinander tun

Nicht-reflexives vorsymbolisches Verhalten, wechselseitige Regulierung. Keine strukturierte Vorstellung von Selbst und Anderem

Modus 2 – Geteiltes Erleben

Erleben intensiver Gefühlszustände über durchlässige Grenzen hinweg. Affektresonanz.

Modus 3 – Konfigurationen des „Selbst-mit-dem-Anderen“

Der Andere hat eine eigenständige symbolische Repräsentanz, aber nur unter dem Aspekt bestimmter Funktionen (des Spiegelns, der Erregung, der Befriedigung)

Modus 4 – Wechselseitige Ankerkennung selbst-reflexiver eigenständiger Personen

Der Andere als eigenständiges Subjekt mit eigenständigen Motivationen. Mentalisierung

Synchronisation in der (ontogenetischen) Entwicklung

Grundlage von Synchronisationsphänomenen in der Entwicklung ist (auf Seiten des Kindes) die Imitation.

Imitation ist im frühen Kindesalter die wichtigste Form sozialen Lernens und der symbolischen Kommunikation.

Im Zuge der kognitiven und sozio-emotionalen Entwicklung kommt es durch die entwicklungsangepasste Resonanz der Bindungspersonen zu einer Differenzierung der Synchronisation (Variation der Modalitäten, des Rhythmus etc.)

Synchronisation in der evolutionsbiologischen Perspektive

Evolutionsbiologisch gehört Sync in den Kontext der Entwicklung kooperativen Verhaltens.

Die Ausdifferenzierung sozialen Verhaltens ist DAS zentrale Projekt der Menschheitsgeschichte.

Kooperation umfasst:

  • Verstehen von Handlungsabsichten
  • Teilen und Abstimmen von Handlungsabsichten
  • Kommunikative Aushandlung und Koordination von Handlungen und Handlungsintentionen

Bereits Primaten erkennen und verstehen die Handlungsabsichten ihrer Artgenossen.

Aber nur Menschebn teilen, stimmen sich ab und koordinieren sich kommunikativ über ihre Intentionen und Handlungen.

Die Synchronisation ist wie Schmieröl für die Koordination zwischen Menschen, die gemeinsam etwas erledigen wollen.

3. Theorien der Erklärung

Wie „funktioniert“ Sync?

Es gibt dazu das schon ältere Kognitionspsychologische (repräsentationales) Modell (Paradigma der Wahrnehmungspsychologie, die sog. AIM-Hypothese.

AIM = active intermodal mapping

Diese ist etwas aus der Mode gekommen, weil sie mehr Fragen offenlässt als beantwortet.

Aktueller und plausibler erscheint das Enactivismus Paradigma der sozialen Kognition (participatory sense making, Interaktion)

Es ist:

  • Antimentalistisch (embodied)
  • Anti-individualistisch (embedded)
  • Betonung der „Zwischenleiblichkeit“ (extended)
  • Nicht rein perzeptiv (enactive)

Synchronisationsphänomene sind prototypische Beispiele für soziale Kognition. Sie sind körperlich, eingebettet in soziale Interaktion, zwischenleiblich und mit Handlungen verbunden. Mehr dazu gibt es in diesem Beitrag

4. Synchronie in der Psychotherapie

Es gibt ca. 1 Million körperliche Signale in einer einzigen Therapiesitzung. Zu dieser erstaunlichen Zahl nun noch ein Zitat von Sigmund Freud:

„Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeugt sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen: aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewusst zu machen, sehr wohl lösbar.“

Es ist also sehr vielversprechend diese Dimension zu erforschen.

Die Mittel und Wege der Forschung sind zahlreich und komplex. Letztlich werden viele Stunden Filmmaterial betrachtet und ausgewertet und zwar anhand folgender Kriterien.

Synchronie und Psychotherapie – was messen wir?

Bewegung bzw. nicht-sprachliche Äußerungen

Korreliert mit dem Outcome der Stunde, wenn Synchronie hoch ist.

Sprachliche Äußerungen

Physiologische Parameter – Herz- Atemfrequenz etc.

Korreliert mit der psychotherapeutischen Allianz wenn die Synchronie hoch ist.

Erste Befunde

Synchrone Rumpfbewegungen > Stundenergebnis

Synchrone Kopfbewegungen > Therapieergebnis

Der Affektausdruck ist verringert bei Depression

Eine geringe non-verbale Synchronie ist Prädiktor für Abbrüche.


Es gibt allerdings auch gegenläufige Befunde z. B. führt eine anfangs geringere interpersonale Synchronie zu einer rascheren Therapie Antwort und höheren Stabilität der Erfolge.

Bei höherer vokaler Synchronie wurde ein schlechterer Outcome beobachtet.

Synchronisation ist:

ein wichtiger Faktor für die Herstellung einer therapeutischen Beziehung

eine wichtige Form der Gestaltung des nonverbalen Ausdrucks

und führt bei Gelingen zum Teilen von Affektzuständen.

5.Fazit und Forschungsperspektiven

Dieser letzte Teil fällt sehr kurz aus. Es werden einfach nur die laufenden Forschungsprojekte genannt. Das wären:

  • Synchronisation in der Körperpsychotherapie
  • Synchronisation in der Video-Conferencing Psychotherapy
  • Schweigen in der therapeutischen Interaktion
  • Interaktive Synchronisation bei psychischen Störungen (Autismus, Depression, Anorexie)
  • Film synchrone Gruppe

Ich fand den Vortrag sehr informativ und kurzweilig. Das Format mit zwei Rednern gefällt mir gut.

Hier gehts zum Vortrag