Dimensionen der Selbstwahrnehmung in der Körperpsychotherapie

Selbstwahrnehmung als Mittel der Körperpsychotherapie

Eugene Gendlin, der Begründer des „Focussing“ hat erforscht, welche Merkmale Patienten aufweisen, die von einer Psychotherapie profitieren konnten. Sein Ergebnis war, dass es Menschen waren, die ihre Körpersignale differenziert wahrnehmen und für sich verwenden können. Damit lenkte er die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Psychotherapie auf die Selbstwahrnehmung, insbesondere auf die des Körpers.

Körperwahrnehmung und Ich-Struktur

Heute ist die Selbstwahrnehmung ein Aspekt (von sechs) der sogenannten „Ich-Struktur“, die im Diagnosemanual der „Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik“ (OPD) verwendet wird. Die sog. „Struktur Achse“ im OPD wurde maßgeblich von Gerd Rudolf mitentwickelt. Er definiert (Ich)Struktur so: „Struktur ist definiert als die Verfügbarkeit über psychische Funktionen, welche für die Organisation des Selbst und seine Beziehungen zu den inneren und äußeren Objekten erforderlich sind.“
Das Selbst versteht sich hier als das „Ich“, welches sich selbst betrachtet, selbst wahrnimmt und bewertet, und so zum „Selbst“ wird. Das „Ich“ wiederum kann als zentrale Organisation des psychischen Erlebens verstanden werden, das sich auch nach außen orientiert und handelt.

Damit erweitert sich die Selbstwahrnehmung über die Körperlichkeit hinaus. Es geht um die Fähigkeiten zur Selbstreflexion, zur Schaffung eines Selbstbilds, dem Aufrechterhalten einer Identität, um die Fähigkeit der Gefühlsunterscheidung und um das Körperselbst.

Die Körperpsychotherapie folgt schon lange der Spur von Freuds Ausspruch: „Das Ich ist in erster Linie ein körperliches.“ Die KPT verfolgte diese Spur bis in die frühen Entwicklungsphasen des Ichs sogar bis in die vorgeburtliche Zeit zurück. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie sich die Körperstruktur in den Beziehungserfahrungen entwickelt und welche charakteristischen psychischen Merkmale daraus entstehen.

Entwicklung der Körperlichkeit

Dieses Vorgehen wurde auch in der Theorie der Strukturentwicklung gewählt. Die Bedürfnissituation des Kindes ist bei Rudolf – Nähe und Kommunikation während der ersten drei Lebensmonate (nachgeburtlich), Bindung während des ersten und zweiten Lebensjahres, Autonomie im dritten und vierten Lebensjahr, und Identität während des fünften und sechsten Lebensjahres.

Kinder machen während ihres Heranwachsens Erfahrungen mit ihren Eltern. Ihre Bedürfnisse nach Nähe und Kommunikation, nach Bindung, Autonomie und Identität werden mehr oder weniger passend beantwortet. Den Kindern bleibt keine andere Wahl, als sich an diese Angebote anzupassen. Abgesehen von genetischen Anlagen formen diese Erfahrungen die Ich-Struktur, bzw. die strukturellen Fähigkeiten.

Frustrierte Bedürfnisse fühlen sich frustrierend an – schmerzlich, ärgerlich, traurig usf. Da die Bedürfnisse nicht benannt werden können, ist es schwierig, sie einzufordern. Da die Eltern die Bedürfnisse nicht erkennen, werden sie auf die geäußerten Gefühle mit Unverständnis reagieren, was die Frustration noch erhöht. Den meisten Kindern bleibt keine andere Wahl, als ihre Gefühle zu verstecken und zu lernen, sie zu ignorieren. Damit schränken sie allerdings ihre Selbstwahrnehmung erheblich ein.

Der Preis der Abwehrmanöver

Dass abgewehrte Gefühle, ja Abwehrmechanismen überhaupt, auch einen körperlichen Aspekt besitzen hat schon Wilhelm Reich aufgedeckt. Diese körperlichen Möglichkeiten sind vegetativ und/oder muskulär, teils autonom und teils willentlich. Als erfolgreiche Möglichkeit, sich der schlechten Gefühle zu entledigen, werden sie in das Selbstsystem fest eingebaut. Sie werden zur Gewohnheit, zur Routine und erscheinen im Lauf der Zeit als charakteristisch für die Person.

Jeder dieser körperlichen Aspekte der Abwehr hat auch emotionale und mentale Aspekte. Die Gefühle werden in diesem Bereich unklar, undifferenziert oder unangemessen – sie können nicht mehr handlungsleitend sein. Zu vielen dieser Aspekte gibt es Skriptsätze, Überzeugungen, die erklären, warum dieser Umgang mit einer Situation der einzig richtige sein muss.

Therapeutische Möglichkeiten der KPT

Die KPT hat mehrere Möglichkeiten entwickelt, wie sich ein Zugang zu neuen Körpererfahrungen herstellen lässt, bzw. wie mit Hilfe des Körperselbst die anderen Aspekte der Ich-Struktur gestärkt werden können.

Körperreisen führen die Aufmerksamkeit in verschiedene Körperbereiche. Beginnend mit Körperzonen – die Arme, die Brust, die Beine etc. lassen sich diese Reisen nach und nach vertiefen und differenzieren – der Beugemuskel des Arms, das Ellbogengelenk, die Rippen etc. Es ist sogar möglich mit der Achtsamkeit verschiedene Gewebe zu unterscheiden – Muskeln, Gefäße, Nerven, Knochen usw.

Angeleitete Bewegungen achtsam begleiten. Hier bekommen Klient*innen z.B. die Anweisung, ihre Hand zur Faust zu ballen und diese wieder zu lösen. Die verschiedenen Qualitäten von Anspannung und Entspannung, Beugung und Streckung, Schließung und Öffnung, Aktivität und Passivität sowie die Pulsation lassen sich auf sehr viele Kontexte ausweiten.

Berührungen vermitteln Körperempfindungen im Kontakt. So können Kontakt Qualitäten von Intensität, Geschwindigkeit, Richtung, Rhythmik erfahren und erforscht werden.
Interaktionen wie Tauziehen, Rücken an Rücken gegeneinander schieben, halten oder gehalten werden u.v.m. bringen Erfahrungen von Kraft in Kontakt, Erlebnisse von mitmenschlichem Halt und Zuverlässigkeit.

Behandlungen verschiedenster Art vermitteln neben der spezifischen Behandlungsabsicht die Erfahrung von einfühlsamer mitmenschlicher Interaktion.

Im Austausch über die Erfahrungen lassen sich Stimmungen und Gefühle identifizieren, die das Selbstbild der Klient*innen bereichern und nuancenreicher machen. Die Verbindung von aktiver Bewegung mit Emotionen unterstützt die differenzierte Wahrnehmung der Gefühle. Das Gespräch unterstützt auch die Reflexionsfähigkeiten und erweitert sie sogar. Alle diese Aspekte unterstützen auch den therapeutischen Prozess im Ganzen, der zu einer klareren Identität führt.

Die Psychosomatik macht einen Ausflug in die Medienwissenschaft

Medienwissenschaft und Psychologie

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 26.06.18
Von Prof. Bernhard Pörksen „Die neue Macht der Lüge. Meinungsbildung und Desinformation im digitalen Zeitalter“

Herr Pörksen spricht frei, ohne Powerpoint und mit nur wenigen Stichwortzetteln in der Hand. Er führt uns mit einer kleinen Geschichte ins Thema ein. Es ist die Geschichte eines amerikanischen Radioreporters, der vor allem durch seine Verschwörungstheorien, die Leugnung des Klimawandels und seine Anhängerschaft zu D. Trump bekannt ist. Als 2017 der Hurrikan „Irma“ Kurs auf Florida nahm, erklärte er das zu einer Fake-News. Er blieb in seinem Studio sitzen und man weiß nicht genau, was ihm zugestoßen ist. Allerdings musste er eine Zeit lang seine Sendung aussetzen, was er auf geheime Maßnahmen zurückführte. Mit diesem „Superlativ von Seltsamkeit“ führt uns Herr Pörksen zu der Frage, was Realität eigentlich sei. Diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Letztlich wäre der Satz: „Realität ist das, was nicht verschwindet, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Die wohl beste Näherung an eine Definition.

Postfaktisches Zeitalter?

Angeblich, so Herr Pörksen weiter, leben wir im „Postfaktischen Zeitalter“. Er bekundet seine Skepsis gegen diese Benennung. Zum Ersten wechseln Zeit-Diagnosen recht schnell, und so bleibt es für ihn fraglich, ob diese Bezeichnung treffend sein kann. Zum Zweiten suggeriert diese Benennung, dass es einmal ein „Faktisches Zeitalter“ gegeben hätte. Aber wann soll das gewesen sein? Die Politik war schon immer ein Pfuhl von Lüge und Propaganda. Zum Dritten empfindet er den Ausdruck als resignativ – es ist eh zu spät, wir können nichts mehr ändern.
Also möchte uns Herr Pörksen eine tiefergehende Zeitdiagnose anbieten, die auch „Ambivalenz fähiger“ sein soll. Er benennt die Ausgangslage als eine „tektonische Verschiebung der Informationsarchitektur“ – Boden und Wände wackeln also tüchtig – wie ist es dazu gekommen?

  1. Neue Verbreitungstechniken – z.B. gefälschte E-Mails, die als Massensendungen an unzählige Empfänger versendet werden und deren Lügen fast nicht mehr aus der Welt zu bringen sind.
  2. Neue Sichtbarkeit – zum heutigen Zeitpunkt gibt es bereits ca. 3 Milliarden Smartphones. In der Öffentlichkeit ist also quasi immer jemand mit einer Kamera dazu bereit, das nächstbeste Filmchen von wem auch immer zu drehen und sofort ins Netz zu stellen.
  3. Neue Manipulationsanfälligkeit der Öffentlichkeit – einerseits gibt es mehr Möglichkeiten für alle, Informationen bereit zu stellen, aber das erhöht auch die Möglichkeiten, Fälschungen zu verbreiten, die mitunter schwer als solche zu durchschauen sind.
  4. Neue Anreize – die Netzgemeinschaft steht auf Hypes, auf Extrem und auf Zuspitzungen. Die Klickraten werden gemessen und Marktakteure springen auf Trends auf und erhöhen so noch die Aufmerksamkeit.
  5. Neue Ungewissheit – die Flut von Informationen steigt immer höher, aber anstatt, dass uns das mehr Mündigkeit verleiht verunsichert dieses Zuviel viele Menschen.
  6. Neue Geschwindigkeit – dank Smartphones und Internet erleben wir weit entferntes quasi in Echtzeit. Das journalistische Spannungsfeld von „Schnelligkeit“ vs. „Genauigkeit“ kommt zugunsten der ersteren in ein Ungleichgewicht.

Was also tun?

Herr Pörksen referiert uns diese Punkte mit zahlreichen Beispielen. Was soll man nun von dieser Diagnose halten? Sich selbst erlebt der Vortragende zwischen den Polen von Apokalyptik und Euphorie wechselnd – zum Fatalismus neigt er nicht. Was kann getan werden, um mit diesen Verschiebungen fertig zu werden? Wie kann man Desinformation bekämpfen, ohne auf demokratische Grundwerte zu verzichten? Er unterstützt die Idee, dass die journalistischen Maximen von möglichst vielen Menschen erworben werden. Z.B. Prüfe erst und schreibe später! Höre auch die andere Seite! Sei skeptisch gegenüber anderen und dir selbst! Sei transparent in deinen Absichten!

Wie könnte das befördert werden? Herr Pörksen sieht drei Richtungen, in denen das bewerkstelligt werden kann.

  1. Journalistische Dialogfähigkeit – eine neue Kultur von Kommunikation zwischen Journalisten und Konsumenten
  2. Plattformregulierung – Inhaber von Internet Plattformen sollen kontrolliert werden – es bräuchte so etwas wie einen „Plattform Rat“.
  3. Bildung – es braucht ein Schulfach über Medienkompetenz, sowie Fähigkeiten zu einer Macht- und Medienanalyse

Mit drei Schlusssätzen (die einzigen Sätze, die er dann tatsächlich abliest) fasst er seinen Vortrag zusammen:

Wir, das Publikum, müssen medienmündig werden,

    1. Weil unser Miteinander von korrekten Informationen lebt
      Weil der Informationsraum neu definiert worden ist
      Weil wir medienmächtig geworden sind

Es gibt tosenden Beifall für Herrn Pörksen

Kriegsenkel

Kriegsenkel

– oder der lange Schatten des großen Kriegs

Nicht wenige Autoren betrachten den Verlauf des letzten Jahrhunderts als die Zeit eines „Großen Kriegs“. Beginnend mit dem ersten Weltkrieg 1914 und endend erst mit der Auflösung der Sowjetunion 1989. Das wären 75 Jahre Krieg gewesen, ein dreiviertel des letzten Jahrhunderts mit Abermillionen Toten und beispiellosen Verbrechen. Zurück blieben die Überlebenden und Nachfahren von Tätern, Mitläufern und Opfern sowohl auf Sieger- als auch auf Verliererseite.
Dass in Kriegen traumatische Erfahrungen gemacht werden können, die lange nachwirken, ist spätestens seit dem Vietnamkrieg belegt. Dass traumatische Erfahrungen auch auf die Folgegenerationen wirken können, erschien als These immer plausibel, inzwischen gilt auch dieser Umstand als gesichert.
Deutsche Kriegskinder und –Enkel müssen nicht nur mit ihren persönlichen Traumen und Verlusten leben, sondern auch mit der Scham des Verlierers und der kollektiven Schuld an den Verbrechen des Nazi Regimes. Was zählt schon das familiäre oder persönliche Leid angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten?

Die Traumen der Kriegskinder

Aus der Perspektive des „Großen Kriegs“ waren die Kriegskinder von heute wohl nicht selten ebenfalls schon Kriegsenkel. Ihre Eltern hatten z. T. schon den ersten Weltkrieg als Kinder erleben müssen. Und auch falls das nicht der Fall war, gab es schon vor dem Faschismus eine „Schwarze Pädagogik“, die darauf ausgerichtet war, den Willen der Kinder zu brechen, um sie zu gehorsamen Wesen zuzurichten.
Auch diejenigen Kriegskinder, die diese Vorbelastung nicht trugen, wurden von faschistischen Erziehungsidealen berührt, erlebten Verluste, mussten fliehen, erlebten sexuelle Gewalt, wurden ausgebombt, standen hungrig und frierend in den Trümmern ihrer Heimat oder hatten ihre Heimat ganz verloren.
Dazu mussten sie lernen anzuerkennen, dass Deutschland nicht nur den Krieg verloren, sondern auch noch ein Jahrtausendverbrechen verübt hatte. Diese Ausgangssituation ließ wenig Entwicklungsspielraum zu. Befindlichkeiten durften keine Rolle spielen angesichts der alltäglichen Herausforderungen des Weiterlebens nach dem Krieg. In großem Umfang mussten die Verletzungen, Verluste und Traumen verdrängt, verleugnet und abgespalten werden.
Nicht erst mit dem Beginn des Wirtschaftswunders wurden die Schrecken der Kindheit mit Arbeit zugedeckt. Aber ab den fünfziger Jahren stand zusätzlich noch der Konsum als Pflaster zur Verfügung. Die Zeit des Mangels hatte ein Ende und der fromme Wunsch, dass damit die Vergangenheit vorbei sei, war weit verbreitet. In der wachsenden Sicherheit wurden viele Familien gegründet, in denen bald auch Kinder zur Welt kamen.

Die Kindheit der Kriegsenkel

Die allermeisten jungen Eltern wollten sicher das Beste für ihre Kinder. Leider wussten damals viele junge Eltern nicht, wie das zu vermitteln gewesen wäre. Die Variationen von Eltern-Kind Beziehungen sind unüberschaubar. Aber einige typische Rahmen Geschichten lassen sich skizzieren.

Traumatische Belastungsstörung

Ein (oder beide) Elternteile leidet unter einer (in der Regel unentdeckten) Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie können die körperliche Versorgung hinreichend bis gut leisten, die emotionale Versorgung ist hingegen eher problematisch. Körperliche Nähe und Schutz zu bieten fällt solchen Eltern schwer. Trost spenden, Ermutigungen aussprechen, mit Ärger und Trotz des Kindes umgehen zu können sind Interaktionen, die entweder eingefroren sind oder niemals selbst erfahren wurden.
Das Kind beobachtet sonderbares Verhalten, geistige Abwesenheit, emotionale Leere oder überbordende Emotionen bis hin zu Gewaltausbrüchen. Die Fähigkeit zu emotionaler Resonanz ist zumindest eingeschränkt, und nicht selten kommt noch eine Alkohol- oder sonstige Abhängigkeit ins Spiel.
Viele Betroffene sind nicht in der Lage, ihren Kindern Halt oder Orientierung zu vermitteln.
Wenn das ältere Kind die Vergangenheit anspricht, bekommt es entweder gar keine Antwort, die immer selben Geschichten oder einen völlig emotionslos vorgetragenen Bericht.
Die Kinder finden häufig die Lösung darin, sich selbst für das Geschehen schuldig zu fühlen. Ebenfalls recht häufig beginnen sie ihre Eltern zu beeltern, übernehmen Verantwortung nicht nur für den Haushalt, sondern sogar für die Stimmungen der Eltern oder des Elternteils. Dies ist ggfls. die Wiederholung des Elternschicksals – keine angemessene Kindheit durchleben zu können.

Gering integrierte Ich-Struktur

Ein (oder beide) Elternteile haben teilweise gering integrierte Ich-Strukturen. Ich-Strukturen werden wesentlich während der ersten sechs Lebensjahre ausgebildet. Dazu zählen die Fähigkeiten zur Selbstwahrnehmung und Selbststeuerung, die Fähigkeit andere Menschen mit ihren Eigenheiten und Bedürfnissen wahrzunehmen, die Fähigkeiten zu kommunizieren, das psychische Gleichgewicht aufrecht erhalten zu können und die Fähigkeiten zur Bindung.
Auch wenn die Ich-Strukturen brüchig sind, gelingt den Betroffenen meist mit der Zeit eine Art von Organisation. Diese Organisation hat die Eigenart, dass sie sehr rigide erscheint, keine Abweichung von einem Sollwert tolerieren kann, einiges aus der Wahrnehmung ausschließt und als einzige Möglichkeit überhaupt zählt, wie das Leben zu bewältigen sei. Je nach Ausprägung sind die Eltern nicht oder nur schwer dazu in der Lage, ihren Kindern ein Beziehungsangebot zu machen, das die Entwicklung von Ich-Strukturen fördern würde.
Je nach Strukturbereich fühlen sich die Kinder unsicher im eigenen Körper, können z.B. seine Freuden nicht genießen; haben Schwierigkeiten damit, andere Meinungen und Ansichten wahrzunehmen und gelten zu lassen; weiter fällt die Impulskontrolle schwer und/oder sie können sich nur schwer selbst beruhigen; häufig fällt es schwer, Beziehungen und Bindungen einzugehen; und sich angemessen kommunikativ zu verhalten. Begleitet ist dieses Selbsterleben häufig mit einem mehr oder weniger subtilen Schuldgefühl oder gar der Hypothese, kein Recht zur Existenz zu besitzen.
Solche Einschränkungen schlagen auf den Selbstwert, auf die Selbstwirksamkeit und damit auf die Lebensqualität durch. Als Jugendliche fühlen viele sich einsam und fremd auf der Welt, haben vielleicht den Eindruck auf dem falschen Planeten geboren zu sein. Die Suche nach einer passenden Identität kann sich schwierig gestalten.

Großeltern als Täter*innen

Die Großeltern oder Familienangehörigen waren NS Täter*innen oder haben mit dem System sympathisiert. Die Eltern sind meist unbewusst in die Schuld und Scham der Großeltern verstrickt. Es gibt einen niemals benannten und doch immer fühlbaren Bereich eines Tabus. Was versteckt wurde soll für immer verborgen bleiben, auch nicht durch Kinder oder Kindeskinder ausgeplaudert werden. In dieser Konstellation gerät das Leben zur Fassade. Alle sollen glücklich aussehen, Gutes tun und niemals die Beherrschung verlieren.
So eine Atmosphäre ist eine große Herausforderung für ein heranwachsendes Kind. Es erlebt häufig eine Dissonanz zwischen seiner Wahrnehmung einer Situation und deren Erklärung durch die Eltern. Nichts scheint so zu sein, wie es sich anfühlt. Besonders Gefühlswertungen werden maskiert, wegrationalisiert und ein häufiger Satz lautet: „Das bildest Du Dir nur ein.“ Die Enkel haben kaum eine Wahl, sie müssen sich auf diese Welterklärungen einstellen und allmählich gewöhnen sie sich auch daran und höchstens ein subtiles Unbehagen bleibt erhalten.

Großeltern als Opfer

Großeltern oder Familienangehörige gehören zu den Opfern des NS-Regimes. Diese Konstellation kann ebenfalls in ein Tabu Szenario führen. Ein anderer möglicher Weg liegt darin, den Kindern, bzw. Enkeln den Auftrag zu erteilen, für Gerechtigkeit zu sorgen. Kampf um die Anerkennung des erlittenen Unrechts, evtl. Entschädigung und Wiedergutmachung zu fordern bis dahin Rache zu üben. Diese Aufträge werden zu einem so frühen Zeitpunkt des Lebens empfangen, dass sie einerseits nicht abgelehnt werden können und andererseits eine absolute Überforderung darstellen.
Der unmöglich zu erreichende Erfolg führt in Richtung Überforderung und Minderwertigkeitsgefühl. Egal was erreicht wird, es ist nie genug und daran fühlen sich die Betroffenen schuldig.

Rebellion oder Anpassung

Wie gingen die Kriegsenkel mit ihrer Situation um? Auch hier sind die Möglichkeiten zahlreich und unüberschaubar, aber auf eine Achse zwischen Unterwerfung, Kapitulation und Anpassung zu Widerstand, Trotz und Rebellion lassen sich wohl viele der Lösungen unterbringen. Beide Richtungen bewirken Verdienste und kosten einen Preis. Die Anpassung sorgt für Ruhe, unterwirft sich der herrschenden Strömung und kann mit wenig Aufwand im Strom mitschwimmen und erfolgreich sein. Der Preis dafür mag in der Aufgabe des eigenen Impulses liegen, im Verzicht darauf, eine eigene Position zu entwickeln und einen eigenen Sinn zu finden.
Diesen Eigensinn bewahren die Rebellen. Der Preis, den Rebell*innen zu zahlen gewärtig sein müssen, ist, dass es schwierig wird, sich in soziale Strukturen einzubringen, mit Autoritäten zurechtzukommen, sich in übergeordnete Sinnstrukturen einzubringen und es womöglich schwer damit haben, im sozialen Feld erfolgreich zu sein.

Was bringt eine Gesprächsgruppe?

Kriegsenkel sind aktuell zwischen fünfzig und fünfundsechzig Jahre alt. Sie haben ihre Leben bis hierher gemeistert, haben Berufe erlernt und üben sie noch aus, haben Beziehungen geführt und führen sie noch immer, Kinder wurden groß gezogen und die großen und kleinen Dramen eines Menschenlebens wurden kennengelernt.
Manche von ihnen kennen ungute Gefühle, kennen Situationen, die sie mit aller Kraft vermeiden wollen, kennen vielleicht auch Orte von Schmerz, von Unsicherheit, Angst, Scham oder Hass. In der Regel Gefühle, die nur oberflächlich erklärt werden können. Andere kennen auch hartnäckigere Störungen der Befindlichkeit, die in ihrer Ausprägung verschieden sein können, aber einen wiederkehrenden Charakter aufweisen.
Ein Grund dafür können die oben geschilderten Belastungen sein. Die Probleme, die in der Kindheit aufgenommen wurden, wurden immer nur abgewehrt und verdrängt, aber niemals bewusst gemacht und bearbeitet. Nicht selten gibt es so etwas wie ein Sprechverbot für schwierige Themen – nicht sprechen dürfen wird zu nicht sprechen können über das, was belastet. Die Erfahrung von kommunikativer Leere und emotionalem Vakuum sind wohl typisch für Kriegsenkelgeschichten.
Eine Gruppe bietet einen speziellen, geschützten Raum zum Sprechen an. Eine Gesprächsgruppe bietet eine Gelegenheit, der Sprachlosigkeit zu entrinnen, die Möglichkeit die eigene Geschichte erzählend kennenzulernen, und die fehlenden oder unklaren Teile davon zu identifizieren und auf diese Art Kohärenz und Verständnis für sich zu finden.

Wozu therapeutische Begleitung?

Betroffene Kriegsenkel*innen fühlen sich teilweise sehr verletzlich und je nach Geschichte können die mit ihr verbundenen Gefühle sehr heftig sein. Eine therapeutische Begleitung strukturiert und moderiert die Begegnung so, dass sie Schutz und Halt bieten kann.
Ein therapeutischer Blick kann auch dabei helfen, Verbindungen zu entdecken, Zusammenhänge zu sehen, die dem Erleben einen neuen Sinn geben, und so auch neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können.