Die Psychosomatik entdeckt die Zeit

Psyche und Zeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 16.07.19 von Marc Wittmann, Priv.-Doz. Dr. hum. biol., Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Freiburg:
„Wie die Zeit vergeht. Psychologie und Neurobiologie des Zeitgefühls – Einblicke in die Psychopathologie“

Herr Wittmann stellt uns den Ablauf seines Vortrags vor. Er möchte uns zunächst die Grundlagen des Zeitgefühls vermitteln, dann übergehen zu „Verkörperter Zeit“, uns dann einige Außergewöhnliche Bewusstseinszustände vorstellen und zuletzt über neue Ansätze in der Psychotherapie berichten.

Wie entsteht unser Gefühl für Zeit?

Es gibt zwei Typen der Zeitwahrnehmung. Die erste betrifft das Verhalten und dreht sich um die Koordination von Wahrnehmungen und Handlungen. Der Umgang mit äußeren Ereignissen spielt sich in Zeiträumen von Millisekunden bis wenige Sekunden ab.

Die zweite Typ dreht sich um das Erleben. Wir erleben subjektive Zeit im Spektrum von Langeweile bis Zeitdruck. Es dreht sich um Zeiträume von Sekunden bist Minuten.

Wir können eine Zeitperspektive aus der Rückschau einnehmen und Vorfälle aus dem Gedächtnis abrufen. Das betrifft sowohl Urlaube, in denen uns die Zeit langsam zu vergehen scheint, als auch tägliche Routinen, in denen die Zeit scheinbar schneller fließt.
Die prospektive (im Moment erlebte) Zeitperspektive lenkt die Aufmerksamkeit auf den Zeitablauf selbst. Wenn wir warten müssen scheint sie zäh zu fließen. Bei Ablenkungen wiederum vergeht die Zeit schneller.

Die subjektive Zeit ist immer noch ein Rätsel für die Wissenschaft, aber immerhin gibt es ein psychologisches Modell, das von einem Taktgeber Impulse ausgehen lässt, die über einen Schalter zu einem Akkumulator weitervermittelt und dort als Zeit gezählt werden.
Es zeigen sich auch Hinweise darauf, dass Zeitwahrnehmung mit der Aufmerksamkeit zu tun hat. Wenn ich sehr auf mich fokussiert bin, dehnt sich die Zeit, wenn ich sehr auf Handlungen fokussiert bin, fließt sie schneller. Und weiter, dass höhere Erregung die Zeit schneller vergehen lässt und Ruhe sie verlangsamt deutet sich schon an.

„Körpersignale informieren uns über den Zeitverlauf“

Herr Wittmann hat Belege aus dem dritten Jahrhundert v.u.Z. gefunden, die ebenfalls den Zusammenhang von äußeren Phänomenen und innerer Erregung nahelegen.
Dies wurde auch in einem Experiment bestätigt. Darin wurden Probanden in einem Raum ohne Ablenkung dazu gebracht, siebeneinhalb Minuten zu warten. Im Anschluss daran sollten sie schätzen, wie lange sie gewartet hatten. Das Ergebnis war, dass impulsivere Menschen aufmerksamer für die Zeit waren, dass ihnen das Warten eher unangenehm erschien und dass sie die Zeitdauer tendenziell überschätzten.

Neurowissenschaftliche Befunde

Dann werden wir noch auf das Feld der Neurobio- und Psychologie geführt. Herr Wittmann kann uns nur berichten, dass es zahlreiche Funktionsmodelle für Zeitwahrnehmung gibt, aber kein Einvernehmen darüber. Auch der Versuch, die neuronalen Korrelate im Gehirn zu finden sind bisher nicht von Erfolg gekrönt.
Allerdings gibt es neue Metastudie, die zum Ergebnis kommt, dass das supplementäre-motorische Areal, die anteriore Insula, die Basalganglien und der intraparietale Sulcus die besten Kanditen sind.
Die unterschiedlichen Ergebnisse vieler Studien lösen sich ein Stück weit auf, wenn verschiedene Zeitdauern auf verschiedene Systeme verteilt werden. Weniger als eine halbe Sekunde werden „Modalitätsabhängigen Prozessen“ zugeschlagen. Von einer halben bis wenige Sekunden dauernde Episoden den oben genannten Hirnstrukturen. Intervalle von mehreren Sekunden schließlich vom insularen Kortex.

aktuelle Ergebnisse

Herr Wittmann forscht selbst zu diesem Thema. Er möchte damit den Zusammenhang von körperlichem Selbst und subjektiver Zeit nachweisen. In seinem Versuchsdesign hören Probanden einen Ton von einer bestimmten Dauer. Nach einer Pause wird nun einen anderer Ton erzeugt und die Probanden sollen den Ton in dem Moment abstellen, an dem sie denken, er sei jetzt genauso lange ertönt wie der vorige. Als Ergebnis fand Herr Wittmann heraus, dass es tatsächlich die Insula ist, die hier ganz prominent Aktivität zeigt.
Die Insula ist dafür bekannt, dass sie physiologische Zustände wie Hitze, Kälte, Hunger, Harndrang etc. repräsentiert. Darüber hinaus noch diese Zustände interpretiert und damit zu einer Basis für komplexe menschliche Gefühle wird.

Zeit und Gefühle

Es gibt Studien zur Insula, die sich mit Emotionen, komplexen Entscheidungen, Musikwahrnehmung und Meditation befassen. Dies führt zurück zum Modell des Zeitempfindens. Als Zeitgeber entpuppen sich Körperzustände, die als „Dauer“ repräsentiert werden. Dies entspricht der „Verleiblichung der Zeit“, wie sie in der Phänomenologie verhandelt wird. Zeit ist das körperliche und gefühlte Selbst (!). Die Aufmerksamkeit spielt die Rolle des Schalters im Modell. Sie und der Grad der Erregung beeinflussen die Zeitwahrnehmung.
Wir bekommen noch ein Diagramm gezeigt, das uns klarmacht, dass sowohl bei sehr niedriger als auch bei sehr hoher Erregung, die Zeit langsamer fließt, als in den Zwischenzuständen.

Zeit und psychische Krankheit

Es gibt einige Patientengruppen, bei denen sich die Zeitwahrnehmung verändert. Dazu zählen: Depressionen, Krebserkrankte mit Angststörungen, Drogenabhängige in der Reha und Kinder mit ADHS oder Menschen mit Borderline Persönlichkeitsstörung. Bei allen ist das Phänomen bekannt, dass es ihnen so erscheint, als wolle die Zeit nicht vergehen. Im Licht der vorhergehenden Betrachtungen wird deutlich, dass diese Betroffenen mit ihrer Aufmerksamkeit sehr bei sich sind.
Der Stand ist nun folgendermaßen zusammengefasst: Ein intensiviertes Bewusstsein meiner selbst (Körper, Gefühle) führt zu einer Intensivierung des Zeitbewusstseins. Und: Ein vermindertes Bewusstsein meiner selbst zur Schwächung des Zeitbewusstseins. Daraus folgt: Die Bewusstseinszustände von Ich und Zeit werden gemeinsam moduliert. Als alltagsbekannt Erfahrung formuliert: Wartezeiten und Langeweile gehen mit einer erhöhten Selbstwahrnehmung einher. Die Zeit dehnt sich, das Ich wird stärker wahrgenommen und ebenso die Zeit.
Ganz anders im „Flow“, in dem ein Mensch sich an seine Tätigkeit hingibt, darin vergisst er sich selbst und damit auch seine Zeitwahrnehmung.

Außergewöhnliche Bewusstseinszustände (ABZ) & Zeitwahrnehmung

Zum Begriff des Selbst gibt es noch die Differenzierung in ein „körperliches Selbst“ einerseits, gewissermaßen das Ich im hier und jetzt, und andererseits das „narrative Selbst“, das aus der eigenen Geschichte besteht und Erinnerungen und Pläne umfasst. Diese beiden Aspekte bilden sich auch neuronal ab. Der erste ist mit dem interozeptiven System und der Insula assoziiert und der andere mit dem cingulären Cortex und der kortikalen Mittellinie.
Veränderte Bewusstseinszustände können (u.a.) durch Meditation, den Floating Tank und psychodelische Drogen erreicht werden. Alle haben gemeinsam, dass sich zunächst die Zeit dehnt, also ein hoher Fokus auf das Selbst gelegt wird. Im weiteren Verlauf löst sich das Ich und damit das Zeitbewusstsein auf, dann wird ein Zustand von „Zeitlosigkeit“ erlebt.

Neue Ansätze in der Psychotherapie zu ABZ

Wir erfahren jetzt noch etwas über die klinische Anwendung dieser Erkenntnisse bzw. über die Forschung daran, wie diese Betrachtungen therapeutisch wirksam werden können.
Dass Meditation einen hilfreichen Aspekt für die Psychotherapie darstellt ist schon länger bekannt. Dass auch der Floating Tank hilfreich zur Entspannung und Symptomminderung sein kann, ist eine neuere Entdeckung.
Nach vielen Jahren des Verbots an Forschungen mit Psychodelika, wird diese nun  in verschiedenen Ländern wieder aufgenommen. Auch hier zeigen sich sehr hoffnungsvolle Effekte. Alle Methoden scheinen den Patient*innen dabei helfen zu können, ihre Selbstfixierung zu lösen und sich der Welt wieder zuwenden zu können.
Was nun noch fehlt sind valide Studien, die diese Ergebnisse festigen können.

Die Abschlussfolie ist überschrieben mit: „Was ist Zeit? Auflösung des Rätsels der subjektiven Zeit. Prospektiv/im Moment erlebend : Präsenzzeit : Körperzeit : Gefühlszeit : Ich-Zeit – Zeitbewusstsein & Ich-Bewusstsein

Die Zeit ist während des Vortrags schnell verflogen.

Psyche und Klimawandel II

Wenn das Klima aufs Gemüt schlägt

Die Reaktionen auf die Berichterstattung zum Klimawandel reichen von blanker Verleugnung über milde Besorgnis bis zur Theorie der nahen Apokalypse. Angenommen, dass die meisten Mitmenschen dazu in der Lage sind rational zu denken, mag das überraschend erscheinen. Die Daten des sog. Klimawandels belegen ja einen objektiv ablaufenden physikalischen Prozess – sie sind so real wie die Schwerkraft oder die Lichtgeschwindigkeit, wie Tag und Nacht.
Natürlich bedeuten diese Daten etwas anderes als Schwerkraft oder Lichtgeschwindigkeit. Was genau sie bedeuten, darüber sind sich sogar die Klima-Wissenschaftler*innen nicht alle einig. Auch in der Gemeinde der Klimatolog*innen gibt es eine Normalverteilung (Glockenkurve). Am einen Ende werden die Folgen als nicht so gravierend eingeschätzt, am anderen Ende als sehr gravierend und dazwischen werden gravierende Folgen als wahrscheinlich angesehen.
Es geht bei den klimatischen Veränderungen um Zukunftsvorhersagen, bzw. um Einschätzungen der messbaren Trends – gehen sie linear weiter? Beschleunigen sich die Trends? Wird es Sprünge oder Stufen geben? Das lässt sich nur in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken, die immer wieder mit der Realität abgeglichen werden müssen.
Eine Tatsache ist, dass nahezu alle Medien inzwischen fast täglich von den Veränderungen berichten. Was macht das mit uns Leser*innen, Hörer*innen, Seher*innen? Ein Unterton an Bedrohung lässt sich kaum aus den Berichterstattungen herausfiltern. Dass diese Bedrohungslage eine gewisse Unausweichlichkeit mit sich bringt (explizit oder implizit), bringt den Klimawandel in assoziative Nähe zum Tod. Und dass diese Sterblichkeit, die am gründlichsten verdrängte Wahrheit von allen ist, ist schon fast eine psychologische Binsenweisheit.

Umgang mit dem Unausweichlichen

Das berühmte Phasenmodell zum Umgang mit dem Tod von Elisabeth Kübler-Ross bietet sich damit auch als Betrachtung für den Umgang mit dem Klimawandel an. Die erste Phase besteht darin, das Unausweichliche nicht wahrhaben zu wollen. Es wird einfach nicht geglaubt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf – das gibt es doch nicht! Das kann doch nicht wahr sein! Diese Reaktion findet sich ausgiebig in Internetforen, aber mitunter auch in politischen Positionen.
Die zweite Phase besteht in Ärger und Zorn. Verdammt nochmal, wer hat denn diese Sch*** bloß angerichtet. Die Suche nach Verursachern, Schuldigen und/oder Sündenböcken nimmt Fahrt auf. Das können wahlweise Politiker, Firmen oder auch Mitmenschen sein.
Die dritte Phase besteht im Verhandeln. Also es gibt doch wohl noch eine Möglichkeit das aufzuhalten, eine Möglichkeit, dass es nicht ganz so schlimm wird. Wenn wir vielleicht weniger fliegen und uns veganer ernähren, dann wird noch alles gut. Oder vielleicht liegt das ja nur an Messfehlern, oder diese Ganze Clique von Wissenschaftlern ist eh von irgendjemandem gekauft und es ist alles gar nicht wahr.
Die vierte Phase geht nun in die Depression über. Die Ohnmacht wird gegenwärtig – es gibt keine Handlungsoption mehr, alles ist sinnlos, der Einsatz ist verspielt. Solcherart Betroffene posten nicht einmal mehr auf Facebook oder Instagram – sie wenden sich wohl eher dem Alkohol oder anderen Drogen zu.
Als fünfte Phase beschreibt Kübler-Ross die Zustimmung. Sie bringt den Betroffenen Frieden. Ja es ist so und ich kann nichts anderes tun, als mich der Veränderung hinzugeben. Der Mensch wird wieder handlungsfähig. Pragmatisch und hilfsbereit ist es jetzt möglich, wieder am Leben teilzuhaben, solange es eben noch geht.
Die Musiktherapeutin, Psychologin und Theologin Monika Renz hat bei ihren Forschungen noch eine weitere Phase gefunden und etwa so formuliert: Die Wandlung und spirituelle Öffnung. In der Hingabe an das Unausweichliche mag ein Kontakt mit dem überpersönlichen „Sein“ gelingen, dass dem Leben noch einmal einen tieferen Sinn zu geben vermag.

Aktuelle Abwehr Trends

Aus der soziologischen Perspektive werden zwei Arten von Verleugnung (psychische Abwehr) beschrieben. – eine interpretative und eine implikative.
Eine interpretative Abwehr beschreibt die Strategie, zwar die Umstände anzuerkennen, aber sich noch mit hoffnungsvollen Zeichen zu beruhigen – Z.B.: „Der CO2 Gehalt in der Atmosphäre steigt zwar, aber es werden ja auch jede Menge Windräder gebaut.“
Mit implikativ ist gemeint, dass die Schwierigkeiten, die mit der Entwicklung verbunden sind zwar klar gesehen werden, dass daraus aber Aktivitäten entstehen, die weder geeignet sind die Entwicklung aufzuhalten, noch mit den zukünftigen Schwierigkeiten umzugehen – Z.B. Petitionen unterzeichnen, Flyer verteilen, in Sozialen Medien posten usw.

Psychotherapie und Klimaängste

Es scheint, als würden die Ängste zu diesem Thema tatsächlich zunehmen. Vor allem Kinder und Jugendliche fühlen sich von der Entwicklung bedroht, aber auch Erwachsene leiden direkt oder indirekt (über ihre betroffenen Kinder) unter der Situation. Die Themen der Betroffenen lassen sich mühelos der Liste von Kübler-Ross zuordnen – Ohnmacht, Ängste, Zorn, Grübelei, Trauer und Depression.
Was kann Psychotherapie hier anbieten? Ist sie überhaupt in der Lage, angemessen mit diesen Symptomen umzugehen? Schließlich geht es nicht um biografische, systemische oder strukturell bedingte Befindlichkeiten, sondern um die Konfrontation mit realen Fakten. Man könnte sagen, dass diese Befindlichkeiten gesunde (zumindest aber normale) Reaktionen auf eine kranke Umweltentwicklung sind.
Eine Faustregel in der PT ist, dass die Anerkenntnis der Wahrheit zwar oft schmerzhaft ist, aber letztlich der einzige Weg dahin, einen gewissen Frieden zu finden und wieder handlungsfähig zu werden.
Die Integration der Gefühle mag aus biografischen Gründen erschwert sein. Aber auch wenn das nicht der Fall ist, kann eine PT dabei unterstützen, die Integration zu erleichtern. Allerdings sollte der/die Psychotherapeut*in sich Rechenschaft darüber ablegen, wie er/sie selbst mit der Herausforderung von Gegenwart und Zukunft umgeht, damit die Verleugnung nicht einfach weitergeht.

Die Psychosomatik erkundet Resonanz und Selbst

Selbst und andere in Resonanz

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 25.06.19 Joachim Bauer:
„Wie wir werden, wer wir sind – die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz“

Das Selbstsystem

Die Eingangsfrage lautet: Woher wissen wir eigentlich wer und wie wir sind, wenn wir von jemandem danach gefragt werden. Eine Antwort könnte heutzutage lauten: Das weiß ich von meinem neuronalen Selbstsystem (das meiste davon im frontalen Kortex – der Zone, die am wenigsten durch Gene bestimmt ist).
Herr Bauer nennt das Wissen über das Selbstsystem sehr gewiss, weil es in vielen Studien bestätigt wurde. Zum Selbstsystem gehört ein „Selbst“ das handelt, wahrnimmt etc. und ein „Selbstbeobachtungsystem“, das sich darüber Gedanken macht, wie andere uns wahrnehmen.
Dieses Selbstsystem ist offen für Mitteilungen – positive wie negative. Selbst wenn uns Freunde über Mitteilungen von anderen über uns erzählen, hat das eine tiefe Wirkung auf das Selbstsystem. Mitteilungen können langlebige Spuren darin hinterlassen. Dabei werden positive Rückmeldungen anders verarbeitet als negative.

Resonanz

Das Resonanzphänomen ist aus der Musik gut bekannt. Eine schwingende Saite in einer bestimmten Tonhöhe ist in der Lage, eine andere Saite derselben Tonhöhe zum mitschwingen zu bringen. Was schwingt nun bei uns Menschen?
Ein Babygehirn ist noch unreif, es hat nicht die Möglichkeiten eines erwachsenen Gehirns (was an der Frühgeburtlichkeit des Menschen liegt). Das Baby äußert sich also nicht gewollt und gezielt, sondern eher zufällig. Seine Äußerungen werden dann von einer hinreichend feinfühligen Bezugsperson wahrgenommen und zurückgespiegelt. Zur Erklärung dienen hier die berühmten Spiegelneuronen, die das ermöglichen. Die Rückspiegelung setzt nun erste Erfahrungen im Selbstsystem des Säuglings.
Während dieser Spiegelepisoden geschehen viele Dinge auf einmal. Ein körpersprachlicher Dialog, eine reziproke Erregung, Botschaften werden übertragen und können Spuren im jeweiligen Empfänger hinterlassen. Im Falle negativer Botschaften hat es das Baby sehr schwer, diese abzuwehren. Im Notfall schaltet es auf chronische Abwehr.
Konkret sieht das so aus, dass die „dyadische Beziehung“ durch vorhersagbare Kontakthandlungen des Elters eine sichere Bindung angebahnt wird (Kontingente Beziehung). Die Interaktionen werden durch Augenkontakt begleitet, Äußerungen des Babys zeitnah beantwortet, dabei hat die Stimme eine angemessene Tonalität, auch die Qualität der Berührungen ist feinfühlig genug, und die Pflegehandlungen laufen in positiver Atmosphäre ab, wichtig dabei ist genügend Zeit für den dyadischen Kontakt.

Schwierige Resonanzen

Diese Fülle von Faktoren zeigt schon, dass in dieser Beziehung auch viel schief gehen kann. Das ist besonders fatal, weil das Baby noch kein Selbst in eigentlichen Sinne hat. Es erfährt durch die Art und Weise wie es behandelt wird, dass es selbst ist, und auch wie es selbst ist.
Herr Bauer würzt seinen Vortrag noch mit ein paar Ergänzungen. So erfahren wir, dass Babyschreie in Erwachsenen Angst auslösen. Diese wird in aller Regel aber nicht gespürt, sondern durch Pflegehandlungen am Baby bewältigt. Wer als Baby diese Erfahrung nicht genügend gemacht hat, wird später Probleme damit bekommen, Babys angemessen zu versorgen, ja,  es kann sich sogar eine Angst vor der Angst entwickeln.
Jedenfalls brauchen Babys in der Regel 18 Monate lang angemessene emotionale Versorgung, bis sie fähig werden, sich selbst zu regulieren. Diese Fähigkeit wiederum stärkt die Widerstandskraft enorm. Die frühen Lebenserfahrungen finden auf jeden Fall ihren Weg ins Körpergedächtnis (auch dafür gibt Zonen im Gehirn). Vorsprachlichen Erfahrungen fließen später auch ins sprachliche Selbstbild ein. Dieses entwickelt sich etwa zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat.
An mehreren Stellen des Vortrags beschwört Herr Bauer die absolut sichere wissenschaftlich Erkenntnis, dass Kinder unter zwei Jahren nur in einer Kita mit einem Betreuungsschlüssel von eins zu drei gut versorgt werden können.

Ich, Du und Wir im Gehirn

Wenn wir über uns selbst nachdenken nutzen wir das Selbstsystem. Wir benutzen es auch, wenn wir über bedeutsame und nahe Andere nachdenken. Anders allerdings, wenn wir über fremde und ferne Andere nachdenken Dann nutzen wir andere Systeme und ebenso, wenn wir über Gruppen nachdenken. So entstehen verschiedene Mischformen von Ich und Wir – von viel wir und wenig ich; oder viel ich und wenig wir. Das lässt sich mit Aufnahmen und Berechnungen sehr gut zeigen. Dabei werden dann auch kulturelle Unterschiede sichtbar. Das typisch westlich-europäische Gehirn läuft eher im „viel ich, wenig wir“ Modus. Ganz im Gegensatz zum typisch chinesischen Gehirn, das im „viel wir, wenig ich“ Modus erzogen wurde.

Phänomene zwischen Selbst und Nicht-Selbst

Dass es vorkommt, dass sich ein Selbst über seine Körpergrenzen hinaus ausdehnt ist ein schon länger bekanntes Phänomen. Menschen identifizieren sich mit ihrem Besitz, mit Dingen oder einer virtuellen Identität. Mitunter geschieht das aus dem Grund, dass sich das Selbst nicht gut genug erscheint. Daraus können dann auch krankheitswertige Entwicklungen ableiten – z.B. Depressionen, interpersonale Abhängigkeiten und Narzissmus.
Ein wenig anders liegen die Dinge bei früh traumatisierten Menschen. Nicht selten tragen sie sog. Täterintrojekte in ihrem Selbstsystem. Es fällt ihnen schwer, diese fremden Anteile von ihren eigenen zu unterscheiden. Auch in diesem Fall können sich krankheitswertige Entwicklungen anbahnen.

Das Selbst als innerer Arzt

Das Selbstsystem hat Verbindung zu nahezu allen körperlichen Systemen – auch zum Vegetativum. Wer sich also gut um sich kümmert und das gute Leben pflegt (Eudaimonie), hat gute Chance auf ein langes und gesundes Leben. Menschen, die eher auf den schnellen Spaß ausgerichtet sind (Hedonie) wird das eher selten widerfahren.
An dieser Stelle dann noch der Appell an die Ärzte, dass sie ihre Diagnosen verantwortungsvoll mitteilen, dass sie versuchen sollen, das Selbst mit ins Boot der Therapie zu holen und nicht mit der Diagnose auf den Patienten zu schießen.
Viel Applaus für Herr Bauer

Klima und Psyche

Klimawandel und Sorge

Psychotherapie und soziale Struktur

Sigmund Freud ging davon aus, dass das Leben in einer zivilisierten Kultur fast zwangsläufig eine neurotische Anpassung hervorbringt. Wilhelm Reich engagierte sich in den Elendsvierteln von Wien, weil er davon ausging, dass die sozialen Umstände seelisches Leid mitverursachen. Auf der anderen Seite legte er dar, wie die gesellschaftliche Unterdrückung der Sexualität, faschistischen Parteien in die Hände spielt. Für das „Human Potential Movement“ und die Humanistische Psychotherapie lag (und liegt) es auf der Hand, dass persönlich-psychische Entwicklung und soziale Strukturen miteinander verbunden sind und aufeinander einwirken. Beide Aspekte sollten sich zum Besten der Menschheit weiter entwickeln.

Objektivierte Psychotherapie

Solche Gedanken sind, meiner Wahrnehmung nach, weitgehend aus der Klinischen Psychotherapie verschwunden. Psychisches Leiden ist eine Angelegenheit des persönlichen Erlebens. Nur die persönliche Biografie hat dieses wesentlich geformt. Wissenschaftliche Psychologie, Neurobiologie und –Psychologie, sowie Bildgebende Verfahren treiben die Objektivierung des psychischen Erlebens immer weiter voran. Subtil wird psychisches Erleben wieder mehr in Richtung eines „psychischen Apparats“ gedeutet, wenn auch heutzutage Computer Metaphern beliebter sind. Es geht darum, die Programmierung zu verändern, Algorithmen zu finden, die effektiver sind, Spuren zu löschen, bzw. neue anzulegen. In der PT geht es dann darum, sich so zu programmieren, dass soziale Härten und Ungerechtigkeiten bewältigt werden können und weniger darum, die Spielregeln des Umfelds zu verändern.

Die verkörperte Perspektive

Dass soziale Phänomene wie Krieg, Vertreibung, Pogrome u. ä. über die Kraft verfügen, Menschen zu traumatisieren ist klinisch bekannt, wissenschaftlich dargelegt und begründet. Gerade Gewalt, die von Mitmenschen erlitten wird, hat eine besonders starke traumatische Potenz. Weniger potent, aber immer noch wirksam, sind Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Dürren oder Brände.
Wenn ich nun das psychische Erleben wieder stärker an die Existenz zurückbinde, es als persönliche Perspektive auf und in die Welt betrachte, dann erschließen sich verschiedene Horizonte für dieses Erleben. Der nächste und intimste Horizont wäre der eigene Körper mit all seinen Empfindungen, Gefühlen, Impulsen, Gedanken, Motiven, Wünschen und Zielen. Der Leib, verstanden als beseelter Körper, ist stets im psychischen Erleben präsent. Der Leib teilt mit, was und wie er etwas empfindet. Er gründet und formt das, was als Bewusstsein von etwas entsteht. Körperliche Symptome wie Schmerzen, Übelkeit oder Schwäche können das psychische Erleben beeinträchtigen. Es ist nur sehr schwer möglich, diese Erfahrungen vom Bewusstsein fernzuhalten.

Der Leib und die Lieben

Der Leib nimmt auch Anteil am nächsten Horizont, dem Horizont der bedeutsamen Beziehungsfiguren. Es geht um die Möglichkeiten einer persönlichen Liebesbeziehung, um das gemeinsame Erleben von etwas. Die Zugänglichkeit zum jeweils anderen, die Herausforderung aus zwei Perspektiven einen gemeinsamen Erlebnisraum zu gestalten. Störungen dieser Beziehung belasten die Psyche enorm. Je nach Vorerfahrung können die Sorgen und Ängste etwas zurückgedrängt werden, aber wenn die Beziehung bedeutungsvoll ist, ist das sehr schwierig.

Leib und Gesellschaft

Als nächst weiterer Horizont kann das soziale Umfeld betrachtet werden. Die Nachbarn, die Gemeinde, die Kolleg*innen und alle Menschen, die wir Tag für Tag sehen. Der Arbeitsplatz spielt eine besondere Rolle. Zum einen sind hier Beziehungen entstanden, zum anderen sichert der Arbeitsplatz die materielle Existenz. Eine Bedrohung des Arbeitsverhältnisses stellt ebenfalls eine erhebliche psychische Belastung für die Betroffenen dar. Diese Bedrohung kann im Arbeitsplatzverlust bestehen, oder durch ungute betriebliche Strukturen, durch Über- oder Unterlastung oder auch durch Mobbing Dynamiken. Auch hier ist es fast nicht möglich, den Sorgen zu entfliehen, bzw. sie zu vergessen oder zu verdrängen.

Horizonte

Ein Horizont entsteht dann, wenn ich in eine bestimmte Richtung schaue. Die nahen Horizonte erscheinen bereits, wenn ich nur die Augen öffne. Die ferneren Horizonte kann ich ignorieren, indem ich einfach nicht hinsehe.

Der nächst ferne Horizont könnte als ein größeres soziales Umfeld betrachtet werden. Das kann eine Religionszugehörigkeit sein, eine ethnische Zugehörigkeit oder einfach die Nationalität. Je nach Identifikation können auch hier Bedrohungen empfunden werden, bzw. fühlen sich die Gemeinden, Ethnien oder Staatsbürger als solche bedroht. Sicher ist, dass es solche Bedrohungen gibt. Aber die Drohung ist tendenziell weniger konkret, subtiler, verschwommener – oft ist es nicht leicht zu unterscheiden, ob die Bedrohung real ist, oder nur heraufbeschworen wird. Psychisch wird diese Situation dann auch als unbehaglich erlebt. Insgesamt lässt sie sich aber meist besser ignorieren oder wegschieben, als in den anderen Fällen (es sei denn sie ist sehr real).

Der maximale Horizont wäre vielleicht die Erde an sich, verstanden als gemeinsame Grundlage der Existenz der Gattung (und allen Lebens) oder als Gesamtheit aller Kommunikationen. Durch die modernen Medien ist dieser Horizont näher gerückt. Er ist allerdings so gewaltig, dass immer nur Ausschnitte von ihm sichtbar werden. Wenn ich etwas Unschönes, Beunruhigendes entdecke, ist es leicht möglich, den Kanal zu wechseln. Die doppelte Distanz – räumlich und dazu noch virtuell – erleichtert es, bedrückende Bilder zu vergessen, zu verdrängen oder zu verleugnen.

Gefahren am Horizont

Nun wird bekannt, dass die gemeinsame Existenzgrundlage bedroht ist. Nach Jahrzehnten, in denen Politik und Wirtschaft die Bedrohung verharmlost und ignoriert haben, verbreiten engagierte Mitmenschen nun die Botschaft mit Nachdruck Die Wucht dieser Botschaft ist niederschmetternd, wenn man sich auf sie einlässt, wenn man sie in ihrer ganzen Tragweite erfasst. Es wird zunehmend schwieriger, die Situation zu verdrängen oder zu verleugnen. Ein Abwehrversuch könnte es auch sein, die Verkünder der Botschaft anzugreifen.

Ohnmacht

Ein Aspekt des Geschehens ist die persönliche Ohnmacht. Das, was schon geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Die Veränderung geschieht bereits. In diesem Sinn sind wir zum passiven Erleiden verurteilt. Ohnmacht ist für ein Bewusstsein ein ziemlich inakzeptabler Zustand. Die beliebte Möglichkeit damit umzugehen ist es, Schuldige anzuklagen – sei das mich selbst, mit meinen Konsumgewohnheiten, oder andere, die dieses oder jenes zur Misere beigetragen haben und womöglich immer noch beitragen. Diese Abwehrmanöver scheitern zwangsläufig, denn der Konflikt bleibt präsent. Er wird immer und immer wieder präsentiert und es ist keine Flucht davor möglich.

Kampf gegen die Ohnmacht

Um psychisch gesund zu sein, brauche Menschen die psychische Abwehrmechanismen. Sie aufrecht zu erhalten, kostet den Leib und den Geist eine gewisse Anstrengung. Jeder Konflikt, jede Herausforderung und jede Schwierigkeit, die das psychische Erleben zusätzlich belasten, fordern größere Abwehrleistungen. In einer Zeit, in der ohnehin schon die Beschleunigung, die Digitalisierung und ein hoher Anpassungsdruck bewältigt werden müssen, kommt nun noch nicht weniger, als ein apokalyptisches Szenario hinzu.

Psychotherapie kennt sich aus mit Ohnmacht, Schreck, Verleugnung, Gewalt und Angst. Ich denke, es ist an der Zeit, dass Psychotherapeut*innen sich daran erinnern, dass es in der Geschichte der PT schon einmal die Einsicht gab, dass gesellschaftliche und politische Strukturen auch Krankheiten erzeugen können. Dass sie nicht nur dazu da sein wollen, einfach die Betroffenen wieder gesund zu machen, damit sie wieder in die Maschinerie entlassen werden können.

Psychotherapie in der Klimawandel Ära

Psychotherapeut*innen haben wertvolles Wissen und ebensolche Fähigkeiten. Sie können dabei mitwirken, die Strukturen zu verändern und die auf uns zukommenden Veränderungen möglichst bekömmlich zu gestalten. Darin mag vielleicht ein klein wenig Hoffnung liegen. Dass aus dieser Krise etwas Bekömmlicheres entstehen könnte, als das, was uns an diesen Punkt der Geschichte geführt hat.

Mehr zum Thema gibt es hier und hier und hier

Die Psychosomatik erkundet Trauma und Persönlichkeitsstörung

Das frühe Trauma und die erwachsene Persönlichkeit

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquiums „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 30.04.19 Wolfgang Wöller:
„Persönlichkeitsstörungen und Trauma“

Missbrauch, Trauma und Persönlichkeitsstörung

Zur Einstimmung ins Thema präsentiert uns Herr Wöller eine Statistik aus dem Jahr 2010. Danach sind zwischen 12 und 14,9 % aller Mitmenschen davon betroffen, dass sie als Kinder körperliche, sexualisierte oder emotionale Misshandlungen erleiden mussten, knapp 3 % sogar schwerste Misshandlungen. Herr Wöller berichtet weiter, dass auch andere Untersuchungen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen seien. Er beklagt, dass dieses Phänomen ein epidemisches Ausmaß habe. Auch, dass es diese Gewalt schon immer und in jeder Gesellschaft gegeben habe, dass es aber eine Sensibilisierung der Gesellschaft brauche, um sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.
Die Wucht von solchen Erfahrungen hinterlässt häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung. Es gibt aber auch andere Traumafolgenstörungen, die weniger bekannt sind. Dazu zählen: Depressive Störungen, dissoziative Störungen, Somatisierungsstörungen, Essstörungen, Substanzabhängigkeit und Persönlichkeitsstörungen, v.a. die Borderline-Persönlichkeitsstörungen (BPS). Vor allem letztere ist eine häufige Folge von Gewalterfahrung in der Kindheit.
Eine Persönlichkeitsstörung lässt sich besonders deutlich in Störungen der interpersonellen Kommunikation aufweisen. Die hohe Anzahl von interpersonellen Konflikten und Verwicklungen, die deutliche Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung und die Neigung zu dysfunktionalem oder (auto)destruktiven Verhaltens.
Der Zusammenhang von Gewalterfahrung und BPS ist gut erforscht – 75 % der BPS Betroffenen hat solche Gewalterfahrungen in der Kindheit gemacht. Aber es können auch andere Formen von Persönlichkeitsstörung aus der Gewalterfahrung erwachsen – Dissoziale, Paranoide, Schizoide oder Ängstlich-Vermeidende. Weiter sind ca. 50 % der BPS Betroffene auch noch zusätzlich von PTBS und dissoziativen Störungen heimgesucht.

Symptome von BPS

Schaut man sich die Problembereiche der Betroffenen genauer an, findet man: Maladaptive Verhaltensmuster, die auch in der therapeutischen Situation zum Tragen kommen. Die Patient*innen verhalten sich feindselig, entwertend oder vorwurfsvoll, was die Gefahr eines Therapieabbruchs mit sich bringt. Sie können die Beziehung allerdings ebenso in abhängig-idealisierend gestalten, was eine ungute Abhängigkeitsentwicklung begünstigt. Mit einer Geschichte, die Bindungs- und Beziehungstraumatisierungen beinhaltet, wird die Gefahr, auch als Erwachsener (re)traumatisiert zu werden größer. Und sogar Alltagsbelastungen können subjektiv traumawertig werden. Das können Erfahrungen von Alleingelassen werden, Bedrohungen der Identität oder Beschämung sein.

Modelle von Persönlichkeitsstörung

Herr Wöller erläutert nun, mit welchen Modellen sich Psychotherapie und Psychiatrie dem Phänomen Persönlichkeitsstörung annähern. Es gibt dazu verschiedene Möglichkeiten, so die „Psychodynamischen Modelle“, die Neurobiologischen Modelle, das Strukturmodell und die Bindungstheoretischen Modelle (natürlich auch verhaltenstherapeutische, aber Herr Wöller kommt aus der Psychoanalyse).
Auch die psychologische Forschung kann Beiträge zum Phänomen machen. So ist inzwischen gut bekannt, dass die soziale Wahrnehmung von Betroffenen verzerrt ist – sie haben es schwer, einen neutralen Gesichtsausdruck zu erkennen, nehmen ihn eher als bedrohlich wahr. Das kann dazu führen, dass sie undifferenzierte traumatische Affektzustände geraten – dass also Zustände von Leere, Verlassenheit, Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Scham und Schuldgefühl in ihnen toben, ohne dass sie der Situation zuordenbar wären.
Die untauglichen Versuche, dieses Chaos irgendwie zu beherrschen gehen dann in Richtung eines Selbstschädigenden Verhaltens, in Suchtverhalten, Risikoverhalten oder auch in Fressatacken mit anschließendem Erbrechen.
Die traumabedingten Funktionsdefizite zeigen sich als Unfähigkeit, Gefahren vorherzusehen, nicht für sich sorgen zu können, sich nicht abgrenzen zu können, sich nicht schützen zu können, hilflos zu sein und handlungsunfähig. Das begünstigt natürlich die Wahrscheinlichkeit wieder zum Opfer zu werden.
Aber natürlich haben sich die Betroffenen auch dahingehend organisiert, dass sie zu ihrem Schutz versuchen, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu erzwingen, dass sie versuchen, Beziehungspartner moralisch unter Druck zu setzten, dass sie erpressen, drohen, beschuldigen oder sich unangemessen verführerisch verhalten.

Neurobiologische Beiträge

Die neurobiologische Forschung hat inzwischen nachgewiesen, dass die neurologischen Folgen von PTBS und BPS nahezu identisch sind. Und auch die „erfahrungsabhängige Hirnentwicklung“ machen die Symptome plausibel. Gerade in der frühen Lebenszeit müssen bestimmte Bereiche lernen, gewisse Funktionen zu erfüllen. Z.B. muss der präfrontale Cortex lernen, Gefühle zu regulieren. Dazu braucht das Kind aber notwendig eine genügend gute Bindungsperson. Eine Bindungsperson, die einerseits Zuneigung zeigt und andererseits Gewalt ausübt, ist dazu denkbar ungeeignet.
Hoffnung macht hier alleine die Einsicht, dass neuronale Verbindungen ein Leben lang offen für Veränderungen sind. Dazu braucht es vielfach aktivierte neue Muster, die geübt und durchgearbeitet werden müssen.

Bindungsstörungen und BPS

Die Bindungsforschung hat herausgefunden, dass BPS hoch korreliert mit „unsicher-ambivalentem“ und „unsicher-desorganisierten“ Bindungsmuster ist. Auch andere Persönlichkeitsstörungen weisen auf die zentrale Rolle der Bindungsprägung hin.

Phasenorientiertes Therapiekonzept

Herr Wöller stellt uns das Modell vor, das an seiner Klinik für die Therapie verwendet wird. Es geht darum:

1. Sicherheit, Halt und die Stärkung der Bewältigungskompetenz
2. Emotionsregulierung und Selbstfürsorge
3. Mentalisierung und die Entwicklung stabiler Repräsentanzen
4. Schonende Traumabearbeitung
5. Konfliktzentriertes Arbeiten an maladaptiven Verhaltensweisen

In der therapeutischen Beziehung ist darauf zu achten, dass da, wo früher Bedrohung und Unsicherheit herrschten, heute Sicherheit erfahren werden kann. Wo früher der Kontrollverlust Alltag war, heute Kontrollmöglichkeiten erfahren werden. Wo Verwirrung und Intransparenz erlebt wurden, heute Aufklärung und Transparenz geboten wird und wo die Erfahrung des Verlassen-Werdens immer wieder gemacht wurde, die reale Präsenz eines Mitmenschen genutzt werden kann.
Sicherheit hat die Aspekte der äußeren Sicherheit –  z.B.  ob es noch Kontakte zu Täter*innen gibt. Es geht um die soziale Sicherheit und v.a. um das Gefühl von Sicherheit in der therapeutischen Situation.
Damit zusammen hängt auch das Bedürfnis nach Kontrolle. Das Kontrollbedürfnis des Patienten muss respektiert werden. Er/sie braucht Wahlmöglichkeiten und sein Einverständnis für Interventionen sollte immer wieder neu eingeholt werden.

Ressourcen

Wie wichtig gerade bei traumatisierten Patient*innen der Aufbau und die Pflege von Ressourcen sind, hat sich inzwischen herumgesprochen. Ressourcen versteht Herr Wöller so: „Letztlich alles, was von einer bestimmten Person (ohne selbstschädigend zu sein) in einer bestimmten Situation wertgeschätzt wird oder als hilfreich erlebt wird, kann als eine Ressource betrachtet werden.“ Die Patient*innen werden ermutigt, ihre inneren Zustände (States) aktiv zu verändern, z.B. durch positive Aktivitäten, Aktivierung positiver Erinnerungsbilder und imaginative Techniken.
Auch das Strukturmodell kann hier hilfreich sein. Es wird z.B. eingesetzt um die Affektwahrnehmung und –Differenzierung zu fördern. Alte Gefühle von aktuellen zu unterscheiden und die alten Anteile per Imagination wegzupacken. Weiter geht es darum die Selbstfürsorge zu stärken – die inneren Verbote zu überwinden. Gut bewährt hat sich in diesem Zusammenhang auch die sog. „Arbeit mit dem inneren Kind“. Dabei lernen die Patient*innen die symbolische Nachbeelterung auf einer „inneren Bühne“.

Verlauf der Therapie

Eine Therapie beginnt damit, dass klar umschriebene und gut erinnerbare Traumen oder belastende Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit durchgearbeitet werden. Dazu zählen auch persönlichkeitsspezifische Alltagsstressoren mit traumwertigen Belastungsgraden. Später können klar erinnerte Traumen der Kindheit bearbeitet werden. Und zuletzt die unscharf erinnerten Traumen. Häufig braucht es dann noch eine Zeit von „Konfliktorientierter Arbeit“. Die Arbeit an unbewussten Konflikten, deren Klarifizierung, Konfrontation, Deutung von unbewussten Inszenierungen zur Abwehr früher Ängste. Ebenso die Analyse früher Abwehrmechanismen, die thematische Fokussierung auf Identität und Intimität, ggf. durch die Nutzung des Übertragungsphänomens.
Persönlichkeitsstörungen können nicht ursächlich therapiert werden. Aber Psychotherapie ist in der Lage, die Lebensqualität der Betroffenen erheblich zu verbessern. Das lässt sich nicht nur in den Erfahrungen der Patient*innen finden, sondern sogar neurobiologisch nachweisen – Psychotherapie verändert das Gehirn in seiner biologischen Struktur.
Das übervolle Audi-Max applaudiert kräftig nach diesem gehaltvollen Vortrag.