Die Psychosomatik entdeckt den Clown

Der Clown in Kultur und Psyche

Bericht vom Psychosomatischen Dienstags-Kolloquium „Körper – Seele – Geist“ der Psychosomatischen Klinik Freiburg vom 10.01.19
„Sind wir alle Clowns?“ von Richard Weihe Prof. Dr. habil., Accademia Teatro Dimitri, Verscio/CH, mit Wilson Raúl Vargas Torres, Berlin/Tromsø

Schon in der Anmoderation taucht die Frage auf, was denn der Clown mit dem Thema der Vortragsreihe zu tun haben könnte. Bekannt ist natürlich, dass Humor heilsam wirkt – die Klinik Clowns legen davon Zeugnis ab – aber wir mussten warten, was uns Herr Weihe darüber sagen möchte.

Kulturgeschichte des Clowns

Der Vortrag beginnt mit einer kleinen Kulturgeschichte des Clowns. Vom Wortstamm her bedeutet „Clown“ so viel wie ein dümmlicher, bäurischer, ungeschickter Mensch, der keine Manieren kennt. Erst mit Shakespeare bekam der Clown eine Rolle. Auf der Bühne war er für Witze und Humor, Komik und Narretei zuständig. Damit wurde der Unterschied vom „natürlichen Clown“ zum „künstlichen Clown“ etabliert.
Erst um ca. 1800 tauchte der heutzutage bekannte Clown zum ersten Mal auf. Er entstand aus der Harlekin Figur der Commedia del Arte. Es dauerte noch einmal fast hundert Jahre bist der erste „Dumme August“ aus Versehen (man könnte sagen aus Schusseligkeit) erfunden wurde. Die letzte Neuerung stellt der „Grusel Clown“ dar – 1980 war der Clown „Pennywise“ im Film „Es“ zu sehen und zu fürchten.
Zu den klassischen Bezeichnungen „Weißer Clown“ mit Kegelhut und immer besserwisserisch, dem „Roten Clown“ mit roter Nase und großen Schuhen, benennt Herr Weihe nun auch noch den „Schwarzen Clown“, eben jene Horror Clowns, die nun in der Kultur herumgeistern.
Der Weiße Clown steht für das Rationale des Menschen, für das was man tun soll und was sich gehört. Der Rote Clown, so Herr Weihe, steht für die eher chaotische Triebseite und für den professionellen Umgang mit Scheitern.

Die Kunst des Clowns

Wie funktioniert die Clownerie? Wie schaffen es Clowns, ihren Auftrag – die Zuschauer zum Lachen zu bringen – zu erfüllen? Zunächst einmal geht es um „die kleinste Maske der Welt“ – die rote Nase. Sie schafft ein Spannungsverhältnis zwischen der Figur des Clowns und dem Menschen, der diese Rolle spielt. Jederzeit wissen die Zuschauer, dass sich hinter der Maske ein Mensch verbirgt. Diese doppelte Identität ist die Grundlage für die Gegensätze, die ein Clown auf die Bühne bringt.

Herr Weihe hat sieben verschiedene Clownsspiele identifiziert, die uns seine Ex-Schüler Wilson Torres demonstriert.
1. Körperspiel – der tollpatschige Clown, der stolpert und stürzt erfordert vom Menschen hinter der Maske akrobatisches Können.
2. Sprechspiel – der stammelnde, um Worte ringende Clown erfordert eine große Sprach- und Stimmbeherrschung des Spielers
3. Generationsspiel – das kindlich, alberne Gehabe des Clowns wird von einem erwachsenen Menschen dargeboten
4. Ausbruchsspiel – die ganze Palette dramatischer Gefühlsausbrüche wird willkürlich und technisch vom Spieler produziert
5. Invasionsspiel – das Überschreiten persönlicher Grenzen – Verwuscheln von Haaren etwa – wird von einem zivilisierten Spieler ausgeführt
6. Genderspiel – die Verwandlung des Geschlechts wird durch Kleidung und Gestik spielerisch dargestellt
7. Sittlichkeitsspiel – der Clown verstößt immer wieder gegen die Vorstellungen von Anstand und Sitte, obwohl er sie genau kennt und als Bürger auch einhält.

Viele Clowns erstreben die Verschmelzung von Rolle und Person, möchten den Clown und den Menschen dahinter verschmelzen. Der Schweizer Clown Dimitri hat es sogar geschafft, seinen Künstlernamen (der auch sein Vorname war) zu seinem Nachnamen ändern zu lassen.

Was hat der Clown mit mir zu tun?

Dann führt uns Herr Weihe eine Röntgenaufnahme vor, die einen Menschen mit kegelförmigem Hinterkopf (Weißer Clown), einer kugelrunden Nase (Roter Clown) und kräftigen Kieferknochen (Schwarzer Clown) zeigt. Der Clown ist kein Homo Sapiens sondern eher eine Homo Inscitus (unverständig). Aus dieser Sicht fragt der Vortragende noch einmal: „Sind wir alle Clowns?“ Und bejaht dies, unter der Voraussetzung, dass wir erkennen, dass wir es alle einmal waren. Und: „Nicht der Clown ist der Doofe, sondern der Mensch.“

Damit kommt Herr Weihe zum Schluss seines Vortrags. Er verwendet dazu die „kinetische Signatur“ des Clowns, das Stolpern. Menschen stolpern und sie stolpern unter anderem deshalb, weil sie in zwei Arten von Tempo unterwegs sind. Das Tempo des technischen Fortschritts, der Fortschritt der Menschheit (Weißer Clown), das für den Einzelnen oft zu schnell wird. Er hat die zu großen Schuhe des Roten Clowns an den Füßen und kommt nicht mit. Er stolpert und holt sich dabei die blutig, rote Nase.

Fazit

Zu den Schlussfolgerungen, was diese Einsichten mit „Körper – Seele – Geist“ zu tun haben schweigt sich Herr Weihe aus. Ich kann hier also nur meine eigenen Gedanken anbieten.
Der Clown ist ein Spiegel des Menschen, insofern er uns das zeigen kann, was wir an uns nicht mögen, unser Scheitern, unser Unverständnis und unsere Begrenztheit.
Der Clown bietet uns an dieser Stelle eine Versöhnung mit diesen ungeliebten Eigenschaften an. Die Möglichkeit, über uns selbst zu lachen (ein Merkmal übrigens, das für Victor Frankl den Menschen überhaupt erst ausmacht).
Der Clown ist eine „Landkarte“ des Inneren des Menschen. Die Über-Ich Figur des Weißen Clowns versucht mit Strenge die Es-Figur des schusseligen Roten Clowns zum richtigen Verhalten zu erziehen, und scheitert regelmäßig damit. Für mich eine Aufforderung, nicht allzu streng mit sich selbst zu sein, sich das Recht zu nehmen, Regeln selbst zu überprüfen und Spaß und Neugier nicht zu kurz kommen zu lassen. (Denn bei zu viel Frust bekommt womöglich der Schwarze Clown seinen Auftritt).
Der Clown weist uns auf die Widersprüchlichkeiten des Lebens hin, und dass diese Widersprüche sich auch immer wieder miteinander versöhnen, und ineinander übergehen können. Albernheit kann in Ernst umschlagen, Schnelligkeit in Langsamkeit, Grenzen sind variabel u.v.m. Widersprüche sind also keine Gegensätze, die sich ausschließen sondern zwei Pole, die einander ergänzen und erst gemeinsam ein stimmiges Bild ergeben.

Psychotherapie für Freiberufler und Studenten

Für wen kann es sinnvoll sein, seine Psychotherapie selbst zu bezahlen? Freiberufler*innen und Selbstständige unterliegen oft besonderen beruflichen Belastungen. Zeitaufwand und Einsatz lassen sich nicht gut planen und der Beruf dringt mitunter tief in die Privatsphäre ein. Diese Belastung kann, besonders bei Rückschlägen oder ausbleibendem Erfolg, zu schwierigen Gemütslagen führen, die sich evtl. zu einer depressiven Verstimmung vertiefen.
Alle Statistiken weisen darauf hin, dass Depressionen, das Burn-out Syndrom und andere psychische Erkrankungen ein ständig anwachsendes Phänomen darstellen. Dadurch ist die Grundversorgung durch Psychotherapeut*innen in einigen städtischen Räumen nur noch notdürftig und z. T. nur mit erheblichen Wartezeiten gewährleistet.

Privat versichert – ein Vorteil?


Selbstständige und Freiberufler*innen sind häufig privat krankenversichert. Das heißt zunächst, dass sie es leichter haben, einen freien Therapieplatz zu bekommen. Was allerdings die wenigsten wissen, ist, dass damit auch ein gewisses Zukunftsrisiko verbunden ist. Dieses besteht darin, dass sie bei einem Kassenwechsel entweder von der neuen Kasse gar nicht mehr aufgenommen werden oder einen erheblichen Risikozuschlag dafür bezahlen müssten. Eine kassenbezahlte Psychotherapie ist in der Krankenakte niedergelegt.
Es erscheint ein wenig verrückt – Menschen, die sich um ihre Gesundheit kümmern, werden von den Krankenkassen dafür bestraft! Auch wenn erwiesen ist, dass Menschen, die erfolgreich eine Psychotherapie abgeschlossen haben, eine messbar gesündere und zufriedenere Zukunft vor sich haben.

Diese Problematik kann natürlich auch Student*innen betreffen, für die noch ein weiteres Risiko problematisch werden kann. Falls sie nämlich eine Beamt*innen Laufbahn einschlagen möchten, habe sie nach einer „Kassentherapie“ damit evtl. Probleme.

Psychotherapie als Makel

Die Entscheidung, sich auf eine Psychotherapie einzulassen, fällt wohl den wenigsten Menschen leicht. Immer noch sind seelische Erkrankungen mit zahlreichen Vorurteilen und Ängsten belastet. Viele Betroffene versuchen es ohne Therapie und riskieren dabei Zusatzbelastungen wie Alkohol-, Sport-, Spiel- Sex- oder Medikamentensucht. Das Leiden vertieft sich und der Weg in eine Therapie erscheint immer schwieriger. Die allerwenigsten psychischen Erkrankungen erledigen sich aber von selbst.
Wenn sich ein Mensch nach vielen inneren Kämpfen dann doch zu einer Therapie entschließt, sucht er/sie natürlich zunächst die dafür zuständigen Institutionen auf – Ärzt*innen, Kliniken, Psychiater*innen, Psychologische Psychotherapeut*innen. Hier wissen wenige Betroffene, dass es auch alternative Angebote gibt. Es gibt zahlreiche hochprofessionelle Psychotherapeut*innen, die auch in Berufsorganisationen gelistet sind, die aber keine Kassenzulassung besitzen.

Wer macht Psychotherapie ohne Kassenzulassung?

Der Grund dafür ist das deutsche Psychotherapiegesetz, das nur ganz bestimmte Methoden als wissenschaftlich anerkennt, für die die Kassen auch bereit sind zu bezahlen. Die wissenschaftliche Anerkennung endet an der Landesgrenze und zahlreiche Methoden sind in anderen Ländern durchaus wissenschaftlich anerkannt und besitzen dort sogar eine Kassenzulassung.
Ebenfalls wenig bekannt ist der Umstand, dass Psychotherapien unabhängig vom angewandten Verfahren wirksam sind. Es gibt nach dem derzeitigen Stand der Psychotherapieforschung keine messbaren Unterschiede zwischen kassenanerkannten und nicht anerkannten Therapiemethoden.
Es sprechen also gute Gründe dafür, eine selbst bezahlte Psychotherapie in Erwägung zu ziehen.


• Die Wartezeit auf einen Therapieplatz ist in der Regel kurz
• Die Auswahl an möglichen Therapeut*innen ist sehr viel größer
• Die Behandlung wird nicht in die offizielle Krankengeschichte aufgenommen

Wie gesagt, die Qualität der Therapie ist gleichwertig, falls der/die Therapeut*in Mitglied eines Fachverbandes ist, der auf geregelte und umfangreiche Ausbildung und Supervision achtet.
Der finanzielle Aufwand einer PT ist nicht unerheblich, aber auf keinen Fall unermesslich. Eine gelungene Psychotherapie ist ihr Geld unbedingt wert, denn wenn die Seele leidet, ist das Leben allzu schwer.

Ein Körper in der Psychotherapie?

Körperorientierte Psychotherapie kann auf eine recht lange Geschichte zurückblicken. In ihrer modernen Form schlug sie als „Seitentrieb“ der Psychoanalyse aus. Dies geschah bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Von da an verzweigte sie sich dann rasch in verschiedene Seitenäste, die großteils noch heute Bestand haben.

Die wilden Anfangsjahre

In den wilden Achtundsechzigern erfreuten sich die energetischen Übungen und die Betonung des emotionalen Ausdrucks besonders großer Beliebtheit. Dies richtete sich auch und gerade gegen die als patriarchal und autoritär angesehene Psychoanalyse.Danach beruhigte sich die „Körperszene“ etwas und etliche einzelne Schulen begannen sich als „quasi hermetische Verfahren“ gegeneinander abzugrenzen. Ein Umstand, der die ohnehin geringe Anerkennung durch den psychotherapeutischen Mainstream noch vertiefte.Die Hypothesen und Modelle der meisten Schulen beriefen sich auf klinische Erfahrungen, Einzelfallstudien und tiefenpsychologische Theorien. Diese wurden oft angereichert um energetische Vorstellungen aus der indischen Tradition. Das lag an der Energie Metapher, die mit der KPT kompatibel erschienen. Leider klang (und klingt) das einfach wenig seriös.

Neue Entwicklungen

Erst als gegen Ende des letzten Jahrhunderts aus den Einsichten, die aus der Baby- und Kleinkindforschung und der Bindungstheorie gewonnen wurden, als auch verschiedene neue neurologische Kenntnisse erreicht wurden, gewann die KPT wieder etwas mehr Renommee. Auch die verschiedenen Schulen hatten sich wieder einander zugewandt und tauschten sich mehr über ihre Erkenntnisse, Techniken und Prinzipien aus. In Deutschland gründete sich die „Deutsche Gesellschaft für Körperpsychotherapie“.

Ohne Körper keine Psyche


Was hat es nun auf sich mit dem Körper in der Psychotherapie? Zunächst einmal gilt es festzustellen, dass wir so etwas wie psychisches Erleben ohne einen Körper gar nicht haben könnten. Die körperliche Existenz und deren reale biologischen Prozesse stellen die Grundlage von allen höheren Funktionen der Psyche dar. Das gilt gleichermaßen für die sog. normalen/gesunden bist zu den sog. kranken Erscheinungen.
Der ganze Prozess der psychischen Funktionen, einschließlich der „bewusst“ genannten, ist immer ein Dreiklang von körperlicher Organisation, emotionaler Bewertung und kognitiver Benennung. Man könnte auch sagen, dass, wenn zwischen diesen drei Aspekten ein Missklang entsteht, so etwas wie ein Symptom beobachtbar ist, bzw. erlebt wird.
Die Geschichte dieser psychischen Organisation ist die Biografie eines Menschen und zwar ab dem Beginn der körperlichen Existenz. Bereits im Mutterleib und noch mehr in der vorsprachlichen Zeit der Bindungsprägung sprießen die zarten Wurzeln dessen, was wir später psychisches Erleben nennen, die Grundlagen unseres Selbst- und Welterlebens. Das ist die Geschichte, die wir uns und anderen darüber erzählen, wer und wie wir sind. Auf diesen Grundlagen verläuft der Weg, der weiteren Entwicklungs- und Reifungsschritte bis zum Erwachsen-Sein.

Besondere Qualität der KPT


Es hat sich herausgestellt, dass zahlreiche Hypothesen der „älteren“ KPT zutreffend sind und sich heute empirisch gut belegen lassen.
Die ersten Stufen der psychischen Entwicklung sind vorsprachlich, aber in Handlungs- und Beziehungsroutinen durchaus noch erreichbar. Genau hier liegen die besonderen Möglichkeiten von körperorientierter Psychotherapie. Mit ihnen kann das Erleben und die Erfahrungen dieser Zeit erreicht werden und in der therapeutischen Beziehung, können neue Lernerfahrungen entstehen.
Dadurch wird die KPT nicht zur „Wundermethode“. Was sie zur Verfügung stellen kann, ist ein tiefes Verständnis der vorsprachlichen Entwicklungen. Diese sind häufig ein Anlass für spätere Störungen. Allerdings haben die Betroffenen bereits ihren Umgang damit gefunden und das alleinige Wissen um z.B. einen beeinträchtigten Berührungsdialog führt noch nicht automatisch zu einer Verbesserung des Befindens.
Deshalb sind die Verfahren der Körperpsychotherapie in aller Regel Langzeittherapien. Auch damit entsprechen sie dem Stand der aktuellen Psychotherapieforschung, die unter anderem zur Erkenntnis gekommen ist, dass die Rückfallquote von kürzeren Therapien enorm hoch ist.


Eine Körperorientierte Psychotherapie ist also besonders dann geeignet, wenn Betroffene mit rein sprachlichen Methoden nicht weiterkommen. Wenn das Gefühl vorherrscht, mit dem eigenen Körper nicht zurechtzukommen. Wenn es keine Wahrnehmung der Körpersignale gibt oder diese nicht verwertbar erscheinen. KPT kann die Verbindungen zwischen Empfindungen, Gefühlen und Bewusstsein unterstützten und die biografischen Erfahrungen zu einer stimmigen Geschichte des Selbst integrieren.

Mehr zum Thema gibt es hier und hier

Das entfremdete Selbst

Selbstentfremdung

Bericht vom Dienstagskolloquium „Seele – Körper – Geist“ vom 04.12.18 von Prof. Dr. Matthias Michal:
„Das entfremdete Selbst: Depersonalisation und Derealisation“

In der Anmoderation berichtet uns Carl Eduard Scheidt davon, dass die Entstehung von DP/DR etwas geheimnisvoll sei. Schon lange bekannt, tauche sie im Zusammenhang von Trauma Forschung und Depression wieder verstärkt auf.
Herr Michal beginnt seinen Vortrag damit, dass er die Redensart: „Ich glaube ich stehe neben mir“ als eine alltägliche und häufig vorkommende Art von DP/DR vorstellt. In den meisten Fällen seien das kurzfristige Zustände, die im Lebenslauf fast jeder Mensch einmal erlebt. Allerdings gibt es Menschen, die über Monate und Jahre in solchen Zuständen verbringen.

Symptome

Die Symptome von Depersonalisation (DP) sind: Das Gefühl von Abtrennung von der eigenen Person, wie ein außenstehender Beobachter gegenüber den eigenen Gefühlen, Gedanken, Erinnerungen, Verhalten und Körper – wie im Traum, wie unter Drogen, wie nicht da sein.
Derealisation (DR) wird als Unwirklichkeitsgefühl in Bezug auf die Umwelt erlebt. Die Umwelt erscheint unwirklich, unecht, kulissenhaft – wie hinter einem Nebelschleier, wie hinter einer Glaswand, leblos, verzerrt, weit weg.
Wir lernen etwas über die Geschichte der Krankheit, die bereits 1845 beschrieben wurde und 1898 von einem Betroffenen ihre Benennung erhielt.

Krankheitsbild

Dann folgt ein erster Abschnitt für die Differenzialdiagnose, in der Herr Michal herausarbeitet, dass DP/DR keine Psychose ist, aber oft mit einer verwechselt wird. Typisch für DP/DR ist die Schilderung der Betroffenen – der „als ob“ Modus, in dem sie ihren Zustand beschreiben.

Diagnose und Differentialdiagnose

Für eine positive Diagnose gelten folgende Merkmale:
Erfahrung von Unwirklichkeit der eigenen Person oder der Umwelt. Die Realitätsprüfung bleibt intakt – die Menschen wissen wer und wo sie sind.

Die Symptome sind eine Quelle von Leid und Beeinträchtigung. Sie lassen sich nicht auf Drogen oder andere Krankheitsbilder zurückführen und es gibt keine andere Erkrankung, die die Symptome besser erklären kann.

Die häufigste Gegenübertragung (das Selbsterleben des Therapeuten mit dem Patienten) ist, dass die Therapeuten einschlafen. Es entwickelt sich keine Beziehung – „es springt kein Funke über“.

Das Leiden an DP/DR

Das Leiden der Patienten besteht darin, dass sie Angst haben, verrückt zu werden. Sie haben quälende Gefühle von Isolation und Einsamkeit, sowie das Gefühl, ihr Leben zu verpassen. Weiter schildern sie Konzentrationsstörungen (die nicht objektivierbar sind).

Der Behandler erlebt häufig eine Diskrepanz zwischen dem scheinbar ungerührten Verhalten der Betroffenen und ihrer ausgeprägten Verzweiflung, Angst und Not.

Krankheitsverlauf

Typisch für DP/DR ist, dass sie meist vor dem 25 Lebensjahr erstmals auftritt. Männer sind häufiger als Frauen betroffen (3 zu 2). Der Verlauf ist häufig chronisch und es dauert im Schnitt sieben Jahre bis eine korrekte Diagnose gestellt wird. Die Patienten schildern Ängste, die hypochondrisch wirken, dabei haben sie Schwierigkeiten, sich lebhaft an etwas zu erinnern. Sie schildern auch diffuse Symptome wie Kopfdruck, Kribbeln, Schwindel oder Benommenheit und sie grübeln fast zwanghaft über ihre Symptome worüber sie häufig weitere Krankheiten entwickeln.

Häufigkeit

Die Krankheit ist das dritthäufigste Syndrom nach Angst und Depression bei psychiatrischen Patienten. Schätzungen gehen von 5-10% der Patienten aus.

Auch Sozialpsychologisch wurde schon an DP/DR geforscht. Das Ergebnis besagt, dass sie in Individualistischen Gesellschaften häufiger vorkommt als in Kollektivistischen.

Ätiologie

Zur Entwicklung der Krankheit ist derzeit wenig bekannt. Das typischste Vorzeichen wäre eine besondere Ängstlichkeit im 13ten Lebensjahr und eine Erfahrung von Mangel an emotionaler Zuwendung und/oder Demütigung. Ein spezifischer Trauma-Bezug konnte nicht festgestellt werden.
Neurobiologische Befunde zeigen, dass DP/DR Patienten viele unspezifische Veränderungen in ihren „Hirn-Scans“ aufweisen.

Versorgungsprobleme

Herr Michal berichtet uns nun eine Fallgeschichte von einem zwanzigjährigen Betroffenen.  Durch eine erotische Versuchungssituation gerät der Patient in die Symptomatik. Ein Jahr später berichtet er seiner Mutter davon, die mit ihm zum Arzt geht. Dieser erstellt zwar eine vorbildliche Anamnese, schließt diese allerdings mit der Fehldiagnose „Paranoide Psychose“ ab. Der Patient wird also falsch und wirkungslos behandelt. Erst Jahre später taucht er nach eigenen Recherchen bei Herrn Michal auf, und kann dann von diesem passend und recht erfolgreich behandelt werden.

Störungsmodelle

Nun erfahren wir etwas über die „Störungsmodelle“, die von Verhaltenstherapeuten und Psychodynamischen Schulen entwickelt wurden. Verhaltenstherapeutisch betrachtet entsteht ein Teufelskreis, weil eine „normale“ DP/DR Erfahrung katastrophal bewertet wird, daraus Angst entsteht, die wiederum das DP/DR Empfinden weiter anheizt usf.

In psychodynamischer Betrachtung geht es um den Gefühlshaushalt. Die Beobachtung, das am Beginn der DP meist ein unerträgliches Gefühl oder eine ebensolche Erregung vorausgeht, wird als Flucht vor dem vollen Erleben der Wirklichkeit – dem „Beobachten statt erleben“ verstanden. Damit wird DP/DR zu einer Affektabwehr.

Die Rolle der Gefühle

In neuerer Terminologie würde das bedeuten, dass die „Affekttoleranz“ über ihre Leistungsschwelle getrieben wird und nur noch das Abstumpfen durch DP/DR zur Verfügung steht.

Was einem Menschen fehlt, der keinen Kontakt mehr zu seinen Affekten, Emotionen und Gefühlen hat, mach eine weitere Folie deutlich. Affekte sind das primäre, angeborene Motivationssystem des Menschen. Sie gehen stets allen Kognitionen voraus. Mit seinen Affekten im Kontakt zu sein ,vermittelt Lebendigkeit und weiter bieten sie uns Orientierung und Identitätsgefühl. Einen passenden Ausdruck für sie zur Verfügung zu haben, stellt eine Verbundenheit mit den Mitmenschen her.

In der Definition von „Seelischer Gesundheit“ des DSM-5 heißt es: „… fähig die ganze Breite der Emotionen zu erleben, auszuhalten und zu regulieren“

Sehr häufig finden sich konflikthafte Affekte bei den Themen: Ärger und Selbstbehauptung; Trauer und seelischer Schmerz; Nähe und Zärtlichkeit. Herausfordernd können auch Themen der Fürsorge und der Liebe sein. Sogar positive Selbstgefühle wie Selbstvertrauen, Selbstfürsorge, Würde können Anlässe für konflikthaftes Erleben sein.
Damit wird der Blick frei auf diese DP/DR als „Affektphobien“ – als die Angst vor Affekten.

DP/DR und Bindung

Als Beispiel verwendet Herr Michal die Bindungstraumatisierung. Die größte Angst eines Kindes ist, dass die Bindung verloren gehen könnte. Das kann in ein schreckliches Dilemma münden, wenn das Kind Ärger, womöglich Hass auf eine Bindungsfigur empfindet. Es bekommt Angst vor seinem Gefühl und diese Angst wirkt auf das „Angst – Furchtsystem“, das fernab des Bewusstseins neuro-hormonell mit der Angst umgeht.

In der ersten Stufe noch durch Aktivierung der Bewegungsmuskulatur, in der zweiten bereits mit Erregung der glatten Muskulatur (z.B. des Darms) und in der dritten Stufe dann mit Panik/DP/DR.

Wir lernen dann noch ein Modell, das uns sowohl ein Verständnis als auch einen Leitfaden für die therapeutische Intervention an die Hand gibt. Es sind das, das „Konfliktdreieck“ und das „Personendreieck“. Es ist eine Betrachtung, die Vergangenheit, Gegenwart der Alltagswelt und Gegenwart des Therapeuten zusammen betrachtet und die Verbindungen dazwischen deutlich macht.

Am Beispiel eines Romanauszugs (von Haruki Murakami „Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“) verdeutlicht uns Herr Michal die Anwendung der Dreiecke. Aus einem Anlass (Stimulus) von erfahrener Zurückweisung entsteht ein Gefühl samt Impuls (Ärger, Selbstbehauptung, Schmerz). Diese Gefühle werden mit Angst erlebt, die nun ihrerseits die körperlichen Folgen mit sich bringt (Anspannung, Nervosität, Bauchweh, Schwindel etc.).

Therapeutische Möglichkeiten

Herrn Michals bevorzugte Methode der Behandlung heißt: „Intensive psychodynamische Kurzzeitpsychotherapie nach Davanloo (ISTDP)“. Sie nimmt in den Fokus, dass bei DP/DR eine massive Angst im Vordergrund steht und dass die Affekttoleranz beeinträchtig ist. Deshalb muss der Grad der Angst in jedem Moment möglichst genau erfasst werden, damit der Patient die Angst zwar spüren kann, aber nicht von ihr überwältigt wird. Das geschieht dadurch, dass die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper gelenkt wird; dass die Angstsymptome als solche benannt werden; dass die Ursachen der Angst identifiziert werden und dass der Therapeut sich immer wieder als Begleiter und Verbündeter in Erinnerung bringt.

Zum Abschluss berichtet Herr Michal noch einmal aus einer Behandlung. Als Therapeut konfrontiert und fokussiert er sowohl auf das Erleben, als auch auf das Verhalten (Vermeiden von Augenkontakt, Räuspern). Die (typischerweise) abwehrende Haltung des Patienten wird nach und nach brüchiger, bis er den Impuls wahrnimmt, den Therapeuten mit einem Baseballschläger verprügeln zu wollen. In der fantasierten Ausführung des Impulses findet er seinen tiefen Hass auf die Mutter. Über diese Erfahrung findet der Patient Sinn und Verständnis für sich und sein Erleben.

In seinem Fazit fordert uns Herr Michal auf, genauer bei Patientinnen und Patienten nachzufragen, was sie fühlen und empfiehlt uns ein Handout über die Symptomatik von DP/DR.

Die Psychosomatik erkundet Nähe und Distanz

Nähe und Distanz bestimmen

Bericht vom Festvortrag zum 80. Geburtstag von Tilman Moser
„Probleme von Nähe und Distanz in Psychotherapie, Psychoanalyse, Traumatherapie, sowie in Medizin, Beratung, Seelsorge und Pädagogik“

Tilman Moser ist ein besonderer Pionier der körperorientierten Psychotherapielandschaft. Als Psychoanalytiker begann er schon früh in seinen Analysen, den Körper mit einzubeziehen. Damit hat er sich in seinem Kollegenkreis viele Anfeindungen und Kritik eingehandelt. Befürchtet und beschworen wurden immer wieder die Gefahren von Manipulation und Sexualisierung durch den Therapeuten. Er ist seinem Weg aber treu geblieben und hat seine Erfahrungen in zahlreichen Veröffentlichungen einem interessierten Publikum nahe gebracht. In vielen seiner Bücher geht es um Berichte von Therapieverläufen und deren analytisches und technisches Verständnis.

Therapeutische Herausforderungen bei Berührung

Auch der heutige Vortrag ist ähnlich konzipiert. Was geschieht in einer Therapie, wenn Berührungen, also größte körperliche Nähe, als Interventionen vorkommen? Was kann es für die Patienten bedeuten und was für die Therapeuten? Welche Übertragungsebenen werden angesprochen und welche Dynamiken damit angestoßen?
Moser beschreibt noch einmal kurz den Körper als Speicher von Erinnerungen, auch solche von Berührungen – zärtliche, schöne Berührungen, die vielleicht bis in die Baby Zeit zurückreichen. Aber es gibt natürlich auch Erinnerungen an Gewalt, Schmerz und Angst, die, wenn sie angestoßen werden, Flashbacks (blitzartig auftauchende Schreckensbilder) auslösen können.

Ambivalenz von Nähe und Distanz

Nach Mosers Eindruck haben viele Therapeuten selbst eine Geschichte von Nähe Mangel. Dadurch geraten sie leicht in Gefahr, sich unbewusst selbst etwas Gutes tun zu wollen, wenn sie Berührungen anbieten. Die andere Richtung, die ein Nähe Defizit mit sich bringen kann, ist Angst vor Nähe – Angst vor Verschmelzung, Angst vor Sexualisierung. Diese Gefühle werden als Unsicherheit spürbar.
An dieser Stelle betont er, wie wichtig die gründliche Eigentherapie und Selbsterfahrung für Körpertherapeuten ist. Die Nähe, die eine Verschmelzung mit der Mutter bietet, ist hilfreich und wichtig für Babys und ihre weitere Ich Entwicklung. Diese Art von Nähe fühlt sich freilich ganz anders an, als die eines Kleinkindes, eines älteren Kindes oder gar die der Sexualität. Körpertherapeuten sollten diese Unterschiede am eigenen Leib aus Erfahrung kennen.

Fallbeispiel

Nun präsentiert er uns ein Beispiel aus seiner Praxis mit dem Titel: „Der Preis der Verstoßung aus der Therapie“. Eine Klientin hatte eine gute Arbeitsbeziehung zu einem Therapeuten aufgebaut. Als sie ihm im dritten Jahr der Therapie ihre Verliebtheit in ihn beichtet bricht der Therapeut die Arbeit ab. Diese Erfahrung stürzt sie in eine tiefe Krise Sie hat Bücher von Moser gelesen und möchte nun eine Stunde bei ihm haben. Sie dirigiert quasi den Ablauf der Stunde, gestaltet Art und Timing von Handkontakten, tauscht den Platz mit Moser und erzählt erst dann etwas von ihrer Geschichte (die ich an dieser Stelle nicht ausbreite). Sie fühlt sich nach dieser Stunde „geheilt“ – hat den Eindruck ihr „Verstoßungstrauma“ mit einer Berührung überwunden zu haben.

Probleme des „klassischen Settings“

Nun erinnert uns Moser an Freuds Unbehaglichkeit mit Augenkontakt. Das klassische Analyse Setting, mit Couch und Sessel hinter dem Kopfende, lässt diesen nicht zu. Es ist optimal um eine vollständige Kontrolle über Nähe und Distanz zu erlauben. Es kann Verlassenheitsängste auslösen und in manchen Fällen die Therapie erschweren oder verunmöglichen. Allerdings hat es auch Vorteile, wenn Klienten nicht sofort an der Mimik des Therapeuten ablesen können, was dieser zum Mitgeteilten fühlt oder denkt.

Noch ein Fallbeispiel

Es folgt ein weiteres Fallbeispiel – „Das Drama einer Liebesnacht“. Anhand dieser Geschichte möchte Moser uns die große Rolle des Augenkontakts, der innigen Berührung durch Blicke nahebringen. Die Klientin war für beide Eltern vom „falschen“ Geschlecht, deshalb bekam sie keine liebevollen Blicke, mitunter gar keine Blicke und erst als sie etwa drei Jahre alt war, gelang es ihr, ihren Vater für sich zu interessieren. Allerdingst verstieß dieser sie letztlich wieder von seinem Schoß. Sie hatte es schon geschafft, zwei Analytiker zu verführen und damit ihre therapeutischen Ziele zu verfehlen. Erst mit Herrn Moser kommt sie an die Blickerinnerungen des neugeborenen Kindes, an den Horror des feindseligen, bzw. enttäuschten Blicks und erarbeitete im Anschluss die allmähliche Integration des freundlichen Blicks. So gewann sie nach und nach auch eine selbstbewusste und unabhängige Steuerung ihrer Blickqualitäten.

Möglichkeiten der Nähe

Als weitere Themen der Nähe Regulation referierte Herr Moser:

  • die Verwendung von Gesten und deren potenzielle Mehrdeutigkeit. In manchen Familien so vieldeutig, dass die Kinder darüber sehr verwirrt und verunsichert sind
  • der Umgang mit Aggressionen, die Möglichkeit durch Kämpfe Nähe zu erleben und die Mischformen von Zärtlichkeit und Aggression
  • die Rolle der Körperempfindungen, die oft die einzige Spur zu den Erinnerungen sind, die aber so häufig widersprüchlich und schwierig zu entziffern sind

Zum Ende appelliert Herr Moser noch einmal an alle anwesenden Therapeut*innen sich mit ihren jeweiligen Schulen nicht zu sehr zu identifizieren, voneinander zu lernen und die wertvollen Möglichkeiten von Körperarbeit und Psychotherapie weiter zu entwickeln.